Menschen bilden Gruppen und Gemeinschaften und identifizieren sich mit ihnen. In den 1970er-Jahren zeigten Sozialpsychologen mit dem „minimal group paradigm“, dass Individuen selbst in willkürlich gebildeten Gruppen die eigenen Gruppenmitglieder favorisieren und Mitglieder fremder Gruppen diskriminieren. Seit der Herausbildung von Nationalstaaten und der vollständigen Aufteilung der Erde in nationalstaatliche Territorien und Bevölkerungen ist die Zugehörigkeit zu eben diesen Nationalstaaten zu einem wichtigen Merkmal individueller Identität geworden, insbesondere im Kontext globaler Migration.
Zum einen dient nationale Identität als Bezugspunkt für kulturelle Identifikation. So werden von zugewanderten Personen, die die Staatsangehörigkeit eines anderen Landes erwerben möchten, auch in liberalen Demokratien wie D kulturelle Anpassungsleistungen und damit eine gewisse Identifikation mit dem neuen Heimatland eingefordert. Personen mit Migrationshintergrund machen teils die Erfahrung, dass sie aufgrund tatsächlicher oder zugeschriebener kultureller Differenzen als nicht richtig dt. wahrgenommen werden. Demnach wird bei der Vergabe der dt. Staatsangehörigkeit auch stets die Frage verhandelt, was es bedeutet, dt. zu sein: Welche Deutsch- und Geschichtskenntnisse sind von Nöten? Welche Gesetze, Bräuche und Regeln müssen bekannt sein und in welcher Form können Werte wie Geschlechtergerechtigkeit und die Ächtung von Antisemitismus vermittelt oder sogar eingefordert werden? Welche kulturellen Anpassungs- und Akzeptanzleistungen sind von Nicht-Zugewanderten zu erbringen?
Zweitens bietet die Staatsangehörigkeit diplomatischen Schutz im Ausland und das Recht auf Rückkehr nach D. 2019 wurde es allerdings durch eine Änderung möglich gemacht, volljährigen deutsch-ausländischen Doppelstaatsangehörigen den deutschen Pass zu entziehen, wenn diese sich an den Kampfhandlungen einer Terrormiliz im Ausland konkret beteiligt haben.
Drittens werden politische Rechte in D über die deutsche Staatsangehörigkeit und die darauf aufsetzende Unionsbürgerschaft vergeben: volljährige deutsche Staatsbürger besitzen in allen dt. und in den Wahlen zum Europäischen Parlament das aktive und passive Wahlrecht; EU-Bürger besitzen das aktive und passive Wahlrecht für das Europäische Parlament und für deutsche Kommunalwahlen. Ausländer aus Drittstaaten hingegen dürfen in D nicht wählen. Aus demokratietheoretischer Perspektive ist es jedoch wünschenswert, dass Wohn- und Wahlbevölkerung nicht wesentlich auseinanderfallen, da sonst über weite Teile der Bevölkerung regiert wird, ohne dass diese politisch mitbestimmen. Schon mit dem 1991 in Kraft getretenen Ausländergesetz und vor allem mit dem zum 01.01.2000 in Kraft getretenen neuen dt. Staatsangehörigkeitsgesetz hat D sich bemüht, den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit insbesondere für in D geborene Kinder von Ausländern zu erleichtern.
Seit Jan. 2000 kann die dt. Staatsangehörigkeit nun auf drei Wegen erworben werden: durch Einbürgerung eines Ausländers, durch Geburt in D unter der Bedingung, dass sich ein Elternteil seit mindestens acht Jahren rechtmäßig in D aufhält und ein unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzt (ius soli), und – weiterhin der geläufigste Weg – durch Abstammung von einem dt. Elternteil (ius sanguinis). Politisch umkämpft war die Neuregelungen der Mehrstaatenzugehörigigkeit. Zunächst unterlagen „ius soli Kinder“ einer Optionspflicht, d. h. sie mussten sich zwischen dem 18. und dem 21. Lebensjahr zwischen der dt. und der ausländischen Staatsangehörigkeit ihrer Eltern entscheiden (Worbs 2014). Im Dez. 2014 wurde die Optionspflicht für in D geborene und aufgewachsene Kinder aufgehoben. Seitdem gilt, dass Personen, die selbst nach D eingewandert sind und sich hier einbürgern lassen, ihre Herkunftsstaatsangehörigkeit in der Regel aufgeben müssen, in D geborene und aufgewachsene Kinder von Ausländern hingegen die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern erwerben können, ohne dadurch die dt. Staatsangehörigkeit zu verlieren.
