Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Sozialpolitik | bpb.de

Sozialpolitik

Manfred G. Schmidt

Begriff

Sozialpolitik wird im engeren und im weiteren Sinne verstanden. Folgt man wie im vorliegenden Beitrag dem engeren Begriffsverständnis, meint Sozialpolitik die institutionellen, prozessualen und entscheidungsinhaltlichen Dimensionen der gesamtgesellschaftlich verbindlichen Regelung der sozialen Sicherheit (vor allem des Schutzes vor materieller Not, der Sicherung gegen Wechselfälle des Lebens und der Bekämpfung krasser sozialer Ungleichheit) durch Staat, Verbände, Betriebe, Familien und Eigenvorsorge. Zur Sozialpolitik im weiteren Sinne zählen zusätzlich die gesetzgeberische Rahmung der Arbeitsverfassung, mitunter auch die Beschäftigungspolitik und das Bildungswesen (→ Sozialstaat).

Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland

In der vergleichenden Sozialpolitikforschung wird seit Esping-Andersens The Three Worlds of Welfare Capitalism (1990) zwischen dem „sozialdemokratischen“, dem „konservativen“ und dem „liberalen Wohlfahrtsstaatsregime“ unterschieden. Im Lichte dieser Unterscheidung erweist sich die Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland als eine Mischung aus dem „konservativen“ und dem „sozialdemokratischen“ Typ (Schmidt 2005, 2012a; BMAS und Bundesarchiv 2001–2008). Zu ihren Merkmalen zählen das Ineinandergreifen staatlicher Sozialleistungen und der Sozialpolitik von Verbänden, Betrieben und Privatpersonen, ein zu rund zwei Dritteln aus Sozialbeiträgen und zu 33 Prozent aus öffentlichen Haushalten finanzierter Sozialetat (2018) mit dem Sozialversicherungsprinzip als Kern („Sozialversicherungsstaat“), sowie die Reproduktion von Statusunterschieden des Erwerbslebens in beitragsabhängigen Sozialleistungen, vor allem bei den Altersrenten und dem Arbeitslosengeld.

Die Kernsysteme der sozialen Sicherung – Renten-, Kranken-, Pflege-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung – werden ergänzt durch Sozialprogramme auf der Basis von Versorgungs-, Entschädigungs- und Fürsorgeprinzipien sowie durch bedürftigkeitsgeprüfte Mindestsicherungssysteme, wobei Letztere laut Statistischem Bundesamt den existenzsichernden Lebensunterhalt von 7,2 Millionen Empfängern (8,7 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen) finanzieren (Datenstand: 2019, FAZ v. 26.10.2019, S. 21).

In institutioneller Hinsicht gliedert sich Deutschlands Sozialpolitik in der Terminologie des Sozialberichts des Bundesarbeitsministeriums in sechs Schichten: 1) Der größte Teil des Sozialbudgets entfällt auf die „Systeme der sozialen Sicherung“: die gesetzliche Rentenversicherung für Arbeiter und Angestellte, die Kranken-, die Pflege-, die Arbeitslosen- und die Unfallversicherung. 2) Der zweitgrößte Teil des Sozialbudgets kommt den „Förder- und Fürsorgesystemen“ zugute. Zu ihnen zählen das Kindergeld und der Familienleistungsausgleich, das Erziehungs- bzw. Elterngeld, die als „Arbeitslosengeld II“ oder „Hartz IV“ bekannt gewordene Grundsicherung für Arbeitssuchende, die Arbeitslosenhilfe und sonstige Arbeitsförderung, die Ausbildungsförderung für Kinder aus einkommensschwächeren Familien, ferner Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, die Sozialhilfe (für besonders einkommensschwache Personen) und das Wohngeld. 3) „Arbeitgebersysteme“ – die drittgrößte Schicht – enthalten vor allem die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die betriebliche Altersversorgung der privaten Wirtschaft und die Zusatzversorgung für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes. 4) „Sozialsysteme des öffentlichen Dienstes“ kommen an vierter Stelle. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um Pensionen, Familienzuschläge und die finanziellen Zuwendungen des Staates zur Krankenversicherung der Beamten und anderer Pensionäre des Staates („Beihilfe“). 5) „Sondersysteme“ sind die fünfte Schicht: Sie umfassen vor allem die Alterssicherung der Landwirte, die private Kranken- und die private Pflegeversicherung, die Versorgungswerke für die Alterssicherung von Freiberuflichen und die „Riester-Rente“, eine kapitalgedeckte, steuersubventionierte dritte Säule der Alterssicherung neben der gesetzlichen Rentenversicherung und der betrieblichen Altersversorgung. 6) „Entschädigungssysteme“ – die sechste Schicht – schließen hauptsächlich Soziale Entschädigungen ein, ferner den Lastenausgleich (für finanzielle Verluste infolge von Krieg, Flucht und Vertreibung) und die Wiedergutmachung von Verbrechen seitens des NS-Staates.

