Geschichte und Nennung im GG
Die Notstandsverfassung ist Sammelbegriff all jener Vorschriften, die das Grundgesetz (GG) an verschiedenen Stellen für den außenpolitischen Extremfall (etwa eine militärische Auseinandersetzung) bereithält. Fälle des inneren Notstands, wie der Katastrophennotstand (Art. 35 Abs. 2 und 3 GG) oder der innenpolitische Notstand (Art. 91 GG), bleiben in diesem Eintrag außer Betracht. Zielsetzung der Notstandsverfassung ist es, die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Ausnahmefall zu schützen und durch Verfahrensvereinfachungen sowie Kompetenzkonzentration auf die Exekutive den Staat handlungsfähig zu halten.
Kein einziger Artikel der Notstandsverfassung selbst verwendet den Begriff Notstand, was die rechtliche Situation unübersichtlich macht und gleichzeitig andeutet, dass das GG den Notstand eher verdrängt als ihm besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
Das GG enthielt in seiner Ursprungsform keine Regelungen über den Notstandsfall. Erst 1968 wurde die Notstandsverfassung durch das 17. Änderungsgesetz von der ersten Großen Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, wenngleich unter großem Protest der politischen Linken, eingefügt. Einerseits wurde die Erfahrung mit den entsprechenden Normen der Weimarer Reichverfassung im Rückblick historisch neu (und positiver) bewertet. Andererseits reifte die Überzeugung, dass das bestehende Besatzungsrecht der Westalliierten rund 20 Jahre nach Kriegsende durch eigenes deutsches Verfassungsrecht ersetzt werden müsse. Mit Einführung der Notstandsverfassung erloschen sodann diese alliierten Notstandsrechte.
Heutiger Begriff der äußeren Notstandsfälle
Die Notstandsverfassung unterscheidet den Verteidigungsfall und den Spannungsfall.
Der Verteidigungsfall (erwähnt in Art. 115a-i GG) ist die letzte Eskalationsphase einer äußeren Bedrohung. Nach der Legaldefinition des Art. 115a Abs. 1 S. 1 GG liegt ein Verteidigungsfall vor, wenn das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird (1. Alternative) oder ein solcher Angriff unmittelbar droht (2. Alternative). In beiden Fällen muss zunächst das Bundesgebiet betroffen sein, also der deutsche Staatsraum, über den die BRD staatliche Souveränität ausübt. Nicht ausreichend sind mithin Angriffe auf deutsche Schiffe oder Flugzeuge im Ausland. Dies mag zwar im Rahmen einer „Verteidigung“ den Einsatz von Streitkräften ermöglichen (Art. 87a Abs. 2 GG), bildet aber keinesfalls einen „Verteidigungsfall“ (Art. 115a GG und Art. 87 Abs. 3 GG) mangels Angriffs auf das Bundesgebiet. Auch Angriffe auf diplomatische und konsularische Vertretungen der BRD begründen keinen Verteidigungsfall, da sie nach Art. 21 Abs. 1 WÜD und Art. 30 Abs. 1 WÜK zum Staatsgebiet des Empfangsstaates gehören. Angriffe auf das Gebiet eines anderen Staates begründen ggfs. den europäischen Beistandsfall (Art. 42 Abs. 7 UAbs. 1 EUV; so etwa nach den Pariser Terroranschlägen im November 2015) oder den NATO-Bündnisfall (Art. 5 NATO-Vertrag; so etwa nach dem Angriff auf das New Yorker World Trade Center im September 2001), keinesfalls aber den Verteidigungsfall i.S.v. Art. 115a GG. Daran ändert auch die Fiktion des Art. 5 NATO-Vertrag nichts, der einen bewaffneten Angriff gegen eine Partei als Angriff gegen alle NATO-Partner versteht.
In der ersten Alternative muss ein Angriff mit Waffengewalt bereits vorliegen. Der Begriff muss in völkerrechtskonformer Auslegung im Sinne einer „armed attack“ verstanden werden, wie sie in Art. 51 der VN Charta normiert ist und durch Art. 3 der Aggressionsdefinition der Generalversammlung (UNGA 3314 (1975)) weiter präzisiert wird. In der zweiten Alternative muss ein Angriff unmittelbar drohen. De facto bedeutet dies, dass der Angriff mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintritt. Andere Interpretationen ließen zu viel Raum für Missbrauch.
Vorstufe zum Verteidigungsfall (Art. 80a GG) ist der Spannungsfall. Er ist im GG nicht definiert. Es muss jedenfalls die hinreichende Wahrscheinlichkeit bestehen, dass sich eine außenpolitisch schwierige Lage zu einem bewaffneten Angriff verdichten könnte. Die Regelungen für den Spannungsfall sollen insofern die Reaktion auf den Verteidigungsfall vorbereiten. Zur weiteren Begriffsbestimmung gilt das oben Gesagte entsprechend.
