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Werte und Wertewandel | bpb.de

Werte und Wertewandel

Lucas Constantin Wurthmann

Von Werten, Wertorientierungen und Einstellungen

Werte sind zu verstehen als eine explizite oder implizite, für ein Individuum oder eine Gruppe, charakteristische Vorstellung des Wünschenswerten, die die Auswahl aus den verfügbaren Modi, Mitteln und Zielen des Handelns beeinflussen (Kluckhohn 1951, S. 395). Werte sind nicht direkt sichtbar und treten folglich auch nicht direkt in Erscheinung. Sie sind erstrebenswerte Zielvorstellungen eines Individuums, die sich auch auf einen gesamtgesellschaftlichen Kontext beziehen können. Individuen und Kollektive fungieren als Träger von Werten, die sie einerseits prägen und verändern, andererseits aber auch von diesen geprägt werden. Schlussendlich beeinflussen Werte das Verhalten von Individuen, beispielsweise das Wahlverhalten oder aber sonstige Formen politischer Partizipation.

Gleichzeitig sind Werte von enormer Bedeutung für politische oder soziale Systeme, da nur durch diese eine grundlegende Vorstellung des Politischen definiert werden kann. Gemeint ist hiermit, ob und inwiefern in einer Gesellschaft grundlegende Werte wie beispielsweise Solidarität, Freiheit oder Gerechtigkeit Zuspruch finden sowie in welchem Verhältnis diese zueinanderstehen. Werte fungieren demnach im menschlichen Zusammenleben als eine Art Richtschnur, an der sich das Politische zu orientieren hat und ohne welche gesellschaftlicher Zusammenhalt unmöglich wäre (Kluckhohn 1951, S. 399).

Zwischen Werten und Wertorientierungen wird zumeist keine sprachliche Differenzierung vorgenommen, obgleich unter Wertorientierungen üblicherweise nur jene Werte subsumiert werden, die von Individuen auch schlussendlich verinnerlicht wurden. Deswegen wird im Folgenden in der Regel eher von Werten gesprochen. Als viel essenzieller kann die Abgrenzung zwischen Werten und Einstellungen bewertet werden. Werte werden im Gegensatz zu Einstellungen als sehr stabil und dauerhaft charakterisiert und ermöglichen langfristige Einflüsse auf das politische Verhalten (Pickel 2018, S. 958), wohingegen Einstellungen auch Schwankungen unterliegen können. Grundlegende Werte werden bereits in der Kindheit und Jugend herausgebildet, während Einstellungen auch situativ abgeändert werden können. Zwar können Werte durch Krisenereignisse, beispielsweise eine Wirtschaftskrise, Kriege oder Staatszerfall gleichfalls verändert werden, doch sind Einstellungen in der Regel weitaus kurzlebiger.

Werte müssen als grundsätzliche Leitlinien oder Standards verstanden werden (Pickel 2018, S. 958), aus denen Einstellungen erst abgeleitet werden. Während Einstellungen eine primär evaluative Handlung voraussetzen, werden Werte vielmehr durch die Abwägung spezifischer Zielvorstellungen ersichtlich. Einstellungen drücken, wenn man diese aus theoretischer Sicht betrachtet, „nur eine faktisch positive, negative oder indifferente Haltung gegenüber spezifischen Objekten“ (Thome 2019, S. 57) aus. Ein normativer Anspruch kann über eine Einstellung nicht ausgedrückt werden. Es entfällt demnach, im direkten Vergleich zu Werten, das Postulat des Wünschenswerten (Kluckhohn 1951, S. 423). Ferner sind ausschließlich Individuen Träger von Einstellungen, wohingegen Werte sowohl von einem gesellschaftlichen Kollektiv als auch von Individuen getragen werden können (Thome 2019, S. 57).

Ronald Inglehart und das Konzept des Wertewandels

Werte sind jedoch keineswegs unveränderbar, unterliegen zumeist aber eher graduellen Veränderungen. Wenn dies geschieht, so ist von einem Wertewandel zu sprechen. Zwei dafür ursächliche Gründe wurden in dem im Jahr 1977 von Ronald Inglehart verfassten Werk ‚The Silent Revolution‘ beschrieben.

