Begriffliche Einordnung
Der Prozess der Sozialisation ist zunächst ein Lern- und Entwicklungsprozess und kann aus zwei Perspektiven betrachtet werden: So wird darunter einerseits das Befähigen eines Menschen zum Leben in einer sozialen Gruppe nach bestimmten gesellschaftlichen Regeln verstanden. Dabei geht es darum, das Individuum in eine soziale Ordnung zu integrieren. Demnach wird das Ziel angestrebt, Menschen die für die jeweilige Gesellschaft zentralen Orientierungen, Werte, Normen und Handlungsweisen näher zu bringen. Andererseits geht es darum, dass Individuen durch die eigenen Handlungen selbst zu ihrer Sozialisation beitragen. Damit beschreibt Sozialisation die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit als reziproken Prozess, bei dem das Individuum und die gesellschaftliche Umwelt in gegenseitiger Abhängigkeit stehen. Durch ihr wechselseitig aufeinander abgestimmtes Verhalten tragen die einzelnen Individuen letztlich zur Festigung und Fortentwicklung einer sozialen Ordnung bei.
Der Begriff der Politischen Sozialisation (PS) wurde definitorisch Ende der 1950er durch Herbert Hyman geprägt und fokussierte zunächst auf psychologische Aspekte. PS stellt einen Teilbereich der Sozialisation dar, der die Vermittlung und die Verinnerlichung von explizit politischen Werten, Normen und Handlungsweisen umfasst. Das Individuum entwickelt dabei ein politisches Bewusstsein, politische Positionen sowie ein individuelles politisches Verhalten und wird damit letztlich Mitglied einer politischen Gemeinschaft mit ihrer spezifischen politischen Kultur. Diese Vermittlung von Bürgerorientierungen umfasst die Aspekte politische Eigenständigkeit, politisches Urteilsvermögen, Gemeinsinn und Toleranz.
Historische und theoretische Betrachtung
Die Entstehung des Begriffes der Sozialisation geht auf Durkheims (1907) Verständnis von der Prägung einer Person durch die jeweilige Gesellschaft und ihre Lebensbedingungen zurück. Dabei basiert die Sozialisationstheorie auf Modellen zweier großer Theoriebereiche; der Psychologie und der Soziologie. Unterschiedliche, vor allem lerntheoretische Zugänge wurden in diesem Zuge formuliert. So spielten in diesem Zusammenhang psychologische Konzepte wie z. B. die Theorie der kognitiven und moralischen Entwicklung nach Kohlberg (1958), Eriksons psycho-soziale Entwicklungstheorie (1959) sowie der Ansatz der Entwicklungsaufgaben nach Havighurst (1972) eine Rolle. Aus der theoretischen Perspektive nach Kohlberg (1958) wird davon ausgegangen, dass einer politischen Teilhabe das Verständnis von Recht, Gerechtigkeit und damit Moral vorausgeht. Kohlberg sieht diese moralische Entwicklung als lebenslangen Prozess an, bei dem stets zwischen moralischen Werten und Handlungsweisen abgewogen wird. Die psycho-soziale Entwicklungstheorie nach Erikson (1959) beschreibt, dass Menschen in ihrem Leben acht Entwicklungsstufen durchlaufen, die jeweils mit bestimmten Krisen und Konflikten einhergehen. Diese müssen die Individuen einzeln meistern, bevor sie in die nachfolgende Stufe übergehen können. In ähnlicher Weise entwickelte Havighurst (1972) das Konzept der Entwicklungsaufgaben, bei dem es ebenfalls um die zentrale Entwicklungsaufgabe der Integration in das politische Leben einer Zivilgesellschaft geht. Hier wird das Individuum explizit als aktiv und selbststeuernd begriffen sowie die besondere Rolle der politischen Partizipation herausgestellt.
Aus soziologischer Perspektive wurde der Gesellschaft eine größere Aufmerksamkeit zugewendet und davon ausgegangen, dass soziale Gruppen Sozialisationsprozesse normativ steuern und auf das Individuum einwirken. Aktuelle Sozialisationstheorien sind interdisziplinärer aufgestellt und betrachten Gesellschaft und Individuum in einem reziproken Prozess der Einflussnahme. Zu unterscheiden sind soziologische Basisansätze, wie die Systemtheorien (u. a. Luhmann, Parsons), die Handlungstheorien (u. a. Geulen, Mead) und die Gesellschaftstheorien (u. a. Beck, Habermas).
