Zur Begriffsgeschichte
Die Begriffe Gleichheit und Ungleichheit (U.) sind Schlüsselbegriffe der modernen Gesellschaftsgeschichte. Die Frage nach dem „Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen“ (J.-J. Rousseau, 1712–1778) und „ob sie durch das Naturrecht“ gerechtfertigt sei, zeigte in der Französischen Revolution 1789 mit ihrer Forderung nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ihre revolutionäre Sprengkraft und sollte sie bis heute behalten. R. Dahrendorf (2006) hält diese Frage für „die erste der soziologischen Wissenschaft“. Gleiche unter Gleichen sollten die neue Gesellschaft bilden und gleich unmittelbar sein zum Staat, der demokratisch legitimierten Ordnungsmacht.
Zur Begriffsgeschichte von Gleichheit/U. gehört, dass ihr in allen historischen Epochen ein unterschiedlicher Stellenwert zukam (Dann 1975). Grob sind drei Einstellungsmuster und damit zugleich verschiedene Gesellschaftsformationen unterscheidbar:
U. wird als naturgegeben (wie bei Aristoteles oder auch bei den Sozialdarwinisten) oder als gottgewollt (wie in der mittelalterlichen Ständegesellschaft) angesehen; ihre Feststellung führt zu keinen Veränderungen.
U. wird als Form der sozialen Differenzierung erkannt und allgemein akzeptiert, solange bestimmte Grenzen nicht überschritten werden. Sie wird durch Chancengleichheit und die Wirkungen des Sozialstaats „aufgebrochen“ bzw. kompensiert.
U. wird als nicht akzeptabler gesellschaftlicher Zustand angesehen. Nur eine revolutionär herbeizuführende Gleichverteilung der wichtigsten gesellschaftlichen Ressourcen kann diesen Zustand der Ausbeutung und Unterdrückung beenden.
Es ist offenkundig, dass die BRD bzw. nach 1990 D dem zweiten „Modell“ zuzurechnen ist und die bis 1990 existente → DDR dem dritten, weil sie entsprechend der kommunistischen Ideologie das Prinzip der Gleichheit zur Basis der Gesellschaftsordnung hatte. Grundlagen individueller Freiheit blieben nachgeordnet. Bezogen auf D bringt der Begriff (soziale) U. also zum Ausdruck, dass wichtige Ressourcen wie Vermögen, (Produktions-)Eigentum und Einkommen, Macht und Prestige ungleich verteilt sind und dies von den Gesellschaftsmitgliedern dann negativ bewertet wird, wenn das Erreichen entsprechender sozialer Positionen und eines bestimmten sozialen Status’ nicht auf erkennbarer Chancengleichheit beruht.
Dass die Forderung nach Gleichheit ein perpetuum mobile ist, hat wohl als erster der bedeutende Theoretiker von Demokratie und Gleichheit, Alexis de Tocqueville (1805–1859) gesehen. Im zweiten Band seines Werkes Über die Demokratie in Amerika (frz. 1840) schrieb er im 13. Kapitel: „Wie sehr sich die Gesellschaft allgemein bemühen mag, die Bürger gleichberechtigt und gleichförmig werden zu lassen, immer sucht der besondere Stolz des Einzelnen sich vom Durchschnittlichen zu entfernen und wird irgendwo eine für ihn vorteilhafte Ungleichheit herstellen wollen“.
Ausprägungen sozialer U.
Die jeweilige Ausprägung der U. ist ein wichtiges Element sowohl für das Zusammenleben der Menschen im Hinblick auf die sozialen Hierarchien und das Sozialprestige, das „Standesbewusstsein“ und die damit verbundenen Vor- bzw. Nachteile in der Durchsetzung von (Rechts-)Ansprüchen als auch für die Gesellschaftsstruktur. Der Wandel der U.sformen ist ein entscheidendes Merkmal des sozialen Wandels. Bezeichnungen wie Stände-, Klassen- oder Schichtungsgesellschaft heben U. als dominantes Strukturmerkmal hervor (Hradil 2001).
Für die entwickelte Industriegesellschaft wurde eine differenzierte soziale Schichtung als typisch angesehen. Schichtungspyramiden auch zunehmend komplexerer Art, die neben Bildung/Ausbildung, Beruf/Einkommen, Vermögen und Wohnverhältnisse immer mehr Indikatoren anführten, gerieten seit den 1980er-Jahren zunehmend in die Kritik. Zu den Kritikpunkten gehört auch, dass die im Grundgesetz geforderte Gleichheit, zumal die von Männern und Frauen (Art. 3, Abs. 2), in der Wirtschaft, aber auch der Rechtspolitik zu wenig Beachtung finde. Erst die Reform des Ehe-, Familien- und Scheidungsrechts in den Jahren 1976/77 beseitigte verbliebene U.en im BGB.
Unstimmigkeit, sowohl gesellschaftspolitisch als auch theoretisch, herrschte und herrscht über die „Ränder“ dieser Sozialhierarchien, über „die ganz unten“ und über die Bedeutung und Zusammensetzung der → Eliten. Die durch den → Wertewandel und die sozialen Bewegungen, die digitale Revolution seit 1970 und die Entwicklung der Wissens- und Informationsgesellschaft bewirkten Veränderungen der Familienformen und Lebensgemeinschaften, der Arbeits- und Berufsstrukturen führten zur Ausbildung neuer sozialer Milieus und Lebensstile. In der vom Sinus-Institut entwickelten „Sociovision“ werden die neuen sozialen Differenzierungen unter Berücksichtigung der vorherrschenden Wertmuster und Lebensstile in anschaulicher Weise dargestellt (Geißler 2014, S. 116). In welchem Ausmaß diese Ausprägungen der sozialen und kulturellen Differenzierungen nach Milieus und Lebenslagen auch als U. empfunden werden und welche Konsequenzen das hat, bedarf der empirischen Untersuchung.
Der französische Soziologe P. Bourdieu (1930–2002) beharrte darauf, dass der Marx’sche Kapitalbegriff zur Charakterisierung der „feinen Unterschiede“ nicht einfach verabschiedet werden könne. Auf der Basis einer Differenzierung in ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital unterschied Bourdieu (1982, S. 277) eine primäre, ökonomisch bestimmte U. von einer sekundären U. Eine große Anzahl an „Klassenfraktionen“ sind auf dieser Basis denkbar, die zu unterschiedlichen Ausprägungen des jeweiligen Habitus’ und Lebensstils führen.
R. Geißler ist in seinem Werk zur Sozialstruktur Deutschlands, in dessen Zentrum die Frage nach der Ausprägung der sozialen U. in den beiden deutschen Gesellschaften vor und nach der Wiedervereinigung steht, auch der Frage nachgegangen, wie sich die U. zwischen Frauen und Männern im vereinten Deutschland entwickelt hat. Er resümiert, dass der „Gleichstellungsvorsprung“ aus der DDR-Gesellschaft durch das Verschwinden der Lenkungsmechanismen und den Abbau eines Teils der frauenpolitischen Unterstützungsmaßnahmen zwar tendenziell abgenommen und sich an westdeutsche Verhältnisse angepasst habe, es aber auch „umgekehrte Einflüsse von Ost nach West“ gebe (2014, S. 403 ff.). Die neuere Diskussion um U. zwischen Frauen und Männern, in der Erziehung usw. wird dominiert von den sog. Genderstudien (vgl. den Überblick bei Faulstich-Wieland 2006).
Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Bernhard Schäfers