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Selbständigenverbände | bpb.de

Selbständigenverbände

Wolfgang Schroeder

Abgrenzung

Selbstständigenverbände (S.) ist eine Sammelkategorie für die Organisationsdomänen der Handwerker, Einzelhändler, der Bauern sowie der freien Berufe, wie der Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten. Laut Sozialstatistik beläuft sich die Zahl der Selbstständigen in D gegenwärtig auf über 4,1 Mio., das entspricht einem Anteil von rund 9,5 % der Erwerbstätigen (2016). Verbandliche Abgrenzungsprobleme bestehen insbesondere gegenüber den Unternehmerverbänden (U.). Eine in sich widerspruchsfreie Trennlinie zwischen diesen beiden Verbändetypen besteht nicht: Weder die Gegenüberstellung von personaler Mitgliedschaft in den S. und Betriebsmitgliedschaft in den U. ist immer zutreffend wie der Verband (ASU) (ehemals Arbeitsgemeinschaft Selbstständiger Unternehmer) zeigt, welcher zu den U. zählt, jedoch auch die personale Mitgliedschaft kennt. Aber auch die Gegenüberstellung von kleinem Betrieb, im S. organisiert, und größerem Betrieb im U. ist ungenau. Im Bereich der S. sind durchaus betriebliche Einheiten zu finden, die im Einzelfall deutlich größer sind als vergleichbare Einheiten in den U.

Innerhalb der S. bestehen Überschneidungen zwischen einzelnen Berufsgruppen. Da im Bereich der freien Berufe auch sozialversicherungspflichtige Selbstständige und Selbstständige anzutreffen sind, die unter die Kategorie der „Scheinselbständigen“ fallen, kann sogar gegenüber manchen Arbeitnehmerorganisationen ein Abgrenzungsproblem bestehen. Im Unterschied zu den U. ist der Gegensatz zwischen großen und kleinen Firmen meist schwächer ausgeprägt. Die Adressaten der S. sind das politische System, die Wirtschaft selbst (insbesondere die Kammern), die Gewerkschaften und die Gesellschaft. Unterscheiden kann man S., die direkt als Pressure-Group, Beratungs- und Serviceverband auftreten und solche, die sich auch um die Pflege der Beruflichkeit kümmern. Zentrale Strukturelemente der S. werden anhand des Zentralverbandes des deutschen Handwerks (ZDH), des Handelsverbandes Deutschland (HDE) und des Bundesverbandes der Freien Berufe (BFB) dargestellt. Die besonders gut organisierten Interessengruppen der Ärzte und der Bauern werden nicht weiter berücksichtigt.

Handwerk

Der größte S. ist der ZDH. Die Zahl der Handwerksbetriebe wird auf 999.954 (2017) mit über 5,5 Mio. Beschäftigten geschätzt. Im Unterschied zur Industrie sind unter dem Dach des ZDH Wirtschaftsverband, Arbeitgeberverband und Kammern zusammengefasst. Laut Gesetz zur Ordnung des Handwerks (HwO; kurz Handwerksordnung) baut die Handwerksorganisation auf einer fachlichen und einer überfachlichen Ebene auf. Der fachliche Zweig läuft von den Innungen über Landes- und Bundesinnungsverbände zum Unternehmerverband Deutsches Handwerk (UDH); der überfachliche von den Innungen über Kreishandwerkerschaften und Handwerkskammern zum Deutschen Handwerkskammertag (DHKT). Bis 1966 war das Verhältnis zwischen dem UDH und dem DHKT, die als eigenständige Dachverbände neben dem ZDH agierten, ungeklärt. Erst mit der Organisationsreform von 1966 wurde festgelegt, dass der Präsident des ZDH zugleich die Leitung der beiden anderen Verbände übernimmt und für alle drei Verbände wurde eine gemeinsame Geschäftsstelle eingerichtet.

Im ZDH, Sitz im Berliner Haus des Deutschen Handwerks, sind die 53 Handwerkskammern, 48 Fachverbände des Handwerks sowie bedeutende wirtschaftliche und sonstige Einrichtungen des Handwerks zusammengeschlossen. Während die Mitgliedschaft in den Innungen freiwillig ist, besteht bei den Kammern eine obligatorische Mitgliedschaft. Daraus resultiert auch, dass es vor allem die Kammern sind, die den ZDH finanzieren. In Brüssel unterhält der ZDH ein eigenes Büro. Darüber hinaus ist er Mitglied der Europäischen Union des Handwerks und der Klein- und Mittelbetriebe (UEAPME).

