Gegenstandsfelder
Wahlforschung (WF) beschäftigt sich unter verschiedensten Aspekten mit dem Phänomen der Wahl, der allgemeinsten und einfachsten Form → politischer Partizipation und einer der Grundvoraussetzungen moderner → Demokratie. Schwerpunkte der WF sind heute:
Analysen des Wahlrechts, des Wahlprozesses, des Wahlsystems aus der Sicht der Rechts- und → Politikwissenschaft. Dabei geht es um die Ausgestaltung der Wahlrechtsgrundsätze, um Probleme des Parteienwettbewerbs, des →Wahlkampfes, der Finanzierung und Kosten des Wahlprozesses und um das → Wahlsystem und seine Auswirkungen auf die politische Machtverteilung.
Untersuchungen der Bestimmungsgründe individueller Partizipation bei Wahlen, durch Politische/Wahl-Soziologie und Politische Psychologie. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses dieses Zweiges der WF steht die Frage: Wer wählte wen/was warum?
Analysen von Wahlen aus der Sicht von Kommunikationswissenschaft und Sozialisationsforschung. Dabei geht es nicht allein um die Rolle der Medien im Wahlprozess, sondern um die Bedeutung von Wahlen als Akt der Kommunikation und Politikvermittlung, um den Stellenwert von Wahlen im Prozess lebenslangen Lernens, um Wahlen als Ritual und um Symbolische Politik.
WF in einem solchen umfassenden Verständnis ist multidisziplinär und wird unter Verwendung der jeweils spezifischen Methoden und Theorien von der Mehrzahl, wenn nicht dem gesamten Spektrum der Sozialwissenschaften betrieben.
Ansätze der Wähleranalyse
Im engeren Sinn meint WF die Analyse des →Wählerverhaltens (WV). In diesem wahlsoziologischen Verständnis befasst sich WF mit der Beschreibung, Erklärung und Prognose individueller Wählerentscheidung, der Verteilung der Partei-, Kandidaten- und Sachpräferenzen in der Wählerschaft als Ganzem, wie in politisch relevanten sozialen, kulturellen, territorialen (Sub-)Einheiten innerhalb der Wählerschaft. Untersucht werden strukturelle wie situative Bestimmungsfaktoren des WV. Zu den strukturellen Determinanten zählen die Gesellschaftsstruktur, das Politische (Institutionen-)System, die Struktur der Öffentlichkeit, die politische Kultur auf der Makroebene sowie die Verankerung des Wählers in seinen Primär- und Sekundärumwelten, in sozialen und kulturellen Milieus und in gesellschaftlichen Organisationen. Im Zentrum stehen die Analyse von Einstellungen, Verhaltensmustern und Motiven des einzelnen Wählers und die Fragen, welchen Voraussetzungen, Bedingungen, Einflüssen seine Wahlbeteiligung und Stimmabgabe unterliegen, welche Konsequenzen sie auslösen (vgl. Schultze 2013).
Erklärungsansätze
Theoretisch kann man unterscheiden zwischen Ansätzen, die die soziale Determiniertheit des Wählens betonen (expressive Theorien des Wählens), und solchen, die vom rationalen Verhalten des Wählers ausgehen (instrumentelle Theorien des Wählens), sowie zwischen dem Gruppenansatz und dem individuellen Identifikationsansatz.
Expressive Theorien
Expressive Theorien des Wählens, etwa der soziologische Bezugsgruppenansatz, der zuerst von der Columbia School der US-amerikanischen WF formuliert wurde, nehmen die gesellschaftsstrukturelle und langfristige Verankerung des Wählers in einigen wenigen Grundkonflikten – Klassen- bzw. Kontextbindung und Milieuverhaftung, Gruppenmitgliedschaften (von der Familie bis zu den sozialen Großgruppen), affektive (Partei-)Bindungen – an, die sich im politischen Verhalten und insbesondere im Wahlakt manifestieren. Soziale Hintergrundvariablen wie Einkommen, ökonomischer Status bzw. Schichtzugehörigkeit, Beruf, Konfession, Stadt – Land (Index der politischen Prädisposition) dienen dabei zur Identifikation von sozialen Gruppen, die erkennbare Wahlnormen haben. Die Einbindung der Wähler in Primär- und Sekundärumwelten, in soziale und kulturelle Milieus, bestimmt darüber hinaus politische Einstellungen zu Sachfragen, Kandidaten und Parteien. Und man geht davon aus, dass das WV umso konstanter ist, je fester gefügt die sozialen und/oder kulturellen Milieus, je stärker die Gruppenbindungen, je gleichförmiger folglich auch die durch Meinungsführer vermittelten Informationen sind. Verhaltensinstabilität, Apathie und Wechselwahl hingegen erklärt man mit Cross-pressure-Situationen, denen der Wähler z. B. durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen und politisch gegensätzlichen Organisationen ausgesetzt ist. Über Gruppenmitgliedschaft und Milieuzugehörigkeit stellt sich zudem der Bezug zu den gesamtgesellschaftlichen Konflikten her.
