Der 1963 auf der Grundlage eines Bundesgesetzes geschaffene und schon deshalb herausgehobene Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) – in den Medien häufig als die „fünf Weisen“ apostrophiert – bildet das im Hinblick auf Stellung und öffentliche Resonanz prominenteste Beispiel wissenschaftlicher Politikberatung in D. Vor dem Hintergrund zunehmender Verteilungskämpfe erhofften sich die Protagonisten des Gesetzes, u. a. der damalige Bundeswirtschaftsminister Erhard, vor allem eine „Versachlichung“ der Einkommenspolitik, wenn die Tarifparteien dem öffentlichen Druck des Sachverstandes und der Autorität eines prominenten Wissenschaftlergremiums ausgesetzt würden, konnten dann aber auch die staatliche Wirtschaftspolitik der wissenschaftlichen Kritik nicht entziehen.
Aufgaben und Organisation
Entsprechend der Entstehungsgeschichte ist der SVR, im Gegensatz z. B. zum Council of Economic Advisors in den USA, kein Beratungsorgan der Regierung, sondern zielt auf alle Akteure: „Zur periodischen Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland und zur Erleichterung der Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie in der Öffentlichkeit wird ein Rat von unabhängigen Sachverständigen gebildet.“ (§ 1 Abs. 1). Die mehrfach betonte Unabhängigkeit wird durch verschiedene Regelungen untermauert. Die fünf Sachverständigen, die über besondere wirtschaftswissenschaftliche Kenntnisse und volkswirtschaftliche Erfahrungen verfügen müssen, dürfen weder Parlament, Regierung oder Verwaltung von Bund und Ländern angehören, noch Repräsentanten der Tarifparteien sein. Sie werden auf fünf Jahre (mit Möglichkeit der Wiederwahl) vom Bundespräsidenten berufen, wobei in einem Rotationssystem turnusmäßig jedes Jahr ein Mitglied ausscheidet. Die Berufung erfolgt allerdings auf Vorschlag der Bundesregierung, die vorher den SVR hören muss. Der SVR wählt seinen Vorsitzenden selbst, und die Aufgabe einer Geschäftsstelle wird vom Statistischen Bundesamt wahrgenommen.
Das wichtigste Instrument des SVR sind seine jeweils bis zum 15.11. vorzulegenden Jahresgutachten. Spätestens nach acht Wochen muss die Bundesregierung gegenüber den gesetzgebenden Körperschaften zu dem Jahresgutachten Stellung nehmen und ihre wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen darlegen. Dies geschieht im Rahmen des durch das Stabilitätsgesetz vorgeschriebenen Jahreswirtschaftsberichts, der im Mittelpunkt der parlamentarischen Diskussion der Wirtschaftspolitik steht. Auf Wunsch der Bundesregierung oder bei akuter Gefährdung gesamtwirtschaftlicher Ziele auf eigene Initiative legt der SVR Sondergutachten vor, wobei er für den Zeitpunkt der Veröffentlichung Einvernehmen mit dem Bundeswirtschaftsminister herstellen muss. Bei der Vorbereitung seiner Gutachten kann der SVR andere wirtschaftspolitische Akteure, insbesondere Verbandsvertreter, anhören, und von diesem Recht hat er regelmäßig Gebrauch gemacht. Die fachlich zuständigen Bundesminister und der Bundesbankpräsident haben einen gesetzlichen Anspruch, gehört zu werden.
Die weitgehende Unabhängigkeit des SVR war in Verbindung mit dem Rechtfertigungszwang der Regierung in der Literatur vereinzelt Anlass zu verfassungsrechtlichen Bedenken („unverantwortliche Nebenregierung“). Sowohl die Gesetzesberatung als auch verschiedene Bestimmungen des Gesetzes belegen allerdings, dass der Gesetzgeber eindeutig auf ein dezisionistisches Beratungsmodell gezielt hat, d. h., das Primat der Politik gegenüber der wissenschaftlichen Beratung sichern wollte. So werden die Ziele gesetzlich vorgegeben. Bei seiner Analyse der gesamtwirtschaftlichen Situation soll der SVR untersuchen, „wie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum gewährleistet werden können. In die Untersuchung sollen auch die Bildung und Verteilung von Einkommen und Vermögen einbezogen werden.“ (§ 2) Empfehlungen für bestimmte Maßnahmen sind nicht zulässig und Minderheiten innerhalb des SVR haben ein Recht auf Darstellung ihrer Position in den Gutachten.
Erfahrungen
Probleme ergaben sich insbesondere aus den unterschiedlichen, teilweise überhöhten Erwartungen an den SVR und seinem vor dem Hintergrund interpretationsbedürftiger Gesetzesbestimmungen keineswegs festgelegten Rollenverständnis.
Versucht man eine Gesamtbewertung des „Erfolges“ des SVR, so gilt, dass er sich als selbständiger wirtschaftspolitischer Akteur etabliert und als häufig unbequemer Mahner Gehör verschafft hat. Die kurzfristigen Wirkungen der SVR-Gutachten dürften, von spektakulären Einzelinitiativen wie z. B. der Konzertierten Aktion (→ Stabilitätsgesetz) abgesehen, eher gering einzuschätzen sein. Gerade zu politisch höchst umstrittenen Themen hat sich der SVR in Sondergutachten (z. B. „Zur Frage einer Währungsunion zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland“ 1990 und „Aufbruch zu einer neuen Klimapolitik“ 2019) und auf Bitten der Bundesregierung in „Expertisen“ (z. B. im Kontext der Föderalismusreform II zu wirksamen Grenzen der Staatsverschuldung 2007 sowie zu Herausforderungen des demografischen Wandels 2011) geäußert, teilweise mit externer Unterstützung und mit einem ablehnenden Minderheitsvotum. Für die Reaktion der anderen wirtschaftspolitischen Akteure ist typisch, dass die Gutachten selektiv als Munition im Meinungskampf genutzt werden, um möglichst den Eindruck zu erwecken, die eigene Position werde durch wissenschaftliche Autorität gestützt. Die von einigen SVR-Initiatoren gehegte Hoffnung auf eine Versachlichung der Verteilungskämpfe ist jedenfalls nicht in Erfüllung gegangen, obwohl bei der Ernennung der SVR-Mitglieder – durchgängig Professoren der Wirtschaftswissenschaft – darauf geachtet worden ist, dass möglichst jeweils ein Mitglied das besondere Vertrauen einerseits der Unternehmensverbände und andererseits der Gewerkschaften besaß. Insgesamt dürfte der SVR zutreffend als Exponent der vorherrschenden Meinung in der dt. Wirtschaftswissenschaft einzuschätzen sein.
Der Vorwurf mangelnder Repräsentanz des SVR aus der Sicht „linker“ Minderheitspositionen dürfte dazu beigetragen haben, dass sich 1975 mittels Selbstselektion eine „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ etabliert hat, die jährlich symbolträchtig jeweils zum 1. Mai ein Memorandum als eine Art Gegengutachten vorlegt (analog seit 1995 EuroMemo Group). Die „Memorandum-Gruppe“ erarbeitet ihre Ergebnisse in schwer einzuschätzenden offenen Arbeitsgruppen, und das „Memorandum“ wird jeweils von mehreren hundert Personen mit starkem Akzent im gewerkschaftlichen Umfeld unterstützt.
Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Uwe Andersen