Die überfachlichen Kammern fördern die Interessen des Handwerks, sorgen für einen Interessenausgleich zwischen den einzelnen Handwerken und ihren Organisationen. Ihnen obliegt zudem die Rechtsaufsicht über die Handwerksinnungen und die Kreishandwerkerschaften. Als Körperschaft des öffentlichen Rechts führen Handwerkskammern die Handwerksrolle, in der sich selbstständige Handwerksmeister registrieren lassen müssen. Sie regeln die Berufsausbildung und sind in ihrem Kammerbezirk für das fachliche Prüfungswesen verantwortlich. Die 41 Zentralfachverbände des Handwerks sind die fachlichen Dachorganisationen der Innungen. Sie vertreten die spezifischen Interessen eines Handwerkszweigs und informieren über Produkte und Dienstleistungen der einzelnen Branchen. Fach- und Bundesinnungsverbände haben die Funktion von Arbeitgeberorganisationen und führen Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften.

Der ZDH dient der einheitlichen Willensbildung in allen grundsätzlichen Fragen der Handwerkspolitik. Gegenüber dem politischen System vertritt der Verband die Gesamtinteressen des Handwerks. Mit der 1953 eingeführten HwO besteht seither ein stabiler gesetzlicher Rahmen. Im historischen Vergleich spricht einiges dafür, dass der Einfluss der Handwerksverbände zurückgegangen ist: Während die Handwerksorganisationen nach innen noch immer relativ starke regulative Funktionen wahrnehmen können, ist ihr gesamtwirtschaftlicher Einfluss im Vergleich mit anderen Verbänden zurückgegangen. Ein Merkmal der Handwerksverbände im Vergleich zu anderen S. ist die hohe Bedeutung von Selbstregulierung und Bewahrung berufsständischer Traditionen.

Bundesverband der Freien Berufe (BFB)

Der 1949 gegründete BFB geht auf eine Initiative der westdeutschen Ärztekammern zurück, die bis auf den heutigen Tag einen maßgeblichen Einfluss auf dessen Verbandspolitik haben. Der wirtschaftliche Hintergrund der freien Berufe: Etwa jeder vierte Selbstständige in D ist mittlerweile als Freiberufler tätig. In 2016 gab es rund 1.382.000 Freiberufler. Die ca. 1,4 Mio. selbstständigen Freiberufler beschäftigen über 3,3 Mio. sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Rund 123.000 Personen befinden sich in einem Ausbildungsverhältnis (2016, Stichtag 01.01.2017).

Der BFB ist ein Dachverband, der in Landesverbände und Berufsgruppen gegliedert ist. Den nach wie vor größten Bereich besetzen zu ca. 30 % die Vertreter der Heilberufe – also Ärzte, Zahnmediziner, Tierärzte, Apotheker und Therapeuten aller Art (414.000 Mitglieder). Die zweitgrößte Gruppe mit 379.000 Mitgliedern (27 %) bilden die rechts-, wirtschafts- und steuerberatenden Berufe. Im Bereich der technischen Freien Berufe sind die Architekten und Ingenieure unter den 261.000 Mitgliedern (19 %) am stärksten vertreten. Die vierte Gruppe schließlich stellen die rund 328.000 Angehörigen (24 %) der Freien Kulturberufe (2016). Inhaltlich werden Serviceleistungen im Bereich des Steuer- und Berufsrechts, der Sozialpolitik und in Ausbildungsfragen angeboten. Mit Bezug auf ihre Rolle als Träger des dualen Ausbildungssystems ist es dem BFB auch gelungen, eine Mitwirkung in der Selbstverwaltung der Bundesagentur für Arbeit zu erreichen. Insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und zunehmender Fachkräfteengpässe werden ein flexibler Arbeitsmarkt und eine bessere Ausschöpfung inländischer Arbeitskräfteressourcen immer wichtiger. Der BFB setzt sich dabei für bessere Beschäftigungschancen und eine weitere Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen, älteren Arbeitnehmern, Migranten und Menschen mit Behinderungen ein. D und die Freien Berufe sind darüber hinaus aber auch auf qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen. Der Verband lässt sich als Service- und Öffentlichkeitsakteur sowie als institutionalisierter Gesprächskreis der freien Berufe charakterisieren. Besonders deutlich sind inhaltliche Übereinstimmungen mit den ärztlichen Standesorganisationen, die den Verband nach wie vor maßgeblich prägen.

