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Politische Bildung | bpb.de

Politische Bildung

Peter Massing

Begriffe

Politische Bildung (PB) ist die Sammelbezeichnung für alle bewusst geplanten und organisierten, kontinuierlichen und zielgerichteten Maßnahmen von Bildungseinrichtungen, um Jugendliche und Erwachsene mit den zur Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben notwendigen Voraussetzungen auszustatten. PB findet sowohl in der Schule, im Unterricht bestimmter Fächer, als Unterrichtsprinzip oder in Bildungsprozessen außerschulischer Institutionen statt. So wichtig die außerschulische pB auch sein mag, der Kern der theoretischen Diskussion um Grundlagen, Ziele, Konzeptionen und Rechtfertigungen pB beschränkt sich im Wesentlichen auf die pB in der Schule und auf die entsprechenden Unterrichtsfächer. PB in der Schule steht daher auch im Mittelpunkt der weiteren Ausführungen. Durch diese Eingrenzung ist allerdings eine inhaltliche Bestimmung des Begriffs noch nicht geleistet. Versucht man in der Vielzahl der unterschiedlichen Positionen einen gemeinsamen begrifflichen Kern zu erkennen, erweist es sich als hilfreich, zunächst nach den gesellschaftlichen Bedingungen zu fragen, die zur Herausbildung einer eigenständigen pB in der Schule geführt haben, und nach den Funktionen dieser pB für das politische System. Die Entstehungsbedingungen pB in der Schule sind in einem engen Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Entwicklungs- und Modernisierungsprozess zu sehen. Die Entwicklung komplexer politischer und wirtschaftlicher Strukturen im Zuge der Industrialisierung, der Urbanisierung, der zunehmenden politischen Mobilisierung und der Ausweitung individueller und kollektiver politischer Beteiligungsmöglichkeiten hatte auch die Ausdifferenzierung und Institutionalisierung einer spezifischen pB zur Folge. „Je mehr die Bürger von politischen Entscheidungen betroffen und in ihrer Existenz von politischen Entscheidungen abhängig wurden, je mehr politische Prozesse auch von den Bürgern neue Kenntnisse, Veränderungen von Einstellungen und Verhaltensweisen fordern und je mehr die Stabilität der politischen Strukturen von der Legitimation der politischen Ordnung durch die Bürger abhängig wird, desto wahrscheinlicher wird die Institutionalisierung politischer Bildung, die Vermittlung spezifischer Kenntnisse und normativer Orientierungen im allgemeinen Bildungssystem“ (Behrmann 1972, S. 127 f.). Aus diesem Entstehungszusammenhang ergibt sich eine zentrale Funktion pB, die systematische Vermittlung von Kenntnissen über das bestehende oder angestrebte politische System sowie seine Rechtfertigung. In dieser Funktion pB, politisches Wissen zu vermitteln und politische Legitimation herzustellen, liegt der gemeinsame Kern, den pB trotz ihrer begrifflichen Vielfalt immer enthält. Die Vermittlung von Kenntnissen über das politische System kann in Demokratien jedoch nicht wertfrei erfolgen, sondern steht immer in Verbindung mit bestimmten politischen Zielen. Der Verlauf der Demokratisierung, die Ausdehnung der politischen Mitbestimmung erst auf einen großen Teil der Bürgerinnen und Bürger, schließlich auf alle, verlangte Autonomie und politische Mündigkeit. Somit kann man unter pB die systematische Vermittlung von Kenntnissen über das demokratische politische System verstehen mit dem Ziel, autonome und mündige Bürger zu erziehen.

