Der Begriff der Wählerinitiativen (WI) umfasst alle Arten von Gruppen von nicht parteipolitisch Engagierten, die versuchen, Einfluss auf die politische Willensbildung zu nehmen, u. a. auch Aktionen wie ‚Rock gegen Rechts‘, „Künstler für den Frieden“, etc. Im engeren Sinne verweist der Begriff vor allem aber auf Personenkreise, die sich um Mandate in der Kommunalpolitik bewerben. Im Sprachgebrauch hat sich, alternativ zum Begriff der WI, auch der der kommunalen Wählergemeinschaften, der Freien Wähler (FW) eingebürgert. WI weisen Gemeinsamkeiten mit, aber auch Unterschiede zu anderen Formen kommunaler Interessenorganisation (z. B. Parteien, → Bürgerinitiativen) auf. Mit und in Konkurrenz zu → Parteien haben WI einerseits gemein, dass sie Interessen bündeln, sich mit Kandidatenvorschlägen an → Wahlen beteiligen, die Übernahme politischer Verantwortung anstreben, im Unterschied zu Parteien mit ihren Aktivitäten vorrangig aber auf die kommunale Ebene abzielen. Von Bürgerinitiativen unterscheidet sie andererseits, dass sie innerhalb der bestehenden kommunalen Institutionen operieren, mit ihren politischen Anliegen etwa nicht zeitlich und sachlich begrenzt sind. Ihrem Selbstverständnis zufolge sahen bzw. sehen sich WI unverändert als bewusste personelle und programmatische Alternative zu den Parteien und optieren vielfach unverändert nicht für parteipolitische, sondern für sachlich-verwaltungsbezogene Entscheidungen in der Kommunalpolitik. Allerdings haben sich insbesondere die (Bundesvereinigung) FW durch ihre Kandidaturen bei Bundes-, Landtags-, EU-Wahlen in Organisationsform, Handlungsmustern und Zielsetzung dem Parteien-Status angeglichen.
WI bieten, was ihre Stellung und Bedeutung in der bundesdeutschen Kommunalpolitik anlangt, ein komplexes Bild. Obwohl sie in fast allen, alten wie neuen, → Bundesländern an Kommunalwahlen teilnehmen, schneiden WI in der alten BRD vor allem in → Bad.-W. → Bay. → R.P. gut ab, gefolgt von → Hess., → Nds. dem → Sal. und → NW; in den neuen Ländern in → Thür. und → Sa. (Holtkamp/Eimer, in: Jun et al. 2006). Zum Beispiel erreichten bei den Kommunalwahlen in Bay. (1990) WI 11,9 %, in Bad.-W. auf Gemeinde- und Stadtratsebene 40,7 % der abgegebenen Stimmen, schnitten in NW (1989) nur mit 1,6 %, in S.H. (1990) mit 1,2 % ab. Dieses Grundmuster hat sich in der jüngeren Vergangenheit nur unwesentlich verändert; allerdings stieg der Stimmenanteil durchweg an. In Bay erreichten die WI 2002 landesweit 15,6 % und je nach Ortsgrösse zwischen 58 % (unter 2000 EW) und 8 % (über 100.000 EW), in NRW 2004 landesweit 6,5 %, in Thür. 2004 landesweit 20,3 % und je nach Ortsgrösse zwischen 62 % und 12 %, in Sa. gleichfalls 2004 landesweit 18,5 % und je nach Ortsgrösse zwischen 55 % und 13 % (vgl. Reiser, in: Jun et al. 2006).
Für diese bundesweit unterschiedlichen Stärken lässt sich neben regionalhistorischen und politisch-kulturellen Gründen ein Bündel mehrerer Bestimmungsgrößen anführen (vgl. Morlock et al. 2012): Zunächst haben die institutionellen Rahmenbedingungen, insbesondere das kommunale Wahlsystem, zumal wenn es keine 5 %-Klausel kennt, zudem Listenübertragung und Stimmenhäufung (Panaschieren, Kumulieren) zulässt, Auswirkungen auf das Abschneiden von WI. Ferner hängt deren Stellung und Charakterisierung stark ab von der Größe und der sozialstrukturellen Zusammensetzung der → Gemeinden, ferner vom Grad der organisatorischen Präsenz der politischen Parteien auf dem Lande. In kleinen Gemeinden traten und treten WI als „ausgewogenes Dorfpotpourri aller Sozialaktiven“ (Wehling 1986, S. 92) auf, während sie in mittleren und größeren Gemeinden in der Vergangenheit zumeist mittelständische Interessenvertretungen der Selbstständigen und Handwerker waren und vielfach auch unverändert sind; dies vor allem in Konkurrenz zur → CDU, → CSU und → FDP. Die Bewertung von WI in der alten BRD hat zwei Tatbeständen Rechnung zu tragen: Einerseits stellten WI als politisches Forum mit integrierender und legitimierender Wirkung einen wichtigen politischen Akteur auf kommunalpolitischer Ebene dar. Andererseits kam es besonders im Zusammenhang mit Listenverbindungen, im Repräsentationsbereich zu Problemen. In solchen Fällen traten WI entweder als Honoratiorenpartei des „alten Mittelstandes“ auf, die kommunale Selbstverwaltung in einer historisierenden, kleinbürgerlich Klassengegensätze verneinenden Weise begriffen und in Distanz zu einem pluralen Demokratiebegriff über ein verkürztes Repräsentationsverständnis divergierender Interessen verfügten. Oder sie fungierten als abhängige oder verkappte Parteiliste meist bürgerlicher Parteien, die auf diese Weise überparteilich erscheinen wollten.
Zu diesem traditionellen Typus tritt seit den 1970/80er-Jahren ein zweiter neuer Typ von WI hinzu, entstanden im Kontext der sog. „partizipatorischen Revolution“ und getragen von den Neuen Sozialen Bewegungen, vor allem der Frauen- und Ökologiebewegung. Die WI unterliegen allerdings wie Bürgerinitiativen, NGOs und andere Formen unkonventioneller politischer Beteiligung wechselnden Partizipationskonjunkturen. Bedeutung und Einflussmöglichkeiten hängen ferner ab von dem Maß an Akzeptanz bzw. Verdrossenheit, das die Bürger den etablierten Parteien entgegenbringen. Zudem kommt es seit geraumer Zeit als dialektischer Reflex von Globalisierung und supranationaler Europäisierung zur Aufwertung lokaler/regionaler Räume und Probleme. Dies führt zu verstärkter Lokalisierung der Politik und zur Vervielfältigung wahlentscheidender Themen, die von den „Großparteien“ CDU, CSU und SPD nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Der wachsende Erfolg der WI in der jüngeren Vergangenheit ist auch darauf zurückzuführen. Bei den Kommunalwahlen der Jahres 2014 erzielten die WI landesweit etwa in Bad.-W. 31,4 %, in Sa. 24,0 %, in Bay. auf Gemeindebene ca. 40 %, in den kreisfreien Städten knapp 20 % der Stimmen und stellen dort eine Vielzahl von Mandats- und Amtsträgern (in Bay. z. B. 12 der 71 Landräte). In Bayern traten die FW seit 2008 auch erfolgreich bei Landtagswahlen mit 2008: 10,2 % und 2018: 11,6 % der Stimmen an; sie sind dort seit 2018 als Koalitionspartner der CSU Regierungspartei. Außerhalb Bayerns blieben Erfolge der WI bei überregionalen Wahlen bislang allerdings kurzzeitige Episoden.
Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Rainer-Olaf Schultze