Anders als erwartet haben die Reformen des Jahres 2000 und die späteren Anpassungen keinen dauerhaften Anstieg der Einbürgerungen mit sich gebracht. Nach der 2000er-Gesetzesänderung ist die Zahl der Einbürgerungen von einem vergleichsweise hohen Niveau (187.000) gesunken und hat sich in den 2010er-Jahren auf durchschnittlich 109.000 eingependelt. Der höchste Wert der vom Statistischen Bundesamt erfassten Einbürgerungen betrug dabei 314.000 im Jahr 1995, wobei hier auch (Spät-)Aussiedler miterfasst wurden, die per Anspruchseinbürgerung den dt. Pass erhalten hatten.
Darüber hinaus wurden in den Jahren 2003 bis 2018 durchschnittlich 34.700 Kinder von Ausländern nach der ius soli Regelung als Deutsche geboren (zum Vergleich: 2018 wurden 646.743 Kinder mit mindestens einem dt. Elternteil über ius sanguinis als Deutsche geboren). Damit lag in den Jahren 2004 bis 2012 die Zahl der in D von Ausländern geborenen Kinder, die bei ihrer Geburt aufgrund der ius soli Regelung Deutsche waren, durchschnittlich etwas höher als die Zahl der von Ausländern geborenen Kinder, die bei ihrer Geburt keinen dt. Pass erhielten. Ab 2013 kommt es jedoch zu einer Umkehr dieses Verhältnisses und im Jahr 2018 ist die Zahl der ohne dt. Pass von Ausländern geborenen Kinder drei Mal höher als die Zahl der deutschen ius soli-Kinder. Hier spielt zum einen die erhöhte Zuwanderung eine Rolle, zum anderen aber auch die im ius soli enthaltene 8-Jahres Aufenthaltsanforderung, die z. B. 2015 nach D geflüchtete Eltern noch nicht erfüllen.
Insgesamt lag die Zahl der ausländischen Bevölkerung von 1995 bis 2010 weitgehend unverändert bei durchschnittlich 7,3 Mio. In Folge des Zensus 2011 wurde die Statistik zunächst um etwa 1,1 Mio. Personen nach unten korrigiert. In den darauffolgenden Jahren und insbesondere durch die hohe Zuwanderung der letzten Jahre stieg die Zahl der in D lebenden Ausländer wieder. Die Anzahl der Ausländer in D übersteigt 2018 erstmals die Marke von 10 Mio. Anteilig waren damit im Dez. 2018 12,2 % der Bevölkerung in D ohne dt. Staatsangehörigkeit. Fast die Hälfte der in D lebenden Ausländer waren allerdings EU-Bürger, die mehr Rechte haben und sich seltener einbürgern lassen als Ausländer aus Drittstaaten.
Insgesamt steht D im internationalen Vergleich als einbürgerungsschwaches Land dar. Zwar erhält D im Migrant Integration Policy Index (mipex.eu) 2014 den dritten von 38 Plätzen (nach Portugal und Schweden) für eine besonders liberale Staatsbürgerschaftsregelung. Gleichzeitig lag jedoch die Einbürgerungsrate (Anteil der Einbürgerungen als Prozent der ausländischen Bevölkerung) in D von 1,2 % unter dem OECD-Durchschnitt von 2,2 % (Höchstwert Schweden mit 7,9 %, niedrigster Wert Lettland mit 0,3 % (OECD 2019; s. a. Thränhardt 2008, S. 8).
Damit stellt sich für D die Frage, warum es bisher nicht gelungen ist, die Zahl der Einbürgerungen signifikant anzuheben. Aufgrund der politisch-rechtlichen Liberalisierungen verliert die Theorie, dass restriktive Regeln die wichtigste Erklärung sein können, an Kraft. Soziale Faktoren und Aspekte der politischen Kultur rücken stärker in den Fokus. Rein rechtlich gesprochen hat D heute kein „ethnisches Staatsangehörigkeitsregime“ mehr und anders als noch in den 1990er-Jahren hält ein großer Teil der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund heute die ethnisch dt. Abstammung für wenig wichtig beim Erwerb der dt. Staatsangehörigkeit. Stattdessen wird jedoch verstärkt eine Anpassung des Verhaltens als Voraussetzung für den Erwerb der dt. Staatsangehörigkeit eingefordert (Diehl und Tucci 2011). Eine gesellschaftliche Trägheit bei der Öffnung der dt. Einbürgerungskultur hin zur Anerkennung und Akzeptanz eines de facto bereits vollzogenen Wandels in der dt. Bevölkerung ist damit nicht von der Hand zu weisen.
Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Ines Michalowski