Seit S.M. Lipset und St. Rokkan (1967) unterscheidet die WF im Blick auf die Entwicklung der europäischen Demokratien in der Regel vier soziale Hauptkonflikte (Cleavages): Im Zuge der Nationenbildung bildeten sich dabei die Konflikte von (1) Zentrum versus Peripherie – oder dominanter versus unterworfener Kultur (ethnische, sprachliche, kulturelle Konflikte) und von (2) Staat versus Kirche (Konflikte der Säkularisierung, staatlicher versus kirchlicher Kontrolle im Bildungssystem bis hin zu Konflikten um lebensweltliche Normsetzungen z. B. in Familie, Ehe …); im Prozess der Industriellen Revolution die Konflikte von (3) Stadt versus Land (Agrarinteressen versus Industrieinteressen) und (4) Kapital versus Arbeit. In ihrer je national-/landesspezifischen Konfiguration bestimm(t)en sie langfristig Wählverhalten und Parteiensysteme.
Im Zentrum des Erkenntnisinteresses der soziologischen Bezugsgruppen- wie anderer Ansätze der expressiven Theorie des Wählens steht mikrosoziologisch die Frage nach der Konstanz individuellen WV wie makropolitisch die nach der langfristigen Systemstabilität liberaler → Demokratien.
Sozialpsychologischer Identifikationsansatz
Dem sozialpsychologischen Identifikationsansatz der Michigan School geht es hingegen um den Wechsel von Parteipräferenzen und um Ursachen kurzfristiger Abweichungen vom traditionellen WV (Lewis-Beck et al. 2008). Er sieht das individuelle WV definiert im Spannungsfeld von Parteiidentifikation/affektiver Partei-bindung und aktueller Politik (normal vote versus actual vote). Bezugspunkt des WV sind im ursprünglichen Konzept des „American Voter“ nicht die sozialen Gruppen und soziokulturellen Milieus, sondern als Langzeitfaktor die Partei, mit der man sich identifiziert, sowie die Einstellung zu Kandidaten und zu Issues als politische Kurzzeiteinflüsse. Im Sozialisationsprozess erworben und durch Wahlen immer wieder aktualisiert, wirkt die Parteiidentifikation dabei wie ein Filter, der Wahrnehmung und Bewertung politischer Themen und Ereignisse strukturiert. Wähler mit starker Parteiidentifikation machen sich die Sachpositionen „ihrer“ Partei eher zu eigen und sie schätzen die Kandidaten „ihrer“ Partei deutlich positiver ein als die anderer Parteien. Erklärt werden diese Zusammenhänge üblicherweise mit den psychologischen Konzepten von selektiver Wahrnehmung und kognitiver Dissonanz: Konsonanz führt zu konstantem WV; Dissonanzen bewirken wechselndes WV, kurzfristige Abweichungen wie langfristige Umorientierungen in den politischen Einstellungen und Verhaltensmustern der Wähler. Makropolitisch bildet die Parteiidentifikation eine wichtige Voraussetzung politischer Stabilität.