Darin beschrieb er, dass durch die post-industrielle Phase neue Themen an Bedeutung gewinnen würden, die zuvor einer breiten Bevölkerungsgruppe nicht als relevant erschienen. Als darauf Einfluss nehmende Faktoren führt Inglehart nicht nur den Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch das Ausbleiben von kriegerischen Auseinandersetzungen an (Inglehart 1977, S. 21–22). Oder, um es wörtlich auszudrücken: „In short, people are safe and they have enough to eat. These two basic facts have far-reaching implications“ (Inglehart 1977, S. 22). Basierend auf diesen Annahmen, entwickelte Inglehart das heute als Inglehart-Index bekannte Messinstrument zur Erfassung von materialistischen und postmaterialistischen Wertorientierungen. Dieser besteht aus insgesamt vier Indikatoren: (1) Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in diesem Land, (2) mehr Einfluss der Bürger/innen auf die Entscheidungen der Regierung, (3) Kampf gegen steigende Preise sowie (4) Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung (Inglehart 1977, S. 28). Während (1) und (3) als materialistische Items zu verstehen sind, stehen die Items (2) und (4) stellvertretend für eine postmaterialistische Wertorientierung. Ziel des ‚Inglehart-Index‘ ist die Abfrage nach dem Ranking spezifischer Werte, die in diesem Index abgebildet werden. War eine Präferenz für beide materialistischen Items nachzuvollziehen, wurde ein Individuum als Materialist eingeordnet, wohingegen eine Präferenz für die beiden postmaterialistischen Items zur Einstufung als Postmaterialist führte. Inglehart stellte dabei insbesondere inter-generationelle Unterschiede fest, die sich in der Präferenzordnung manifestierten: Ältere Bevölkerungsteile waren überdurchschnittlich materialistisch eingestellt, wohingegen jüngere Bevölkerungssegmente überwiegend postmaterialistisch eingestellt waren. Basierend auf diesen Annahmen entstanden seine Mangelhypothese und die Sozialisationshypothese. Grundannahme hier ist, dass der Mangel an bestimmten Gütern, beispielsweise an Sicherheit oder Nahrung, zu einem langfristigen Bedarf eben dieser Güter führt. Eine Generation mit Kriegserfahrungen hat demnach stärkere Sicherheitsbedürfnisse als eine Generation ohne diese Erfahrungen. Die Sozialisationshypothese wiederum besagt, dass Werte in den ersten 20 Lebensjahren entstehen und eine prägende Wirkung für den weiteren Lebensverlauf haben (Inglehart 1977, S. 22–23). War Ingleharts Grundannahme zunächst, der Anteil von Postmaterialisten werde künftig in westlichen Gesellschaften wie der Bundesrepublik Deutschland stetig steigen, wohingegen Materialisten stets weniger werden würden, zeigte sich bald, dass diese Annahme nicht vollends richtig war. Tatsächlich nahm der Anteil von Materialisten ab, der Anteil an Postmaterialisten stagniert aber seit den 1980er-Jahren. Stattdessen hat sich ein Misch-Typ herausgebildet, der sowohl materielle als auch postmaterielle Werte gleichermaßen bevorzugt. So ist der Inglehart-Index ein bis heute nicht ganz unumstrittenes Messinstrument, der dennoch neben dem Wertemodell nach Shalom Schwartz sowie der Speyerer Wertetypologie als ein gängiges Modell sozialwissenschaftlicher Werteforschung eingesetzt wird. Die letzteren beiden werden an dieser Stelle aber nicht ausführlicher dargestellt, da diese weniger auf die Gesellschaft bezogene Wertorientierungen messen, als dies im Grundgedanken des ‚Inglehart-Index‘ angelegt ist.

Auf Basis des von Inglehart beschriebenen Wertewandels verändert sich schlussendlich auch das deutsche Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland. War dieses über langen Zeitlauf hinweg insbesondere durch Kontinuität gekennzeichnet, kommt es zu einer deutlichen Neukonfiguration. Zu den bis dahin dominierenden Konfliktlinien, dem Sozialstaatskonflikt sowie dem Konflikt zwischen kirchlich-religiösen und staatlich-säkularen Werten, etabliert sich das Spannungsfeld zwischen materialistischen und postmaterialistischen Werten als dritte Dimension. Dieser Prozess vollzog sich in weiten Teilen Westeuropas und führte vielerorts zur Gründung grün-alternativer Parteien. Im Vorfeld manifestierte sich der Wertwandel bereits durch die Entstehung Neuer Sozialer Bewegungen ab Ende der 1960er-Jahre. Zu diesen Bewegungen zählten die Friedens-, die Anti-Atomkraft-, die Umwelt- und die Frauenbewegung sowie Schwul-Lesbische Interessengruppen. Aus diesen ging in Deutschland im Jahr 1980 schließlich die Gründung der Partei Die Grünen hervor, welche insbesondere jene Werte aufgriffen, welche von Inglehart als postmateriell identifiziert werden. Bei der Wahl zum Deutschen Bundestag 1983 wählten 40 % der sich an der Wahl beteiligenden Postmaterialisten die Grünen. Dadurch gelang dieser Partei erstmals der Einzug in den Deutschen Bundestag (Bürklin und Dalton 1994, S. 279).