Innerhalb dieser allgemeinen Beschreibung des Entstehungszusammenhangs, der Funktionen und der Ziele pB sind sehr unterschiedliche Positionen und Konzeptionen pB möglich und legitim. PB und demokratisches System hängen eng zusammen, und in einer pluralistischen Demokratie, die unterschiedliche Interessen zulässt, entstehen einerseits unterschiedliche Entwürfe zur pB, andererseits sind sie Gegenstand wissenschaftlicher und politischer Konflikte und Kontroversen. Bei der Entwicklung der pB wird neben der innerwissenschaftlichen Diskussion auch immer das Spannungsverhältnis sichtbar, das sich ausdrückt in den teils komplementären, zum großen Teil aber auch kontroversen Beziehungen zwischen bildungspolitischen Programmen des Staates und theoretisch-didaktischen Entwürfen der pB. Jede Darstellung der Entwicklung der pB in der BRD nach 1945 und im vereinten D nach 1990 ist daher immer auch zu sehen vor dem Hintergrund, wie die Forderung begründet wurde, die schulische pB in den Dienst wechselnder Ziele und Aufgaben der Politik zu stellen, welche Wege der Staat dabei beschritt und ob die Theorie und Didaktik der pB staatliche Ansprüche aufgegriffen, angenommen, weitergeführt oder abgewehrt und überwunden hat. Die Bedeutung pB für die Demokratie nahm nach dem Fall der Mauer und nach der Vereinigung Ds tendenziell zu. Aktuell sind es vor allem Prozesse der Globalisierung, durch die die Demokratie in eine grundlegende Reflexion ihrer sozialen, sachlichen, zeitlichen und räumlichen Bestandsbedingungen und Bestandsvoraussetzungen hineingezogen wird und durch die sich Fragen nach den Aufgaben und Funktionen pB neu stellen.

Vor diesem Hintergrund ist es hilfreich, sich im kritischen Rückblick die unterschiedlichen Konzeptionen der pB zu vergegenwärtigen und die wichtigsten Konfliktlinien der politischen und wissenschaftlichen Diskussion kurz nachzuzeichnen. Eine chronologische Phaseneinteilung der pB in der BRD, orientiert an zentralen Kategorien, ergibt folgendes Bild.

Konzeptionen und Kontroversen

Erziehung zur Demokratie (Reeducation)

Die Entwicklung der pB nach 1945 wurde in erster Linie bestimmt durch die Umerziehungspolitik der Alliierten. Vor allem die amerikanische Umerziehungspolitik (Reeducation) beeinflusste die Diskussion um die pB in D. Für die Amerikaner war die Erziehung das einzige und beste Werkzeug, „um noch im gegenwärtigen Geschlecht in D die Demokratie“ zu erreichen. Dabei wurde unter Demokratie nicht nur eine Regierungsform, sondern vor allem eine Lebensform verstanden, die bis ins Einzelne gelehrt werden müsse.

Partnerschaftspädagogik und Erneuerung der staatsbürgerlichen Erziehung

Nach der Gründung der BRD wurde die PB vor allem von zwei Konzeptionen geprägt. Von der 1951 veröffentlichten Schrift Friedrich Oetingers (Pseudonym für T. Wilhelm) „Wendepunkt der politischen Erziehung“, in der der Autor den Anspruch erhob, „eine neue Theorie der politischen Erziehung“ zu entwerfen. PB dürfe nicht länger Erziehung zum Staat oder zu einer bestimmten Staatsform sein, sondern Erziehung zu den Faktoren, die das Funktionieren der Demokratie bedingen. Verständigung, Solidarität, der Mensch als Partner, menschliche Kooperation seien wesentliche Elemente der politischen Erziehung. Die zweite Konzeption entwarf in Auseinandersetzung mit Oetinger T. Litt, der schon die Staatsbürgerkunde der Weimarer Republik stark beeinflusst hatte. Litt warf der Partnerschaftserziehung vor, dass sie den Begriff des Politischen ins Soziale, ja allgemein Menschliche verflüssige. Sie blende den Staat, der allein den Frieden garantieren könne, ebenso aus wie das Phänomen des politischen Kampfes.

