Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Bundesversammlung | bpb.de

Bundesversammlung

Eckhard Jesse

Entstehung

Im Parlamentarischen Rat bestand angesichts der negativen Erfahrungen mit dem Reichspräsidenten Paul von Hindenburg weithin Konsens über den Verzicht auf eine Direktwahl des Bundespräsidenten. Hingegen gab es zunächst keine Einigkeit beim Wahlmodus für das Amt des Staatsoberhauptes. Die Idee, den Bundesrat einzubeziehen, wurde angesichts der Weisungsgebundenheit seiner Mitglieder fallen gelassen. Beabsichtigt war, dem Bundespräsidenten eine möglichst breite Legitimationsbasis zu verschaffen, die sowohl den unitarischen als auch den föderativen Aspekt angemessen berücksichtigt.

Die Liberalen mit Thomas Dehler entwickelten die Idee für ein Wahlgremium, das beiden Zielen angemessen Genüge leistet. Der „Nationalkonvent“, so sein Terminus, solle aus den Mitgliedern des Bundestages und einer gleichgroßen Anzahl von Personen bestehen, welche die Landesparlamente wählen. Damit ist eine in der deutschen Verfassungsgeschichte „vollkommen neue Einrichtung“ (Kessel 1989, S. 1600) ins Leben gerufen worden, die bis heute als größte parlamentarische Versammlung des Landes hohe Akzeptanz findet.

Wahlmodus und Zusammensetzung

Die Bundesversammlung ist ein Verfassungsorgan, da es im Grundgesetz erwähnt wird. Im Gegensatz zum Bundestag, zum Bundesrat, zum Bundespräsidenten, zur Bundesregierung und zum Bundesverfassungsgericht ist sie, wie der Gemeinsame Ausschuss, ein nicht-ständiges Verfassungsorgan, also eher von nachrangigem Gewicht (vgl. Braun 1993).

Sie tritt nur zur Wahl des Bundespräsidenten zusammen. Art. 54 des Grundgesetzes regelt in den Absätzen 1–7 Funktionsweise, Wahlmodus und Zusammensetzung. Der Bundespräsident, der das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag haben und mindestens 40 Jahre alt sein muss, wird von der Bundesversammlung ohne Aussprache für fünf Jahre gewählt. Das Bundesverfassungsgericht rechtfertigte in seinem Urteil vom 10. Juni 2014 aufgrund der Klage eines NPD-Politikers das Ausspracheverbot – es diene dem Schutz der Würde des Amtes. Unmittelbare Wiederwahl ist nur einmal zulässig. Wahlvorschläge kann jedes Mitglied der Bundesversammlung einreichen, auch neue vor einem zweiten oder dritten Wahlgang. Allerdings muss der Vorgeschlagene seine Zustimmung gegeben haben. 1954 hatte die KPD den parteilosen Heidelberger Soziologen Alfred Weber nominiert – ohne dessen Wissen oder gar Einwilligung. Voten für nicht vorgeschlagene Personen sind seit dem Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung aus dem Jahre 1959 ungültig. 1954 etwa erhielt der inhaftierte Großadmiral Dönitz, der letzte, von Hitler eingesetzte Reichspräsident eine – gültige – Stimme.

Die Bundesversammlung besteht aus den Bundestagsabgeordneten und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die die Volksvertretungen der Länder entsenden. Sie tritt spätestens 30 Tage vor Ablauf der Amtszeit des Bundespräsidenten zusammen, bei vorzeitiger Beendigung, wie das 2010 (Horst Köhler) und 2012 (Christian Wulff) der Fall war, spätestens 30 Tage danach. Die Wahl ist geheim. Wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung erreicht (im ersten oder zweiten Wahlgang), ist gewählt. Im dritten Wahlgang – zu einem solchen kam es 1969, 1994 und 2010 – genügt die relative Mehrheit.

