Unter dem → Grundgesetz stellt der Rechtsstaat (Rs.) eine verfassungsrechtliche Grundentscheidung dar, die dem gesamten Staatsaufbau als ein prägendes Leitprinzip vorgegeben ist. Zum Verständnis der heutigen Diskussion des Begriffes sind drei Ebenen zu unterscheiden: (1) der gemeineuropäische, heute in das EU-Recht übernommene Grundsatz einer generellen Rechtsgebundenheit von Herrschaftsmacht, (2) spezifische Vorprägungen aus der Verfassungsgeschichte und (3) die konkrete, normativ verbindliche Ausformulierung im jeweiligen nationalen und supranationalen Verfassungsrecht.
Das EU-Recht
Nach Art. 2 des EU-Vertrages bildet die Rechtsstaatlichkeit ein fundamentales Prinzip der Gemeinschaft, das sämtlichen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union eigen ist. Die Formel von der Rechtsstaatlichkeit findet sich im Recht der EU seit Verabschiedung der von einem EU-Konvent unter Vorsitz Roman Herzogs erarbeiteten Charta der → Grundrechte der Europäischen Union vom 07.12.2000 (Präambel, Satz 3). Während die französische Version der betreffenden Texte mit dem Begriff „l’État de droit“ eine aus dem Deutschen übernommene wörtliche Entsprechung bietet, weicht die in der englischen Version gewählte Formel der „rule of law“ in charakteristischer Weise vom Rechtsstaatsbegriff ab, so dass insoweit nur ein Äquivalent, jedoch keine vollinhaltliche Übereinstimmung gegeben ist.
Historische Entwicklung
Die Herrschaft des Rechts („rule of law“) stellt den älteren der beiden Begriffe dar. In Anknüpfung an mittelalterliche Rechtssätze und Praktiken wurde sie im 17. Jh. von Parlament und Richtern gegen die englischen Stuart-Könige durchgesetzt. Nach dieser Lehre darf Recht nicht willkürlich gesetzt oder gebrochen, sondern nur prozesshaft im Rahmen der bestehenden Kompetenzordnung fortgebildet werden. Der ordnungsgemäße Vorgang der Rechtsfindung („due process of law“) enthält hierzu aus den zuvor geregelten Konflikten heraus sowohl inhalts- als auch verfahrensbezogene Elemente. Dabei gilt für das bestehende, im Laufe der Zeit gewachsene Recht eine widerlegbare Vermutung seiner Vernünftigkeit (Kriele 1994). Vor dem prägenden Hintergrund des angelsächsischen Common Law steht die „rule of law“ damit im Zusammenhang mit der frühneuzeitlichen Herausbildung des Staates als Verfassungsstaat.
Der Rechtsstaatsbegriff ist jüngeren Ursprungs und nimmt Bezug auf den „modernen“ Staat mit einem ausdifferenzierten politischen Institutionengefüge und bürokratischem Verwaltungsapparat, wie er sich nach der Französischen Revolution herausgebildet hat. Im deutschen Frühliberalismus (Welcker, v. Aretin, v. Mohl) auf dem Boden des kontinentaleuropäischen Römischen Rechts entstanden, bezeichnete der Begriff zunächst im Sinne einer besonderen Gattung einen Staat, in welchem die Vernunft die Inhalte der staatlichen Rechtssätze bestimmt. Damit wird der Staat einerseits als eine dem – als objektiv erkennbar verstandenen – Gemeinwohl verpflichtete Einrichtung charakterisiert, andererseits inhaltlich auf die Gewährleistung von Freiheit, Sicherheit und Eigentum der Bürger festgelegt. Im Laufe des 19. Jhs. konkretisiert und verengt sich der Begriff im staatsrechtlichen Sinne auf den Grundsatz der Gesetzesbindung der Verwaltung in Verbindung mit deren gerichtlicher Kontrolle (Rechtsstaat im formellen Sinne). Erst nach der NS-Herrschaft ist der Rechtsstaatsbegriff durch eine Bezugnahme auf → Demokratie und Gerechtigkeit „im materiellen Sinne“ deutlich erweitert worden (Böckenförde 1992). Im Ergebnis gelten gesellschaftliche Konflikte unter der „rule of law“ als Chancen zur Fortentwicklung des Rechts, für den Rechtsstaat dagegen als Störungen des Systems hierarchisch geordneter Rechtssätze.