Grundlegende Einsichten als Ziel politischer Bildung

Ende der 1950er-Jahre kam es zu einer Neuorientierung der pB, die als „didaktische Wende“ bezeichnet wird. Im Vordergrund stand die Frage, wie die pB dazu beitragen könne, dass Bürgerinnen und Bürger aus demokratischen Grundüberzeugungen heraus denken, urteilen und handeln. Probleme der didaktischen Erschließung und die Vermittlung politischer Grundeinsichten rückten dadurch stärker in den Blick. Diese „didaktische Wende“ in der politischen Bildung fand ihren unmittelbarsten Ausdruck in dem Buch von K. G. Fischer, K. Herrmann, H. Mahrenholz „Der politische Unterricht“ (1960). Das Ziel des politischen Unterrichts sollte danach sein, „elementare politische Einsichten zu wecken und derart verständlich bewusst zu machen, dass sie als Maßstab zukünftiger politischer Meinungs- und Willensbildung und als Grundlage politisch-vernünftigen Handelns des Staatsbürgers dienen“ können. Die „didaktische Wende“ mündete schließlich in die „Hessische Konzeption“ pB, für die vor allem W. Hilligen, R. Engelhardt und K.G. Fischer stehen.

Der Konflikt als Grundbegriff politischer Bildung

„Wir brauchen … eine didaktische und methodische Konstruktion, die von der Analyse politischer Konflikte ausgeht“, schrieb H. Giesecke 1965 in seiner „Didaktik der politischen Bildung“ und markierte damit den Beginn einer Phase der pB, in der die Erziehung zum Konflikt und zum Konfliktverhalten im Mittelpunkt der Diskussion stand. Nach Giesecke muss sich der politische Unterricht vor allem auf die Analyse politischer Konflikte konzentrieren. Seine Orientierung an den Sozialwissenschaften führte dazu, dass mit Giesecke von der sozialwissenschaftlichen Wende der pB gesprochen wird.

Emanzipation oder Rationalität: Bildungsziele im Widerstreit

Ende der 1960er, Anfang der 1970er-Jahre geriet die pB wie nie zuvor in das Fahrwasser innenpolitischer Auseinandersetzungen. Im Zentrum heftig geführter Kontroversen um die pB standen vor allem ihre Zielkonzeptionen, in denen sich der aufbrechende Gegensatz zwischen „konservativ“ und „progressiv“, zwischen „links“ und „rechts“ widerspiegelte. In dieser „politischen Geographie“ (Sutor) bildeten „Emanzipation“ und „Rationalität“ die beiden Pole der Diskussion. So forderten auf der einen Seite R. Schmiederer und andere, pB müsse der Demokratisierung der Gesellschaft und der Emanzipation ihrer Mitglieder dienen, während B. Sutor u. a. das allgemeine Ziel pB darin sahen, „den Menschen zur Rationalität des Urteilens über soziale und politische Sachverhalte zu befähigen“.

Pluralisierung der politischen Bildung

Ende der 1970er-Jahre versuchten die Theoretiker der pB die festgefahrenen Fronten aufzubrechen und aus der unfruchtbaren ideologischen Stagnation herauszukommen. Die Autoren, die die Diskussion um die pB seit der „didaktischen Wende“ mitgeprägt hatten, entwickelten ihre Konzeptionen weiter, neue Konzeptionen – so z. B. von B. Claußen – kamen hinzu. Insgesamt erweiterte sich das wissenschaftliche Spektrum der pB. Politisch-ideologische Kontroversen und der Streit um die obersten Lernziele traten mehr und mehr in den Hintergrund gegenüber dem Versuch, einen produktiven wissenschaftlichen Diskurs in der pB wiederzubeleben. Ein erstes Ergebnis dieses Versuchs war ein Minimalkonsens über das Selbstverständnis einer demokratischen pB. Seine drei Grundsätze sind: 1. das Überwältigungsverbot gegenüber Schülerinnen und Schülern, 2. die Forderung: Was in Politik und Wissenschaft kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen und 3. das Ziel, Schülerinnen und Schüler in die Lage zu versetzen, eine politische Situation und ihre eigene Interessenlage zu analysieren sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene Lage im Sinne ihrer Interessen zu beeinflussen. Dieser sogenannte „Beutelsbacher Konsens“ ist heute in der pB breit akzeptiert.