Dimensionen und Kategorisierungen
Beim Prozess der PS wird häufig zwischen der primären, der sekundären und der tertiären Sozialisationsphase unterschieden. Die primäre Sozialisation findet in den ersten Lebensjahren statt und bezieht sich auf den engen Familienkontext. In diesem Lebensabschnitt erhalten Kinder eine Orientierung hinsichtlich grundsätzlicher gesellschaftlicher sowie kultureller Normen und Werte. In dieser Phase werden eher indirekt-beiläufig als gezielt Dispositionen geformt und Weichen für spätere Einstellungen sowie Haltungen gelegt. Das Erlernen latenter politischer Umgangsformen und Werte steht hier im Fokus. Die sekundäre Sozialisation schließt an diese Phase an und erstreckt sich über die gesamte Jugendphase, in der die Individuen auf unterschiedliche Rollen des Erwachsenenlebens vorbereitet werden. Weitere Sozialisationsinstanzen (Peers, Schule, politische Parteien) bekommen Relevanz und prägen eine explizit politische Sozialisationspassage. Diese Altersspanne ist besonders relevant, da sich zwischen dem 12. und 16. Lebensjahr kognitive Fähigkeiten entwickeln, die eine Auseinandersetzung mit politischen Sachverhalten und eine Entfaltung eigener politischer Positionen ermöglichen. Entsprechend erfolgt in dieser Phase das Vermitteln und Verinnerlichen von manifest expliziten politischen Inhalten im Rahmen des schulischen Politikunterrichts. Ebenso finden sich in dieser Phase Gelegenheiten für latentes und implizites politisches Wissen (politische Abendbrotgespräche, partizipatives Demokratielernen im Schulwesen).
Unter der tertiären Sozialisation wird die Altersphase im Erwachsenenalter subsummiert, in der sich politische Einstellungen aufgrund von Erfahrungen mit politischen Handlungen festigen. Diese Phase ist geprägt durch lebenslanges Anpassen und Integrieren in soziale Gefüge, sowie dem neuen Lernen von Verhaltensweisen, Denkmustern oder Einstellungen. Obwohl die wesentlichen Einflüsse in den ersten beiden Phasen stattfinden, prägen im Verlauf des Lebens weitere einschneidende Erlebnisse (politischer Umbruch, wirtschaftliche Nöte, sozialer und gesellschaftlicher Wandel) die PS eines Menschen. Kevenhörster weist im Kontext der PS auf zwei wesentliche Argumentationslinien hin. So sieht er in der Integration jedes Einzelnen in die politische Kultur mitsamt der elementaren Werte, Normen und Handlungsmaximen die Stabilität eines politischen Systems gewährleistet. Gleichzeitig stellt er die große Bedeutung der politischen Einflussnahme jedes Einzelnen für die Innovationsfähigkeit eines politischen Systems heraus (Kevenhörster 2008, S. 75).
Forschungsstand und Ausblick
Die eher empirisch geprägte Forschung zur PS widmet sich vorwiegend den Verflechtungen und Zusammenhängen zwischen Individuum, Gesellschaft und politischem System. Es werden somit Forschungsfragen gestellt, in denen es darum geht, wer, wann, was, von wem, unter welchen Bedingungen und mit welchen Ergebnissen lernt. Damit geht es konkret in unterschiedlichen Kombinationen um die Sozialisationssubjekte (z. B. Jugendliche), die Entwicklungsphasen (z. B. Jugend), die politischen Inhalte (z. B. politische Effektivität) oder die Sozialisationsinstanzen (z. B. Eltern). Dabei stehen zwei Aspekte besonders im Vordergrund: Erstens geht es um die Frage, in welchem Alter und damit in welcher Entwicklungsphase PS am wirksamsten ist. Zweitens stehen die Relevanz sowie die gegenseitige Beeinflussung der unterschiedlichen Sozialisationsinstanzen im Fokus. Das Forschungsgebiet hat zudem enge Verbindungen zu benachbarten Disziplinen und Forschungsrichtungen, wie der Politischen Kultur, der Politischen Bildung, der Politischen Psychologie, der Mediensozialisationsforschung sowie der Jugendforschung.