Instrumentelle Theorien
Instrumentelle Theorien des Wählens sehen im Wahlakt primär und analog zum Marktverhalten des homo oeconomicus die rationale Entscheidung des Wählers, wobei Kosten-Nutzen-Überlegungen das individuelle Verhalten steuern (Downs 1968). Empirisch-induktive Ansätze dieser Provenienz interpretieren die an Issue-Positionen und Kandidaten-Alternativen der Parteien orientierte Wählerentscheidung als responsiven bzw. retrospektiven Akt, bei dem der Wähler über die Leistungen der politischen Eliten in der Vergangenheit urteilt, insbesondere also Regierungen bestätigt oder abgewählt werden, und/oder der Wähler prospektiv Handlungsvollmacht überträgt. Dabei ist mit Blick auf die Bedeutung von Sachthemen für das WV wichtig (vgl. Schoen/Weins in: Falter und Schoen 2014): (a) Damit Issues überhaupt wirksam werden können, müssen zwei Voraussetzungen gegeben sein. Das Sachthema muss von den Wählern als bedeutsam wahrgenommen werden und es muss zwischen den Parteien streitig sein (Position- vs. Valenz-Issues). Wirkung auf die Wählerentscheidung geht dabei von Themen aus, bei denen die Parteien gegensätzliche Standpunkte vertreten, (b) Es geht weniger um die Themen als solche als um die zu erwartenden individuellen Auswirkungen und auch weniger um das konkrete Programmangebot der Parteien zur Lösung einer bestimmten Sachfrage, als vielmehr um die Lösungskompetenz, die der Wähler den Parteien zubilligt, (c) Innenpolitischen Themen wird vom Wähler zumeist ein höherer Stellenwert zugemessen als außenpolitischen. Unter ihnen stehen in den industriellen Demokratien durchweg die Fragen der Wirtschaftsentwicklung, der Arbeitsplatzsicherung und der sozialen Sicherheit im Vordergrund; allerdings wuchs insbesondere seit den 1970er-Jahren die Zahl derjenigen Wähler, die Fragen der Umwelt, der individuellen Freiheit und Selbstverwirklichung sowie der Mitbestimmung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Vorrang vor anderen Issues einräumen (materialistische versus postmaterialistische Werte).
Ergebnisse
Expressive und instrumentelle Theorien des Wählens ergänzen sich eher, als dass sie sich ausschließen: Denn Wählerentscheidungen formieren sich unverändert im Spannungsverhältnis von langfristigstrukturellen Determinanten wie politischen Kurzzeiteinflüssen. Beide sind eng miteinander verknüpft. Die sozialstrukturellen Konfliktmuster bedürfen der Aktualisierung durch die Politik; die Einstellung des Wählers zu kontroversen politischen Sachthemen hängt entscheidend davon ab, welchen sozialen und kulturellen Milieus der Wähler angehört; sie wird zudem gefiltert durch die jeweilige Parteipräferenz.
Bei allen Differenzen im Detail ist man sich dabei in der WF weithin einig über die fortdauernde Bedeutung der vier sozialen Grundkonflikte, die noch immer politische Einstellungen wie WV in den industriellen Demokratien strukturieren, in D insbesondere der konfessionell-katholische vs. anti-konfessionell/libertäre und der wohlfahrtsstaatliche Cleavage zwischen Kapital und Arbeit (→ Wählerverhalten). Zu den gesicherten Ergebnissen der WF gehört aber auch, dass es seit Ende der 1960er-Jahre mit der Auflösung homogener sozialer Umwelten zum Rückgang struktureller Bindungen in der Wählerschaft bei gleichzeitiger Zunahme der Wechselbereitschaft (electoral volatility) und wachsendem Gewicht aktueller Politik auf die Wählerentscheidung gekommen ist. Zur Erklärung dieser Wandlungstendenzen im WV bietet die WF unterschiedliche Interpretationen an (vgl. Schultze 2013):
Interpretationen quantitativen soziodemografischen Wandels (eher dem soziologischen Ansatz und der expressiven Theorie zugehörig) bringen die Veränderungen im WV mit dem Wandel in Berufsstruktur, Bildung, Arbeitsmarkt etc. in Verbindung, gehen aber bei quantitativ reduzierter Bedeutung vom Fortbestand der traditionellen Konfliktmuster, auch des Klassencleavage, aus (vgl. Debus, in Schmitt-Beck 2012).
Interpretationen qualitativen Wandels unterstellen die Herausbildung neuer Konfliktlinien wie die Formierung neuer langfristig stabiler Verhaltensmuster und Parteibindungen in der Wählerschaft (partisan realignment), die meist, in Anlehnung an R. Inglehart (1977), auf Prozesse des politischen Wandels, der „partizipatorischen Revolution“, des Wertewandels hin zu post-materialistischen Werten zurückgeführt oder als Ausdruck der Strukturdefizite des Industriesystems gedeutet worden sind. Andere sehen im Gegeneinander von Modernisierungsgewinnern und – verlierern als Folge der Globalisierungs- und Europäisierungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft das Potenzial zu neuer Cleavage-Bildung. Manche der empirischen Lebensweltanalysen, wie u. a. die Sinus-Studien, gehen für die bundesrepublikanische Gesellschaft von zehn, sich allerdings überlappende Milieus aus, die – durch Schicht, Werte und Lebensstil definiert – die politischen und (Partei-)Präferenzen unterschiedlich prägen.