Seit Mitte der 1980er-Jahre findet sich eine stärkere Orientierung an Problemen der Praxis des politischen Unterrichts. Dabei wird eine Reihe von neuen Fragen aufgeworfen, z. B. welche Rolle kann eine Werteerziehung in der pB spielen? Wie verhält sich das Ziel einer rationalen politischen Urteilsbildung zu den emotionalen Bedingungen politischen Lernens? Welche neuen Felder politischen Lernens eröffnet der Wandel in Gesellschaft, Naturwissenschaft und Technik?

Zwischen Staatsbürgerkunde, Gesellschaftskunde und demokratischer politischer Bildung

Die pB zu Beginn der 1990er-Jahre musste vor allem die Fragen beantworten: Welche Chancen hat eine gemeinsame pB im vereinten D, welche Herausforderungen ergeben sich aus der Vereinigung, und welche Aufgaben hat die pB beim Aufbau und bei der Stabilisierung demokratischer Strukturen in den neuen Bundesländern? Dazu gehörte auch die Auseinandersetzung mit den Folgen des Staatsbürgerkundeunterrichts in der DDR. Laut Lehrplan sollte Staatsbürgerkundeunterricht „das Denken und Fühlen und Handeln der Jugend im Geiste der kommunistischen Ideale, des sozialistischen Patriotismus und proletarischen Internationalismus (…) entwickeln und politische Standfestigkeit und feste Verbundenheit mit ihrem revolutionären Kampf ausprägen.“ Schon bald jedoch wurde Staatsbürgerkunde in den Schulen ausgesetzt und ein Neuanfang über das Fach Gesellschaftskunde gesucht, das sich in der Zielsetzung, in seinem Inhalts- und Methodenkonzept prinzipiell von der bisherigen Staatsbürgerkunde unterscheiden sollte.

Nach der Gründung der neuen Bundesländer trat die Entwicklung der pB in eine neue Phase. Relativ rasch und ohne eine breite öffentliche Diskussion wurden vorläufige länderspezifische Rahmenpläne für die pB verabschiedet und das Fach mit unterschiedlichen Bezeichnungen (Sozialkunde, Gesellschaftskunde, Politische Bildung) in den Stundentafeln verankert. Trotz anfänglichen Misstrauens gegenüber diesem neuen Fach fand es in wenigen Jahren bei der Mehrzahl der Eltern, Lehrer und Schüler Anerkennung.

Die theoretische Diskussion zur pB in dieser Zeit war anfangs stark von der Frage geprägt, welche Faktoren beim Aufbau der pB in den neuen Bundesländern und im vereinten D zu bedenken sind. Darüber hinaus war sie gekennzeichnet durch Ängste vor einer „Überwältigung“ durch Konzeptionen aus der BRD. Es müsse aber von dem Tatbestand ausgegangen werden, dass die 45 Jahre der Trennung unterschiedliche Lebenserfahrungen, Lebens- und Wertvorstellungen, innere Einstellungen und damit Fremdheit hinterlassen hätten. Jede Analyse des Heute müsse daher die Unterschiede in der Rezeptionsfähigkeit, die in der unterschiedlichen Lebensgeschichte begründet liegen, zum didaktischen Ausgangspunkt machen. So verständlich diese Befürchtungen waren, es zeigte sich schnell, dass der kritische Nachvollzug des Weges der pB in der alten BRD keineswegs in eine „Überwältigung“ oder eine „Adaption“ (Gagel) mündete, sondern dem Bedürfnis vieler entsprach, die in der pB in den neuen Bundesländern tätig waren.