Parteipolitisch basiert die Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland insbesondere auf der Unterstützung durch zwei Sozialstaatsparteien: die CDU/CSU und die SPD, die in Fragen der Staat-Markt-Arbeitsteilung Positionen in der Mitte (CDU/CSU) bzw. links der Mitte (SDP) einnehmen. Seit der deutschen Einheit kommt eine weitere Partei mit sehr starkem Engagement für die staatszentrierte Variante der Sozialpolitik hinzu: die PDS bzw. die Partei Die Linke, während Bündnis ’90/Die Grünen sich bislang mit einer moderat sozialstaatsfreundlichen Position begnügt hat. Eine große marktwirtschaftsfreundliche, sozialstaatskritische Partei nach Art der britischen Conservative Party unter der Premierministerin Margaret Thatcher (Amtszeit: 1979 bis 1990) gibt es in Deutschland nicht. An ihre Stelle tritt hierzulande nur eine zahlenmäßig kleinere liberale Partei – die FDP. Klare sozialpolitische Konturen hat bislang die überwiegend rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) nicht aufzuweisen. Allerdings gehört eine große innerparteiliche Spannweite zwischen zwei Positionen zu ihrem Verständnis: einer marktfreundlichen, staatskritischen Variante und einer wohlfahrtstaatlichen, umverteilungsfreundlichen Sozialpolitik primär oder ausschließlich für deutsche Staatsbürger.

Das sozialstaatsfreundliche Parteiensystem ist eine der Hauptantriebskräfte der deutschen Sozialpolitik – zusammen mit der demokratischen Staatsverfassung, sozioökonomischen Rahmenbedingungen (insbesondere dem hohen Entwicklungsstand der Wirtschaft und der fortgeschrittenen Alterung der Bevölkerung), starken wohlfahrtsstaatlichen Traditionen, der verfassungsrechtlichen Verpflichtung auf das „soziale Staatsziel“ (Zacher 2013) und einer sicherheitsorientierten Wählerschaft. Infolge der in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten beträchtlich gestiegenen Zahl der Asylbewerber und Wirtschaftsflüchtlinge sind auch die migrationsbedingten Anforderungen an den Sozialstaat gewachsen. Sie belaufen sich kostenmäßig laut Bundesfinanzministerium im Jahr 2018 auf voraussichtlich 24 Milliarden Euro (Der Spiegel Nr. 37, 08.09.2018, S. 57).

Im Unterschied zum liberalen Wohlfahrtsstaat schützt die Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland nahezu alle abhängigen Erwerbstätigen sowie einen beachtlichen Teil der Selbstständigen und Landwirte. Ferner protegiert sie die große Mehrzahl der Angehörigen der versicherten Erwerbspersonen. Hinzu kommt der Sozialschutz für Asylbewerber und Wirtschaftsflüchtlinge.

Im internationalen Vergleich hält Deutschlands Sozialpolitik einen Rangplatz in der Oberschicht der Wohlfahrtsstaaten (Masuch et al. 2014; Schmidt 2012a; ILO 2017). Das gilt insbesondere für die Pro-Kopf-Leistungen der Sozialpolitik, für die Bruttosozialleistungsquote (Prozentanteil öffentlicher und gesetzlich festgelegter privater Sozialausgaben am Sozialprodukt), und mehr noch für die Nettosozialleistungsquote, die im Unterschied zu den Bruttosozialleistungen unter anderem die Wirkung der Steuerpolitik auf Art und Höhe der Sozialleistungen erfasst. Ferner ist die beträchtliche Verminderung von Armutsrisiken durch das Zusammenwirken von Sozialtransfers und Steuerpolitik zu bedenken. Für die öffentlichen (Brutto-) Sozialleistungen werden laut Socialbudget 2018 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales 996 Milliarden Euro oder 29,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes verausgabt (Datenstand 2018). Die öffentlichen Sozialleistungen finanzieren mittlerweile den überwiegenden Lebensunterhalt von schätzungsweise 40 Prozent der Wahlberechtigten im Lande.