Handelsverband Deutschland (HDE)

Der dominante Verband des Einzelhandels ist der Handelsverband Deutschland (HDE) (ehemals Hauptverband des Deutschen Einzelhandels), dessen Wurzeln in die Weimarer Republik zurückreichen. Zugleich ist er ein integrierter Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband. Die Spitzenorganisation des deutschen Einzelhandels ist zuständig für eine Branche mit rund 410.000 Betriebsstätten, von denen etwa 100.000 verbandlich organisiert sind (2018). Der Einzelhandel ist nach Industrie und Handwerk mit insgesamt 3 Mio. Beschäftigten der drittgrößte Wirtschaftszweig in D. Die Differenzen zwischen großen und kleinen Unternehmen spielen im HDE eine größere Rolle als in den anderen S. Während die großen Betriebe nahezu alle organisiert sind, nimmt der Organisationsgrad mit der Betriebsgröße drastisch ab. Gleichzeitig sind aber 98 % der Mitglieder dem Bereich KMU zuzurechnen. Im engen Dialog mit Herstellern, der Politik und der Öffentlichkeit vertritt der HDE die Interessen einer mittelständisch geprägten Branche, denn 98 Prozent der Handelsunternehmen beschäftigen unter 50 Mitarbeiter und erzielen maximal 10 Millionen Euro Umsatz im Jahr.

Der HDE (Sitz in BE) vertritt die Interessen des gesamten Einzelhandels gegenüber dem politischen System, den Gewerkschaften, anderen Wirtschaftsbereichen und der Öffentlichkeit. Als Mitglieder hat der HDE 8 Landesverbände, die sich in rund 60 Geschäftsstellen und 23 Bundesfachverbände untergliedern. Zudem stehen den Firmen die Zentralstelle für Berufsbildung im Handel, 8 Fachschulen und 20 Bildungszentren des deutschen Einzelhandels, 16 Versorgungswerke, 23 Ausschüsse und Arbeitskreise, die 7 Themenfelder aufteilen sowie Versicherungsvereine, Erfahrungsaustauschgruppen und Werbegemeinschaften zur Verfügung (2018).

Die Landesverbände des HDE sind zugleich Tarifparteien. Damit die Landesverbände in einer Tarifrunde nicht auseinanderdividiert werden, versucht der HDE mit seinem tarifpolitischen Beirat ein Gegengewicht zur zentralen Koordinierungspolitik der Gewerkschaft ver.di zu bilden. Vor allem in der heißen Phase von Tarifverhandlungen ist der HDE die Clearingstelle für die regionalen Verhandlungskommissionen, um zu verhindern, dass die regionalen Verhandlungskommissionen, die einmal vereinbarte Linie nicht verlassen.

Als Dachverband von Arbeitgeberverbänden ist der HDE Fach-Spitzenverband der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Er hat Sitz und Stimme in der sozialen Selbstverwaltung, angefangen bei der Bundesanstalt für Arbeit, über die Rentenversicherungsanstalten (Bund und Länder) bis zu den Allgemeinen Ortskrankenkassen. Zudem besitzt er ein Vertretungsrecht für seine Mitglieder vor den Arbeits- und Sozialgerichten.

Besondere Probleme der S.

Die Verbände der S. sind Gesprächspartner für staatliche Akteure, die Ausbildung und Existenzgründer fördern. Ein besonders wichtiges Thema der S. ist die Frage der betrieblichen Nachfolge, die seit einigen Jahren in den Unternehmen immensen Beratungsbedarf eröffnet. Zu den Mittelstandsvereinigungen und Selbstständigenfraktionen der Parteien gibt es zuweilen direkte personelle Verbindungen. Im Vergleich zu den U. ist der politisch-gesellschaftliche Einfluss der S. eher gering zu veranschlagen. So gelingt es ihnen nur selten, zum Sprachrohr der kleinen Betriebe gegen die Großen zu werden. Sieht man die S. jedoch auch als Teile einer netzwerkartigen Struktur, so kann ihnen eine wichtige Rolle bei der Selbstregulierung der Wirtschaft nicht abgesprochen werden.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Wolfgang Schroeder

Fussnoten