In scharfem Kontrast zu beiden Konzeptionen steht der Begriff der „sozialistischen Gesetzlichkeit“, wie er bis 1989 in der → DDR vertreten wurde. Denn nach Auffassung der SED war jegliches Recht – ohne einen ethischen Anspruch – der zum Gesetz erhobene Wille der herrschenden Klasse, im sozialistischen Staat also derjenige der Arbeiterklasse, formuliert von der Partei, festgelegt und durchgesetzt vom Staat. Angesichts des Kommunismus als vermeintlichem Ziel der Geschichte konnte dem Recht kein Eigenwert, sondern nur ein instrumenteller Charakter zukommen.
Normative Inhalte unter dem Grundgesetz
Das Grundgesetz weist zum Rs. keine zentral einschlägige Norm auf. Die ursprünglich einzige Erwähnung des „sozialen Rs.es im Sinne dieses Grundgesetzes“ in Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG setzt diesen begrifflich voraus und bezieht sich allein auf die Ebene der Länder. Die 1992 hinzugekommene Formulierung, nach der D bei der Entwicklung der EU mitwirke, die „rechtsstaatlichen […] Grundsätzen“ verpflichtet sei (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 (n.F.) GG), ist in ihrer normativen Aussage nicht eindeutig, inhaltlich aber auf die europäische Ebene bezogen, auf der sie heute mit den eingangs erwähnten Klauseln des EU-Rechts harmoniert. Der für D gemeinte Inhalt ist hingegen aus einer Vielzahl von Verfassungsbestimmungen abzuleiten. Eine klare Unterscheidung zwischen begriffsnotwendigen und zusätzlichen Elementen ist bei dieser Vorgehensweise nicht möglich. Dabei entspricht es der Bedeutung des Rechtsgrundsatzes, ihm auch Elemente des Begriffes „demokratischer Verfassungsstaat“ zuzuordnen.
Gewaltenteilung
Notwendige Voraussetzung für eine wirksame Rechtsbindung der Staatsgewalt ist deren institutionelle Ausdifferenzierung in Form der klassisch staatsrechtlich-horizontalen Gewaltenteilung. Die Verteilung der staatlichen Gewalt auf mehrere Letztinstanzen begründet Funktionen und Kompetenzen, wodurch das Recht der beliebigen Verfügbarkeit eines einzelnen Trägers der Staatsgewalt entzogen wird. Das Grundgesetz drückt dies in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 in einer älteren, konstitutionalistisch geprägten Form aus, wonach die Staatsgewalt „durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“ wird, soweit nicht die Wählerschaft – im Rahmen der Verfassungsordnung – selbst Entscheidungen trifft.
Grund- und Menschenrechte
Die zentrale rechtsstaatliche Inhaltsvorgabe bilden die im Grundgesetz niedergelegten Menschen-, Grund- und individuellen Prozessrechte. Mit der unbedingten Verpflichtung von Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung auf die Verwirklichung der Grundrechte definiert sich die Staatsgewalt als eine dem Schutze individueller Rechte dienende Gewalt (Art. 1 Abs. 3 GG). Hierdurch wird der Staatsbürger als Träger eigener Rechte anerkannt. Folglich stellt seine Beziehung zum Staat keine Untertanenbeziehung, sondern ein Rechtsverhältnis dar.
Rechtsbindung
Die Grundrechtsbindung wird erweitert und konkretisiert durch die abgestufte Verpflichtung der Gesetzgebung auf die Verfassung sowie von vollziehender und rechtsprechender Gewalt auf das geltende Recht (Art. 20 Abs. 3 GG), wobei über die allgemein zu respektierenden Zuständigkeitsvorschriften hinaus für Grundrechtseingriffe und Verfassungsänderungen besondere Bindungen gelten (Art. 19 Abs. 1–2, Art. 79 GG) und untergesetzliche Normen nur im Rahmen gesetzlicher Ermächtigungen zulässig sind (Art. 80 GG). Der hierdurch gesicherte Vorrang von Verfassung und Gesetz zielt auf die Durchsetzung rechtlicher Grundentscheidungen bis in einzelne Lebensbereiche hinein. Der damit bezweckten Unparteilichkeit staatlicher Gewalt, Willkürverhinderung sowie Vorhersehbarkeit und Verlässlichkeit des Rechts dienen weiterhin Bestimmtheitsanforderungen an gesetzliche Normen. Im Strafrecht setzt jede Verurteilung die Inkraftsetzung der Norm vor Begehung der Tat voraus (Art. 103 Abs. 2 GG); auf anderen Rechtsgebieten werden rückwirkende Normen durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes weitgehend ausgeschlossen.