Europäische Sozialpolitik

Ihrer Selbstbeschreibung zufolge hat die Europäische Union (EU) in der Sozialpolitik sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Doch im Unterschied zu den in großem Maß europäisierten wirtschafts- und geldpolitischen Feldern ist die Einwirkung der EU auf die nationale Sozialpolitik insgesamt eng begrenzt. Gewiss hat die EU vor allem mit regulativer Sozialpolitik und Instrumenten weicher Steuerung wie der Methode der offenen Koordination auf die nationalstaatliche Politik gewirkt. Doch in der redistributiven, auf Geldzahlungen basierenden Sozialpolitik bleibt sie schwach. Und gänzlich randständig ist sie bei sozialen Dienstleistungen. Schätzungen des Europäisierungsgrades der Sozialpolitik zufolge ist die Vergemeinschaftung der Sozialpolitik größtenteils niedriggradig geblieben, selten höhergradig (wie in der Antidiskrimierungspolitik) (Schmidt 2016).

Die Gründe der eng begrenzten Vergemeinschaftung der Sozialpolitik liegen teils in der EU, teils in den Mitgliedstaaten. Als Schranke gegen „mehr europäische Sozialpolitik“ wirkt die administrative und fiskalische Schwäche der EU. Ihr finanzieller Spielraum ist mit einer Staatsquote von rund ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes aller EU-Mitgliedstaaten schmal und die Administration ist nicht Sache der EU, sondern eine Angelegenheit der Mitgliedstaaten. Schranken gegen „mehr Europa in der Sozialpolitik“ liegen zudem in den EU-Mitgliedstaaten. Aufgrund unterschiedlichster Wirtschaftskraft und unterschiedlichster Belastbarkeit sind aufwändige europäische Sozialprogramme kaum konsensfähig. Zudem drängen mächtige nationalstaatliche Interessen auf den Vorrang der nationalen Sozialpolitik: die Interessen der nationalen Regierungen, die der nationalen Politiker und die der Wähler, die sich in Umfragen gegen die Vergemeinschaftung der Sozialpolitik aussprechen.

Stärken und Schwächen der Sozialpolitik in Deutschland

Besondere Stärken der deutschen Sozialpolitik sind der weitreichende Schutz zugunsten eines weiten Kreises von Anspruchsberechtigten gegen eine Vielzahl von individuell schwer versicherbarer Risiken (Alber 1989; Masuch et al. 2014). Der herrschenden Meinung zufolge hat die deutsche Sozialpolitik, der Kern des Sozialstaats, beträchtliche stabilisierenden Funktionen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik und kann auf die Akzeptanz bei der großen Masse der Bevölkerung zählen. Als Erfolg der Sozialpolitik zählt insgesamt auch die Übertragung des westdeutschen Sozialrechts auf die ostdeutschen Bundesländer, deren Bevölkerung zu Zeiten der DDR (1949 bis 1990) das Objekt einer „sozialistischen Sozialpolitik“ war, einer Spielart des kommunistischen Wohlfahrtsstaates (Schmidt und Ritter 2013).

Der sozialpolitische Erfolg hat jedoch eine Kehrseite – den „Preis der Einheit“ (G.A. Ritter): die einheitsbedingte Zuspitzung von Problemen, mit denen die Sozialpolitik schon vor der deutschen Einheit konfrontiert war, wie der hohe Finanzierungsaufwand für die soziale Sicherheit und die kostspielige Regulierung von Wirtschaft und Gesellschaft durch ehrgeizige Sozialauflagen. Kritisiert wird zudem die Kostenbelastung des Faktors Arbeit durch die hohen Sozialabgaben: Diese wirkten wie eine Wachstums- und Beschäftigungsbremse und seien eine Ursache der Arbeitslosigkeit, die seit langem eine offene Flanke des deutschen Sozialstaatsmodells ist. Hinzu kommen ungeplante Nebenfolgen des Finanzierungsaufwandes der Sozialpolitik: die Einengung der Finanzausstattung von Politikfeldern außerhalb des Sozialschutzes, beispielsweise der Bildungspolitik (Castles 2007). Schlussendlich ist mittlerweile eine brisante Mischung unübersehbar: eine Mischung aus Klagen über als zu niedrig eingestufte Sozialleistungen, Frustration über Einsparungen bei Sozialprogrammen und Unverständnis für milliardenschwere Sozialschutzmaßnahmen insbesondere zugunsten von jenen Einwanderern, die als Wirtschaftsflüchtlinge angesehen werden (Czymara und Schmidt-Catran 2016) und für die Deutschlands Wirtschaft und Sozialstaat als Migrationsmagnet wirkt.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Manfred G. Schmidt

Fussnoten