Werte und die Entstehung der AfD

Inglehart und Kollegen postulierten schon früh, dass es zu einer Gegenreaktion auf diesen postmaterialistischen Wertewandel kommen werde, sozusagen zu einer materialistischen Wende. Diese manifestiert sich seit den 1980er-Jahren vor allem in Form von rechtspopulistischen Parteien, die sich explizit gegen die liberalen Gesellschaftsideale der 1968er positionieren. Hinzu kommt eine dezidierte Ablehnung ökologischer Reformen, die wiederum insbesondere durch grün-alternative Parteien vertreten werden. Um diese Veränderung zu erfassen, entsteht in der empirischen Sozialforschung der GAL-TAN-Ansatz. Dieser beschreibt eine politische Konfliktlinie, die sich entlang grün-alternativ-libertären (GAL) und traditionalistisch-autoritär-nationalistischen (TAN) Werten aufspannt (Hooghe et al. 2002, S. 966). Zwar gründeten sich entlang dieser Konfliktlinie seit den 1980ern in Deutschland mehrfach Parteien, die dessen TAN-Pol zuzuordnen sind, beispielsweise die Republikaner (REP), jedoch gelang diesen keine langfristige politische Etablierung. Die Gründung der Alternative für Deutschland (AfD) im Jahr 2013 ist durch diesen Ansatz nur bedingt zu erklären. Zwar vertritt die AfD seit ihrer Gründungsphase national-konservative und national-liberale Positionen, die durchaus eindeutig auf dieser Konfliktachse zu verorten sind, gleichwohl vertritt die Partei aber auch wirtschaftlich libertäre Standpunkte, die eher dem grün-alternativ-libertären Pol zuzuordnen wären. Ob ein neuer Wertekonflikt oder gar ein fortführender Wertewandel stattgefunden hat, der die Gründung der AfD begünstigte, ist zu diesem Zeitpunkt umstritten. Dennoch ist zu konstatieren, dass sich mit der Entstehung dieser Partei erneut die Frage nach der Manifestierung eines neuen Wertekonflikts durchaus stellt. Die mannigfaltigen Erklärungsansätze, die auf eine neue Konfliktdimension schließen lassen, weisen eine essenzielle Gemeinsamkeit auf. Die Rede ist hier davon, ob und inwiefern eine Gesellschaft kulturell geschlossen-nationalistisch oder liberal-kosmopolitisch ausgerichtet sein soll. Während Befürworter einer eher homogenen Gesellschaft am nationalistischen Pol dieser Konfliktachse zu verorten sind, so sind Befürworter einer heterogenen Gesellschaft als Kosmopoliten zu verstehen (Grande 2014, S. 49).

Kritiker der Theorie eines erneuten Wertewandels bezweifeln, dass es diesen gegeben habe. Stattdessen hätten die etablierten Parteien ein Repräsentationsdefizit durch mangelnde Responsivität erzeugt. Lange gepflegte Werte seien durch die Parteien nicht länger vertreten worden. Beispielhaft kann hier die Migrations- und Asylpolitik unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) angeführt werden. Teile der (Unions-)Wählerschaft fühlten sich dadurch nicht mehr in ihrer national-konservativen Wertehaltung verstanden, was wiederum eine Veränderung des Wahlverhaltens zu Gunsten der AfD begünstigte (Mader und Schoen 2019, S. 80). Kritiker der Annahme eines erneuten Wertewandels führen an, dass die Christdemokraten durch einen inhaltlichen Kurswechsel jene Wähler zurückgewinnen könnten, die sie zuvor an die AfD verloren haben. Demnach habe eine langfristige Entfremdung nicht stattgefunden.

Verlässliche Wertprofile von Parteien sind für das Wahlverhalten der Bevölkerung demnach von immenser Bedeutung. Sie dienen als eine Art Shortcut, die zur Komplexitätsreduktion vor Wahlen herangezogen werden. Parteien müssen diese Wertvorstellungen aufgreifen, wenn sie langfristig das an sie gebundene Wählerklientel behalten wollen. Trotzdem kommt es immer wieder zu Veränderungen gesamtgesellschaftlicher Wertpräferenzen. Darauf müssen Parteien zwangsläufig reagieren und Standpunkte formulieren. Hier ist dann von Bedeutung, ob sie diese Wertverschiebungen adaptieren oder sich von diesen abgrenzen. Essentiell bleibt hier, dass Parteien die für sie relevanten Werte in ihrer Wählerschaft aggregieren und artikulieren müssen. Dadurch kann schlussendlich der Parteienwettbewerb nachhaltig verändert werden.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Lucas Constantin Wurthmann

Fussnoten