vorwiegend muslim. Bevölkerungsgruppen im östlichen Europa, Russland und Zentralasien. «T.» war ursprünglich der Name nomadisierender Stämme in der mongolischen Steppe und ist dort in Inschriften des 8. Jh. erstmals belegt. Zur Zeit der Eroberungszüge Dschingis Khans (gest. 1227) bezeichnete «T.» die verschiedenen Bevölkerungen des Mongolischen Weltreichs. In den islam. Ländern und Europa galten die tatar.-mongol. Eroberer als Strafe Gottes und Vorboten der Apokalypse. Viele mittelalterliche Christen sahen in ihnen Wesen der Unterwelt, des Tartaros aus der griechischen Mythologie, worauf die immer noch anzutreffende Schreibung «Tartaren» zurückgehen dürfte. Mit dem Tod Dschingis Khans zerbrach das Mongolische Weltreich in vier Teilherrschaften. Das westlichste Gebiet unter der Kontrolle der dschingisidischen Khane der «Goldenen Horde» erstreckte sich vom Aralsee bis zum Schwarzen Meer. Es zerfiel im 15. Jh. in die Khanate Sibir, Kasimov, Astrachan, Kasan und Krim. Die ersten vier Khanate an der Wolga und in Westsibirien gerieten im 16. Jh. unter russische Herrschaft. Das Khanat der Krim im nördlichen Schwarzmeerraum avancierte unter osmanischer Oberherrschaft zu einem wichtigen politischen Akteur im östlichen Europa, bis es 1783 von Russland annektiert wurde. – Die heutigen T., die sich selbst erst spät selbst als solche bezeichneten, haben ihre Wurzeln in den heterogenen Bevölkerungen, die im Herrschaftsgebiet der Goldenen Horde und dessen fünf Nachfolgekhanaten lebten. Die größte Gruppe der «Wolga»-T. (ca. 2 Mio.) findet sich in der autonomen Republik Tatarstan der Russischen Föderation mit der Hauptstadt Kasan. Die meisten «Krim»-T. leben in Folge von Migration und Vertreibungen in der Diaspora. Die tatarische Minderheit in Zentralasien geht auf die nahezu vollständige Deportation der Krim-T. durch Stalin 1944 zurück; ein Trauma, das als «Sürgün» eine zentrale Stellung in der krim-tatar. Erinnerungskultur einnimmt. Seit den 1990 er Jahren kehrten viele Krim-T. auf die Krim-Halbinsel zurück und bemühten sich, auch mittels Landbesetzung, um die Restitution ihrer Besitzungen und mehr Selbstbestimmung innerhalb der Ukraine. Seit der de facto Annexion der Krim durch Russland im Frühjahr 2014 werden die Rechte der Krim-T. zunehmend eingeschränkt und es kommt zu Diskriminierungen. Das Organ krim-tatar. Selbstverwaltung (Medschlis) wurde 2016 verboten und operiert nun im Exil in Kiew. Die «Lipka»-T., deren Vorfahren im 14. Jh. aus den Gebieten der Goldenen Horde nach Polen-Litauen einwanderten, bilden heute die muslim. Minderheiten in Polen, Weißrussland und Litauen. Anders als die anderen tatar. Bevölkerungen, die bis heute unterschiedliche Varianten der tatar. Sprache (
Literatur:Noack, C.: Muslimischer Nationalismus im Russischen Reich. Nationsbildung und Nationalbewegung bei Tataren und Baschkiren, 1861 – 1917, 2000. – Norris, H. T.: Islam in the Baltic: Europe’s Early Muslim Community, 2009. – Williams, B. G.: The Crimean Tatars: From Soviet Genocide to Putin’s Conquest, 2015.
Autor/Autorinnen:Dr. des. Denise Klein, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Mainz
Quelle: Elger, Ralf/Friederike Stolleis (Hg.): Kleines Islam-Lexikon. Geschichte - Alltag - Kultur. München: 6., aktualisierte und erweiterte Auflage 2018.