Die Regierungserklärung (R.) als Absichtserklärung einer neu gebildeten Regierung hat eine lange Tradition, die bis in die Zeiten des liberalen Konstitutionalismus des 19. Jhs. zurückreicht. Versteht man sie noch allgemeiner als programmatische Eröffnung aus Anlass des Eintritts in ein öffentliches Amt oder eine bedeutende politische Funktion oder gar als richtungsweisende Rede anlässlich eines einschneidenden Ereignisses, so mag es Herkunftslinien geben, die weit über den Parlamentarismus hinaus bis in die Vor- und Frühzeiten des Politischen verweisen.
Eine neue und zusätzliche Bedeutung erhielt die traditionelle R. des (neu) gewählten Regierungschefs im Parlament, mit welcher dieser die politisch-programmatischen Leitlinien seiner Amtsperiode umriss und sich und sein Kabinett der parlamentarischen Kritik stellte, durch das gesteigerte Gewicht der → Parteien und die besonderen Bedingungen der Koalitionsregierung. Im Laufe der parlamentarischen Geschichte der BRD entwickelte sich die R. seit den frühen Adenauer-Kabinetten mehr und mehr zu einer Art öffentlicher Statuierung und Kodifizierung der zuvor ausgehandelten Koalitionsvereinbarungen: Die Regierungspartner legen sich durch die öffentlich-verpflichtende Form der Verkündung wechselseitig auf ihre Absprachen und Vereinbarungen fest. R.n verdeutlichen den Kompromissrahmen eines politischen Zweckbündnisses auf Zeit und bieten entsprechend dieser Bestimmung meist eine Mischung aus grundsätzlicher Positionsbestimmung und konkreter Lösungsbeschreibung zu ganz bestimmten Problemfeldern. Sie suchen kontroverse Fragen ebenso zu vermeiden wie allzu eindeutige Festlegungen im Detail. Nicht selten dienen sie auch der „Politikkosmetik“: der Selbstdarstellung und der prätentiösen Imagepflege durch rhetorisch-plakative Verdichtung („mehr Demokratie wagen“) oder der nachträglichen Rechtfertigung von beabsichtigten Vorhaben und Entscheidungen, die – als Koalitionskompromiss – oft nicht die lupenreine eigen Parteilinie widerspiegeln. Neben der maßnahmenahen mittelfristigen Zielorientierung der Politik spielt immer auch die symbolische Berücksichtigung von Publikumserwartungen eine wichtige Rolle.
Auch innerhalb einer Legislaturperiode hat die R., zumal unter der Bedingung von Koalitionsregierungen, an Bedeutung gewonnen: Ändern sich gewichtige Voraussetzungen im Rahmen der getroffenen Vereinbarungen, sodass politisch-programmatische Korrekturen unumgänglich werden, oder schieben sich anlassbedingt spezifische Agenden in den Vordergrund des öffentlichen Interesses (besonders etwa in der Außen- und Europapolitik, nicht selten aber auch in der Umwelt-, Rechts- und Wirtschaftspolitik), oder aber kehrt die Regierungsspitze (in der Regel der Kanzler und der Außenminister) von einer bedeutenden internationalen Besuchsreise oder einem europäischen Partnertreffen zurück, auf denen wichtige Vereinbarungen oder Weichenstellungen getroffen wurden, so dient die R., neben der Unterrichtung des Parlaments und der Öffentlichkeit, immer auch der sprachregelnden „Einschwörung“ der an der Koalitionsregierung beteiligten Parlamentsfraktionen.
Eher verwundern muss allerdings die Feststellung, dass trotz gravierender Veränderungen des medialen Umfeldes und der öffentlichen Wahrnehmung von Politik und Politikern während des letzten Halbjahrhunderts die Anzahl der R.n während einer Kanzlerschaft insgesamt und durchgängig von Adenauer zu Merkel nicht nennenswert zugenommen hat.