Interpretationen des dealignment betonen nicht allein die Auflösung traditioneller Strukturen; sie sehen im Fehlen fester Bindungen einen Dauerzustand und erklären das WV, insbesondere die wachsende Zahl von Wechselwählern, im Rahmen der instrumentellen Theorie zusehends als Ergebnis von issue voting auf der Basis von individuellen Kosten-Nutzen-Überlegungen. Für sich genommen greift jedoch jeder dieser Erklärungsversuche zu kurz (vgl. Schultze 2013).
Probleme und Defizite
Die wahlsoziologische WF ist zweifellos die Teildisziplin der Politikwissenschaft, die methodisch am weitesten entwickelt ist. Einen umfassenden Überblick über die Mainstream-Forschung aus dem deutschsprachigen Raum vermitteln die für jede Bundestagswahl seit 1976 erschienenen Bände der sog. Blauen Reihe, heraus-gegeben zunächst von Kaase/Klingemann, seit der Bundestagswahl von 2002 von Falter/Gabriel/Schoen/Weßels. und seit einigen Wahlen auf der Basis des Forschungsverbundes GLES, der German Longitudinal Election Study, sodann das von Falter/Schoen herausgegebene Handbuch Wahlforschung.
Aus ihrem paradigmatischen Konsens, den Behavioralismus als Ansatz wie die Individualdatenanalyse und Demoskopie als Methode und Forschungstechnik, resultieren jedoch nicht nur Vorteile; damit sind eine Reihe von Einseitigkeiten, Problemen und Defiziten verbunden (vgl. Schultze 2013):
Durch den Behaviorismus veränderten sich Gegenstand und Forschungsinteresse: Aus Wahlforschung wurde Wählerforschung. Damit verlor man einerseits den komplexen, multifunktionalen Charakter von Wahlen aus dem Blick und kam andererseits den politischen Parteien entgegen, insbesondere ihrem wahlstrategischen Interesse an der Frage: Wie gewinne ich die nächste Wahl? Sozialtechnologie und → Politikberatung bestimmen folglich zusehends die konkreten Analysen, und zwar nicht nur die der professionellen Demoskopen.
Die WF befördert mit der Flut (sich vielfach widersprechender) demoskopischer Analysen zum aktuellen Meinungsklima und den möglichen Auswirkungen auf Parteistärken und Regierungsverhältnisse die Kurzatmigkeit und Aufgeregtheiten im Politikprozess der Mediendemokratie; dies verstellt häufig den Blick für die noch immer beachtliche Stabilität in den Politik- und Parteipräferenzen der Wähler.
Es dominieren weithin quantitative Untersuchungen auf der Basis von zumeist standardisierten Umfragen. Im Hauptstrom der empirischen WF spielen Analysen auf Aggregatdatenbasis und solchen, die mit Verfahren der qualitativen Sozialforschung arbeiten, bislang nur eine untergeordnete, Rolle.
Forschungsinteresse und Umfragetechnik behindern die adäquate Beschäftigung mit den Gründen von Wahl und Nicht-Wahl, die bei steigender Wahlenthaltung in den westlichen Demokratien zusehends dringlicher wird und zusätzlich auf die Notwendigkeit qualitativer Untersuchungen verweist. Zudem macht es sich die WF mit Erklärungen, die, abgeleitet aus der instrumentellen Theorie, Nicht-Wahl vornehmlich als „rationalen Protest“ interpretieren, zu leicht. Dies gilt analog für vergleichbare Deutungen des rechtspopulistischen bzw. rechtsradikalen WV.
Aufgrund ihrer primär mikrosoziologischen (auf die Erklärung individuellen Verhaltens zielenden) Ausrichtung und ihres weitgehend (auf Theoriebildung und Methodentest zielenden) abstrakten Forschungsinteresses verliert der behavioralistische Hauptstrom der WF häufig die makropolitischen Aspekte und demokratiepolitischen Konsequenzen des WV aus dem Blick. Es fehlt zumeist an der Rückkopplung der Ergebnisse an die demokratietheoretischen Grundfragen des Wählens, an die Fragen demokratischer Systemstabilität oder auch an theoretisch zureichenden Konzepten für die vergleichende Untersuchung von Wahlen und WV in unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen System-Kontexten wie in Prozessen der Systemtransformation.
Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Rainer-Olaf Schultze