Das Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, zuletzt geändert 2007 im Zusammenhang mit der Klarstellung, dass über die Aufhebung der Immunität eines Mitgliedes der Bundesversammlung der Immunitätsausschuss des Bundestages beschließt, regelt u. a., wie viele Mitglieder die einzelnen Landesparlamente zu wählen haben. Dabei ist die Bevölkerungszahl der Länder maßgebend (ohne Ausländer). Steht die Zahl der Mitglieder für die Länder fest, wählen die Landesparlamente diese nach Vorschlagslisten. Dabei sind die Grundsätze der Verhältniswahl verbindlich, und zwar gemäß dem Höchstzahlverfahren d’Hondt. Liegt beim letzten Sitz Gleichstand vor, so entscheidet das Los. In die Bundesversammlung können also keine Mitglieder von Parteien gelangen, die in den Parlamenten nicht repräsentiert sind. Allerdings benennen die in den Landesparlamenten vertretenen Parteien zuweilen Personen des öffentlichen Lebens, die nicht dem jeweiligen Landtag angehören, z. B. Prominente aus Sport oder Kunst (vgl. Schlaich 1987). Wie die Praxis erhellt, machen die Parteien in knapp jedem dritten Fall – die Zahlen schwanken von Wahl zu Wahl, von Partei zu Partei, von Land zu Land – davon Gebrauch. Auf diese Weise wollen sie ihre Bürgernähe unterstreichen, und sie hoffen, von der Popularität bekannter Persönlichkeiten zu profitieren. Dabei achten sie auf deren politische Nähe zur Partei. Mitglied der Bundesversammlung kann mithin prinzipiell jeder für den Bundestag wählbare Bürger sein.

Bisherige Bundesversammlungen

Wie § 1 des Gesetzes über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung regelt, bestimmt der Bundestagspräsident, welcher die Bundesversammlung leitet, Ort und Zeit ihres Zusammentritts. Die erste fand am 12. September 1949 in Bonn statt, drei Tage vor der Wahl des Kanzlers, und zwar im Deutschen Bundestag, der in der ehemaligen Pädagogischen Akademie zusammenkam. Seinerzeit lag ihre Einberufung in der Hand der Ministerpräsidenten – die Berliner Mitglieder waren noch nicht voll stimmberechtigt. Das änderte sich in der Folgezeit. Die vier Bundesversammlungen zwischen 1954 und 1969 wurden – ungeachtet der zunehmenden Proteste der Sowjetunion, die darin einen Verstoß gegen den Viermächtestatus Berlin sah – in der Berliner Ostpreußenhalle abgehalten, um die Verbindung mit dem Westen von Berlin zu demonstrieren.

Nach dem Berliner Vier-Mächte-Abkommen vom September 1971, das die drei Westsektoren Berlins nicht als einen konstitutiven Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland betrachtete, erklärten die Botschafter der USA, Großbritanniens und Frankreichs in einem Brief an den Bundeskanzler, keine Sitzungen der Bundesversammlung mehr durchzuführen. Zwischen 1974 und 1989 tagte die Bundesversammlung daher viermal in der Bonner Beethovenhalle. Von 1979 an fand die Wahl des Bundespräsidenten stets am Verfassungstag statt, am 23. Mai.

Seit der deutschen Einheit tritt die Bundesversammlung im Bundestag in Berlin zusammen, und zwar im Berliner Reichstagsgebäude. Durch den plötzlichen Rücktritt Horst Köhlers vom Amt des Präsidenten im Jahre 2010 ließ sich der symbolhafte 23. Mai als Wahltag nicht länger halten. Die letzte Bundesversammlung vom 12. Februar 2017, die 16., war mit 1260 Personen die zweitgrößte. Die zehnte vom 23. Mai 1994 umfasste 1324 Personen. Angesichts der aktuellen und zukünftigen Größe des Bundestages wird die nächste Bundesversammlung wohl noch größer werden.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Eckhard Jesse

Fussnoten