Aktuelle Tendenzen und Kontroversen

In den letzten Jahren sind wieder Konzeptionen der pB entwickelt worden (z. B. T. Grammes, W. Sander, S. Reinhardt). In der aktuellen Diskussion um die pB hat sich, vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Verwissenschaftlichung pB einerseits und einer zunehmenden Professionalisierung politischer Bildungspraxis andererseits, eine Vielzahl von Problemen und offenen Fragen herauskristallisiert. Hierzu gehört die intensive Diskussion über die sich zuspitzende Auseinanderentwicklung von Theorie und Praxis der pB und die vielfältigen Versuche, Wege aufzuzeigen, wissenschaftliches politikdidaktisches Wissen und alltäglichen Politikunterricht aufeinander zu beziehen. Einen weiteren Fokus der aktuellen Auseinandersetzung in der pB bildet die Frage, welches Politikverständnis der pB angemessen ist. Tatsächlich scheint der Politikbegriff in der pB immer wieder zum Auslöser konfligierender Lagerbildung zu werden, die sich in der Frage, welche Art der Urteilsbildung pB anstreben soll ebenso unterscheiden wie in dem Theoriebezug, den sie anstreben. Suchen die Vertreter eines weiten lebensweltlich orientierten Politikbegriffs eher die Nähe zu Gesellschaftsdiagnosen, knüpfen die anderen an die Tradition der normativen Demokratietheorien an. Beide Ansätze aber werden in Zukunft nur eine Rolle spielen können, wenn es ihnen gelingt, eine andere Entwicklung aufzugreifen und produktiv zu verarbeiten. Gemeint ist die immer stärker in den Vordergrund drängende empirische Unterrichtsforschung, die neben einer Vielzahl quantitativer empirischer Untersuchungen, die immer wichtiger werden, auch noch als qualitativ orientierte, interpretative Fachunterrichtsforschung auftritt und den Anspruch erhebt, theoretische Entwürfe zur pB stärker als bislang mit der Unterrichtspraxis zu verbinden. Insgesamt scheint es auch eine Renaissance „der Theorie“ in der pB zu geben. So hat die „Gründergeneration“ ihre Theoriekonzepte weiterentwickelt. Hinzu kommen Versuche in Auseinandersetzung und in Abgrenzung zur Demokratiepädagogik, Politikdidaktik demokratietheoretisch neu zu begründen sowie der Tatbestand, dass fast alle neueren Einführungen einen verstärkten theoretischen Zugang erkennen lassen sowie Beiträge, die die Grundfragen des Faches theoretisch anspruchsvoll aufarbeiten.

Im Zusammenhang mit der Entwicklung von Bildungsstandards und Kompetenzmodellen in der Folge von PISA, DESI u. a. internationalen Vergleichsuntersuchungen entwickelt sich auch in der pB eine quantitativ orientierte empirische Lehr-Lern-Forschung, in deren Mittelpunkt „Wissen“, „mentale Modelle“ und die Entwicklung von „Basiskonzepten“ und „Fachkonzepten“ stehen. Aktuell spiegeln sich diese Konflikte auch in der politikdidaktischen Auseinandersetzung um die Veröffentlichung „Konzepte der Politik – Ein Kompetenzmodell“ (Weißeno et al. 2010) gegen das eine Kritikergruppe eine Streitschrift veröffentlicht hat (Autorengruppe Fachdidaktik 2011). Im Zentrum stehen unterschiedliche Vorstellungen zur Stellung des Wissens, zum Wissensbegriff, zum Politikbegriff und zur Bedeutung der Politikwissenschaft für den Politikunterricht und der Konflikt zwischen einem lernpsychologischen und einem erkenntnisphilosophischen Konstruktivismus. Das zwei Jahre später veröffentlichte Modell der „Politikkompetenz“ mit den Kompetenzdimensionen Fachwissen, politische Urteilsfähigkeit, politische Handlungsfähigkeit sowie Einstellung und Motivation hat zwar auch Kritik ausgelöst, die Auseinandersetzungen waren aber weit weniger heftig (Detjen et al. 2012). In jüngster Zeit hat sich eine politische Bildung zu Wort gemeldet, die sich als explizit „kritisch“ versteht. Die Vertreterinnen und Vertreter einer „Kritischen politischen Bildung“ grenzen sich von der übrigen pB ab, indem sie sich auf die „Kritische Theorie“ stützen oder sich mit Pierre Bourdieus Analysen zum „Habitus“ sowie mit postmodernen Ansätzen zur Dekonstruktion des Subjekts von Michel Foucault, Jacques Rancière, Chantal Mouffe oder Judith Butler auseinandersetzen.