Rechtsschutz
Prozessual wird die Rechtsbindung staatlicher Gewalt gesichert durch den in Art. 19 Abs. 4 GG angelegten umfassenden Rechtsschutz. Dieser Aspekt, der den Rs. auch als „Rechtswegestaat“ erscheinen lässt, wird einerseits institutionell konkretisiert durch die Bindung an den „gesetzlichen Richter“ (Art. 101 Abs. 1 GG) und die Unabhängigkeit der Richter (Art. 97 GG), andererseits prozessual ausgeformt durch den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), das Verbot mehrfacher Bestrafung in der gleichen Sache (Art. 103 Abs. 3 GG) sowie die unverzügliche richterliche Überprüfung einer Verhaftung und ein Verbot jeglicher Misshandlungen (Art. 104 GG). Hieraus leitet sich insgesamt die Verpflichtung auf ein faires Verfahren ab.
Weitere Aspekte
Weitere bedeutsame Elemente des Rs.es sind die Haftung für staatliches Unrecht (Art. 34 GG) sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Nach diesem gelten staatliche Maßnahmen nur dann als rechtens, wenn sie zur Zielerreichung (a) geeignet und (b) notwendig sind sowie (c) in der Zweck-Mittel-Relation – dem zuständigen Gericht – als angemessen erscheinen.
Rechtsstaat, Demokratie und Sozialstaat
Aus dem Zusammenspiel von Rechtsstaatlichkeit mit anderen verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen ergeben sich weitere Konsequenzen: In Verbindung mit dem → Sozialstaat garantiert der „soziale Rs.“ staatliche Sozialleistungen als subjektive Rechtsansprüche und verwehrt dem Staat sowohl einen kompletten Rückzug aus Kernbereichen sozialen Schutzes als auch wohlfahrtsstaatliche Bevormundungen. Aus Demokratiegebot und Rs. resultiert der „Vorbehalt des Gesetzes“ für grundrechtsrelevante Fragen, wobei die Abgrenzung der vorbehaltenen Bereiche jenseits der Eingriffe in Unversehrtheit, Freiheit und Eigentum einer Person unscharf wird.
Rechtspolitik
Bildet der Rs. eine auf Stabilität und Kontinuität gerichtete Komponente des Staatsaufbaus, bezeichnet die Rechtspolitik (Rp.) die dynamische Fortentwicklung des Rechts. Da dem Recht neben dem Geld für das Gemeinwesen allumfassende Bedeutung als Steuerungsmittel zukommt, ist auch der Gegenstandsbereich der Rp. prinzipiell allumfassend. In einem engeren Sinne wird von Rp. insbesondere mit Blick auf Regelungsbereiche gesprochen, die inhaltlich nicht oder nicht allein in die Zuständigkeit anderer Ressorts fallen. Hierzu zählen neben Fragen hohen ethischen Gehalts (z. B. Organspende) und dem Verfassungsrecht insbesondere die Einrichtung von → Gerichten und die Gerichtsverfassung, das Straf- und Zivilrecht mit jeweiligem Prozess-, Vollzugs- bzw. Vollstreckungsrecht sowie die Regelung des Verwaltungsverfahrens. Die betreffenden Regelungskompetenzen liegen überwiegend beim Bund, zum Teil bei den Ländern.
Wiedervereinigung und Föderalismusreform
Im Zuge der deutschen Vereinigungspolitik lag die fundamentale rechtspolitische Herausforderung in der Herstellung rechtsstaatlicher Verhältnisse für D als Ganzes. Hierzu zählte die Überleitung, Entschädigung oder Verwerfung bestehender Rechtsansprüche ebenso wie der Aufbau von Gerichten und Staatsanwaltschaften in den damals neugebildeten → Bundesländern und die Aus- und Fortbildung öffentlich Bediensteter im Sinne der inhaltlichen und formalen Anforderungen der nun gesamtdeutschen Rechtsordnung. Die Versuche einer justiziellen Aufarbeitung der realsozialistischen Diktatur blieben hingegen angesichts ungelöster rechtstheoretischer Probleme weitgehend unbefriedigend.
Nachfolgend wurden während der 16. Wahlperiode des Bundestages im Rahmen der Föderalismusreform Neuordnungen der Regelungskompetenzen zwischen Bund und Ländern vorgenommen. Dabei sind einzelne Kompetenzen aus der Aufzählung der „konkurrierenden“ Gesetzgebungskompetenzen des Bundes gestrichen und dessen Rahmengesetzgebungskompetenz 1994 reduziert und 2006 aufgehoben worden.