Insgesamt besteht in der heutigen Sozialisationsforschung Konsens darüber, dass der lebensumspannende Sozialisationsprozess im Zusammenhang mit zwischenmenschlichen Interaktionen entsteht und der Mensch dabei aktiv seine Umwelt gestaltet. Befunde zeigen, dass sich die Sozialisationseinflüsse in der Jugend mit zunehmendem Alter abschwächen. Dies lässt darauf schließen, dass mit Ende der Jugendphase bestimmte politische Einstellungen und Haltungen gefestigt wurden. Ebenso wirken sich Veränderungen in den familiären Erziehungsstilen auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen aus. Der Wegfall von autoritären Stilen hin zu mehr Selbstverantwortung und Mitbestimmung von Kindern führt beispielsweise dazu, dass Kinder und Jugendliche früh eigenständig werden, sich aber zeitgleich einem Erwartungsdruck ausgesetzt sehen. Deutlich wird dabei die Rolle der Eltern, die den Grad der Politisierung vorleben und an die Kinder weitergeben. Im Kontext Schule sind zwei Befunde relevant: So wird deutlich, dass obwohl explizite politische Prägung mehr Gewicht einnimmt, dieser politischen Sozialisationsinstanz wenig Einfluss im Hinblick auf eine politische Aktivierung zugesprochen wird. Vielmehr belegen Studien, dass sich latente politische Sozialisationsprozesse in Grundschulen (z. B. gemeinsame Entscheidungsfindung, Klassensprecherwahl) positiv auf die kindlichen Sozialkompetenzen auswirken sowie die Moralentwicklung befördern. Aus medienwissenschaftlicher Perspektive lässt sich festhalten, dass Onlinemedien zwar einen zunehmenden Einfluss im Kontext der politischen Sozialisation erhalten, diesen jedoch kein grundsätzliches Mobilisierungspotenzial zugesprochen werden kann. Vielmehr verstärken sich Strukturen der analogen Welt, sodass lediglich bereits politisch interessierte und engagierte Jugendliche durch mediale Inhalte zusätzlich politisch sozialisiert werden.
Im internationalen Vergleich weisen deutsche Jugendliche ein unterdurchschnittliches politisches Interesse und weniger ausgeprägte Beteiligung auf. Dabei lässt sich feststellen, dass andere Länder positive Effekte diskursiver und partizipativer Unterrichtsmethoden auf die PS der Jugendlichen verzeichnen. Handlungsorientierte Aktivitäten, praktisches Erleben von Demokratie und Partizipation wirken sich demnach effektiver auf die PS aus als die alleinige Wissensvermittlung. Weiterhin wird deutlich, dass politische Partizipation und die Entwicklung politischer Einstellungen, Werte und Normen sich wechselseitig bedingen. Entscheidend ist dabei der Befund, dass aus der erlebten Partizipationserfahrung häufig ein gewisser Grad an Politisierung und Politischer Bildung entsteht. Darin wird deutlich, welches Wirkungspotenzial in der politischen Aktivität liegt und wie unterschwellig und unintendiert sich PS vor allem im Jugendalter entfalten kann (Rippl et al. 2015, S. 76–79).
Mit Blick auf die aktuelle Shell Jugendstudie 2019 werden die Potenziale für eine nachhaltige PS durch sozial-politische Bewegungen wie Fridays For Future untermauert. So verändern einschneidende sozialisierende Ereignisse die Prioritäten und die Wahrnehmung politischer Handlungsoptionen. Das Problemfeld der Umweltverschmutzung tritt nach mehr als zwanzig Jahren Shell Jugendstudie für Jugendliche erstmalig wieder an die erste Stelle der besorgniserregenden Gefahren (Schneekloth und Albert 2019, S. 47–101).
In Zukunft wird es noch stärker darum gehen, die unterschiedlichen Einflüsse der sich stetig und mit hoher Geschwindigkeit wandelnden Gesellschaft auf die politischen Sozialisationsprozesse einer Gesellschaft zu verstehen. In diesem Zuge werden die Herausforderungen an junge Menschen an Komplexität zunehmen. Denn beim Wechselspiel aus Identitätsfindung und Einpassung in die Gesellschaft sehen sich diese vielfältigen Lebensentwürfen, wählbaren Wertekombinationen sowie hoch getakteten politischen Umbrüchen ausgesetzt. Wie bereits herausgearbeitet, hängt die Integrations- und Innovationsstärke einer Gesellschaft in hohem Maße davon ab, wie die soziale Ordnung von der nachwachsenden Generation weitergeschrieben wird. Daher wird die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den sich verändernden Einflussfaktoren wie familiärer Strukturen, Medien, technologischen Entwicklungen und den politisch-sozialen Veränderungen eine kontinuierliche Aufgabe des Forschungsfeldes bleiben, um Politische Sozialisation auf individueller und gesellschaftlicher Ebene zu erfassen.
Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Anna Soßdorf