In der Praxis scheinen mehrere Entwicklungen die schulische pB in die Defensive zu drängen. Besonders folgenreich für die pB erscheint das zunehmende Vordringen des Faches Wirtschaft. Um ein eigenes Unterrichtsfach „Wirtschaft“ nicht einführen zu müssen, sind viele Länder dazu übergegangen, bisherige Stundenanteile des Faches Politik für den Unterrichtsanteil Wirtschaft vorzusehen. Die neuen Kombinationsfächer heißen dann Politik und Wirtschaft in HE, Politik – Wirtschaft in NI, Politik/Wirtschaft in NRW oder Wirtschaft/Politik in SH. Offiziell geht es in diesen neuen Fächerkombinationen darum, den ökonomischen Lernbereich unter dem Dach der pB zu stärken, die jeweiligen neuen Rahmenlehrpläne zeigen jedoch, dass eher eine Separierung nach der Logik der spezialisierten Bezugswissenschaften vorgenommen und damit die pB auf Kosten der ökonomischen Bildung faktisch halbiert wird. Auch das Fach Sozialwissenschaft, das einige Länder eingeführt haben und das additiv Teile von Politik, Soziologie und Wirtschaft enthält führt letztlich zu einer Schwächung der pB. Gleiches gilt für die Einführung neuer, sogenannter „wertebildender“ Fächer wie LER, Ethik, Philosophie. Sie ging zumindest in den Ländern, in denen sie als Pflichtfächer konzipiert sind (wie in Berlin und Brandenburg), auf Kosten der pB.

Eine weitere Entwicklung ist in dem Konzept der Demokratiepädagogik zu sehen. Darin muss nicht unbedingt eine Bedrohung des Unterrichtsfaches pB gesehen werden, solange dieses Konzept, das sich „Demokratie lernen und leben – Schule in der Zivilgesellschaft“ nennt, als Schulentwicklungsprogramm verstanden wird. Wo diese Konzeption jedoch behauptet, eine Alternative zur bisherigen pB zu sein, gefährdet sie das Fach. Weitere wichtige Fragen, denen sich die pB in der letzten Zeit zugewandt hat, sind z. B.: die Frage nach der Notwendigkeit einer speziellen pB für Kinder mit Migrationshintergrund oder mit einem bildungsfernen familiären Hintergrund, die Themen Inklusion und nachhaltige Entwicklung sowie Ansätze zu einer europapolitischen Bildung und zum globalen Lernen.

Betrachtet man den „Trend“ in der schulischen pB insgesamt, so lässt sich keine eindeutige Richtung feststellen. Es gibt sowohl positive Entwicklungen, die die pB stärken als auch negative, die eine Schwächung des Faches zur Folge haben oder haben können. PB scheint im Kanon der Schulfächer immer noch insofern eine Sonderstellung einzunehmen, als sie auch in Phasen der Konsolidierung mit Unsicherheiten und Gefährdungen leben muss.

Lehramtsausbildung im BA- und MA-Studium

Die Situation der Lehramtsausbildung für den Bereich der pB war bisher geprägt durch eine Vielzahl von möglichen Ausbildungsgängen, unterschiedlichen Bezugswissenschaften und einen geringen Anteil an Politikdidaktik. Die Reform der Lehramtsausbildung durch BA- und MA-Studiengänge sollte eine fachwissenschaftliche Vereinheitlichung, eine Stärkung der Politikdidaktik und der Berufspraxis anstreben sowie die Erleichterung eines Studienortwechsels. Letzteres ist eher schwieriger geworden. Positiv ist allein anzumerken, dass in der Masterphase die Politikdidaktik im Zentrum steht. Dieser Entwicklung kommt entgegen, dass sich die Politikdidaktik an den Universitäten in den letzten Jahren als eine normale und forschungsorientierte Wissenschaftsdisziplin etablieren konnte, gestützt durch eine eigene Fachgesellschaft, durch eine intensive Tagungskultur und durch eine Reihe von Fachzeitschriften.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Peter Massing

Fussnoten