Straf-, Polizei- und Zivilrecht
Aus dem Strafrecht haben seit 1990 Themen wie Geldwäsche, das Abtreibungsstrafrecht einschließlich des zugehörigen Werbeverbots, „Stalking“, aber auch die Debatten um eine Erweiterung der Strafbarkeit von Korruption und Doping im Sport oder der Embryonenschutz und das Gentechnikgesetz öffentliche Aufmerksamkeit gefunden. Polizei- und strafprozessrechtlich sind unter dem Eindruck von organisierter Kriminalität und internationalem Terrorismus verschiedene Verfahren zur Prävention und Aufklärung von Verbrechen wie etwa die „Rasterfahndung“, Maßnahmen zur Identitätsfeststellung oder zur Überwachung der Mobil- und Online-Kommunikation sowie die Speicherung erhobener Daten diskutiert worden. Kontroversen haben auch gesetzliche Regelungen über Absprachen im Strafprozess ausgelöst. Zum Strafvollzug sind seine landesgesetzliche Ausgestaltung unter Berücksichtigung jugendlicher Delinquenten sowie die Sicherungsverwahrung für potenzielle Wiederholungstäter thematisiert worden.
Zivilrechtlich hat 2001 die rot-grüne → Koalition zu Schuldrechtsreform und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften Zeichen zu setzen versucht; seit 2017 ist der Begriff der Ehe im Unterschied zu dem jahrhundertelang tradierten Verständnis gesetzlich geschlechtsunabhängig formuliert (§ 1353 Abs. 1 Satz 1 BGB). Aufgrund einer Verfassungsgerichtsentscheidung (1 BvR 2019/16 vom 10.10.2017) hat die traditionelle Ausschließlichkeit weiblicher oder männlicher Geschlechtszuordnung mit einer dritten Kategorie („divers“) neugeregelt werden müssen.
Im Zivilprozessrecht sind Streitwerte geändert und Güteverhandlungen eingeführt worden. Weiterhin sind zum 01.11.2018 zwecks effektiven Verbraucherschutzes Musterfeststellungsklagen als Verbandsklagen in das deutsche Recht eingeführt worden. Inhaltlich sind über „Dieselskandal“ und Meeresverschmutzung Fragen der Ursachenzuschreibung, Entschädigung und Einschränkung der Herstellung von und dem Handel mit einzelnen Produkten aufgeworfen worden. Im Arbeitsrecht hat der Datenschutz für Beschäftigte, im Vollstreckungsrecht eine Privatisierung des Gerichtsvollzieherwesens Initiativen und Debatten ausgelöst.
Europäische Integration und internationale Problemlagen
Im Maastrichter Vertrag 1992 als „Dritte Säule“ der Europäischen Union eingeführt, hat sich die Innen- und Rp. zu einem weiteren Bereich teilweise koordinierter und vergemeinschafteter Politik entwickelt (Titel V, insbes. Art. 67 AEUV). Zu den inhaltlichen Innovationen zählen Kaufrecht und europäischer Haftbefehl. Die Vereinheitlichung des europäischen Rechtsraumes wird vielfältig vorangetrieben, wobei die Datenschutz-Grundverordnung der Europäischen Union (Verordnung (EU) 2016/679) eine besonders weitreichende Sichtbarkeit erreicht hat. Institutionell dient das 2007 eingerichtete Bundesamt für Justiz als internationale Kontaktstelle.
Teils auf europäischer, teils auf nationaler Ebene zu regeln sind Fragen, die sich aus der Zuwanderung von Menschen aus Drittstaaten ergeben. Insoweit sind Aufenthalts- und Einbürgerungsrecht sowie Anspruchsgrundlagen sozialer Leistungen zu Diskussionsgegenständen geworden. Mit der Intensivierung der europäischen Integration sind weiterhin Fragen der Gleichbehandlung von Unternehmen im Steuerrecht aktuell geworden.
Akteursbezogenes Fazit
Akteursbezogen ist für das Feld der Rp. eine große Anzahl von Kompetenz- und Handlungsträgern aus dem Bereich organisierter Staatlichkeit zu berücksichtigen. Dabei treten neben den zuständigen Ressorts in Bund und Ländern sowie Rechtspolitikern aus Juristenvereinigungen (insbesondere dem Deutschen Juristentag und dem Deutschen Verkehrsgerichtstag), → Parteien und → Fraktionen auch → Gerichte nicht nur als „Vetospieler“, sondern auch als Anreger und Inhaber eigener Regelungskompetenz bei offenen und strittigen Fragen in Erscheinung. Verbindliche Vorgaben und Impulse gehen darüber hinaus von internationalen Organisationen und vor allem von den Organen der EU aus.
Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Jürgen Plöhn