Neben der Antrittserklärung des neu gewählten Regierungschefs haben sich vor allem die periodischen R.n aus Anlass der jährlichen Haushaltsberatungen sowie der seit 1968 nach amerikanischem Vorbild eingeführte „Bericht zur Lage der Nation“ zu einem wichtigen Steuerungs- und Koordinationsinstrument der längst als „Normalfall“ etablierten Koalitionsregierung entwickelt. In der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle gibt der Regierungschef selbst für sein Kabinett die R. ab, in selteneren Fällen spricht auch der zuständige Ressortminister.
Die Deutung der R. als „konstitutiver Akt“ (H. Troßmann) bleibt – wohl ungewollt – einer durch die parlamentarische Praxis inzwischen überholten Vorstellung von → Gewaltenteilung verpflichtet. Gewiss enthält auch schon die bloße Kenntnisnahme der R. durch das Parlament immer ein Element der „Billigung“; dieser „Akt der Billigung“ ist jedoch keiner, den die regierungtragenden Mehrheitsfraktionen ihrer Regierung füglich verweigern könnten, da sie selbst, zumindest in Gestalt der parlamentarischen Führungsspitzen, an Beratung und Abstimmung der Erklärung intensiv beteiligt waren. Die Einschätzung, „das Parlament“ billige gewissermaßen die Erklärung der Regierung und ermächtige diese erst zum politischen Handeln, ist irreführend. In der R. wird die zwischen der Regierung und der parlamentarischen Führung der Mehrheitsfraktionen ausgehandelte Leitlinie der jeweiligen Politik publikumswirksam verkündet – und dabei nicht eben selten das Parlament in seinen Kontrollrechten düpiert.
Nach der Logik des organisierten Widerspiels von Regierung und → Opposition sollte im unmittelbaren Anschluss an die Erklärung des Regierungschefs bzw. des zuständigen Ressortministers für den (oder die) Führer der oppositionellen → Fraktion(en) oder den (die) jeweils zuständigen Oppositionssprecher die Möglichkeit der direkten Erwiderung und Kritik gegeben sein. In der Mehrzahl der Fälle findet unmittelbar nach der R. eine Parlamentsdebatte statt, die meist auch vom Vorsitzenden der stärksten Oppositionsfraktion eröffnet wird. Dies ist jedoch keineswegs immer der Fall, da eine solche Praxis sich überwiegend auf die ungeschriebenen Regeln eines fairen parlamentarischen Umgangsstils stützt und von der Geschäftsordnung des → Bundestags nicht ausdrücklich vorgeschrieben ist. Vor allem in den Jahren nach 1957, nach der absoluten → CDU-Mehrheit im Bundestag, wurde diese parlamentarische Gepflogenheit häufig missachtet. Seit Bildung der ersten Großen → Koalition, die in der Konsequenz zu einer Stärkung des parlamentarischen Selbstverständnisses gerade auf Seiten der Oppositionsfraktion(en) geführt hat, werden auch die oppositionellen Rechte, insbesondere in der Gepflogenheit der direkten Erwiderung, wieder deutlich stärker berücksichtigt. Dieser Gesichtspunkt der parlamentarischen Debatteneröffnung durch die stärkste Oppositionsfraktion spielte 2017 bei der anfänglichen Weigerung der SPD, wieder in die ungeliebte Große Koalition einzutreten, eine wichtige Rolle: man wolle verhindern, dass das oppositionelle Debatten(eröffnungs)privileg der AfD als stärkster Oppositionsfraktion zufiele.
Vorläufig muss offen bleiben, ob die Verbreiterung des Parteienspektrums im Deutschen Bundestag (gegenwärtig sieben Parteien und sechs Fraktionen) und den Länderparlamenten sowie das sich abzeichnende Ende der Dominanz der beiden großen Volksparteien CDU/CSU und SPD das Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition eher fördern oder beeinträchtigen wird.
Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Bernd Guggenberger