Rechtsfolgen der beiden äußeren Notstandsfälle
Der Verteidigungsfall wird gem. Art. 115a Abs. 1 GG auf Antrag der Bundesregierung (BReg) mit qualifizierter Zweidrittelmehrheit durch den Bundestag und mit Zustimmung des Bundesrates festgestellt. Danach erfolgt in der Regel die Verkündung durch den Bundespräsidenten im Bundesgesetzblatt (Art. 115a Abs. 3 GG). Zur Bewältigung des äußeren Notstands sehen sodann vor allem die Art. 87a und 115a–e GG Maßnahmen zur Anpassung und Vereinfachung der Rechtsordnung vor. So werden die Kompetenzen von Bundeskanzler und BReg gestärkt. Zudem ist eine Verschiebung der Gesetzgebungskompetenzen von den Ländern zum Bund vorgesehen, von denen dieser im beschleunigten Gesetzgebungsverfahren Gebrauch machen kann. Außerdem können einzelne Grundrechte weitreichend beschränkt werden (etwa die Berufsfreiheit über Art. 12a GG oder die Eigentums- und Bewegungsfreiheit über Art. 115c Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 GG).
Während auf Tatbestandsebene zwischen Verteidigungs- und Spannungsfall Ähnlichkeit besteht, unterscheiden sich beide fundamental auf Rechtsfolgenseite. Der Spannungsfall führt nicht zu Kompetenz- oder Verfahrensverschiebungen, sondern dient der Mobilmachung des Staates. Er erlaubt quasi den Zugang zu den einfachrechtlichen Notstandsgesetzen, die der Gesetzgeber im Normalzustand erdacht und bereitgestellt hat, die aber nur im Spannungsfall „entsperrt“ werden. Diese Notstandsgesetze bleiben im Verteidigungsfall anwendbar. Auch bereits im Spannungsfall dürfen allerdings Streitkräfte gem. Art. 87a Abs. 3 GG zum Schutz ziviler Objekte und der Verkehrsregelung eingesetzt werden.
Kritik und Ausblick
Die Notstandsverfassung des GG ist ein Produkt der frühen Bonner Republik, weltanschaulich geprägt durch den Kalten Krieg. Sie bedarf im 21. Jahrhundert einer Modernisierung oder jedenfalls einer modernen Auslegung.
Zum einen sind Angriffe von außen und innen kaum mehr voneinander zu trennen. Die Grenzen zwischen innerem und äußerem Notstand sind längst genauso aufgeweicht wie diejenigen von Krieg und Frieden. Eine strikte Unterscheidung der Staatsaufgaben in Verteidigung, die den Streitkräften zufällt, und der Gefahrenabwehr, die der Polizei obliegt, ist oft nicht mehr möglich. Jedenfalls die (drohende) physische Grenzmissachtung, die ursprünglich Ausgangspunkt des Verteidigungs- und Spannungsfalls war, wird in der Praxis immer weniger relevant.
Zum anderen sind die Urheber von Angriffen regelmäßig nicht Staaten und vor allem im Fall von Cyber-Kriegsführung überdies häufig schwer zu identifizieren. Angezeigt ist eine an das Völkerrecht angelehnte moderne Interpretation des GG. Dies bedeutet, dass auch Angriffe von nicht-staatlichen Akteuren wie terroristischen Gruppen als Angriffe mit Waffengewalt i.S.v. Art. 115a GG anzusehen sind (vgl. für das Völkerrecht mit Blick auf Art. 51 VN Charta etwa UNSC Res. 1363 und 1373 in Reaktion auf die Terrorangriffe auf die USA am 11. September 2001). Weiterhin müssen neue Angriffsformen als erfasst verstanden werden, etwa Hackerangriffe, soweit sie zentrale Infrastruktur auf dem deutschen Bundesgebiet zerstören oder weitgehend lahmlegen. Insofern ist der Begriff des Angriffs mit Waffengewalt auch als ein solcher zu verstehen, der keine klassische Waffe, wohl aber andere Mittel verwendet, die vergleichbar schwerwiegende Effekte hervorrufen (etwa Trojaner und andere Malware).
Mit Blick auf die Rechtsklarheit bedenklich bleibt der nicht definierte Spannungsfall. Er kann mit der wohl herrschenden Meinung entweder als eng an die Begrifflichkeiten des Verteidigungsfalles angelehnt verstanden werden, oder aber als eigenständiger Zustand, der Schritte hin zur „Verteidigung“ ermöglicht, welche ja gerade weiter zu verstehen ist als der Verteidigungsfall (s. o.). Für ein vom Verteidigungsfall losgelöstes Verständnis des Spannungsfalls spricht insbesondere die Systematik, da die Normen des Spannungsfalls nicht vor, innerhalb oder nach denjenigen des Verteidigungsfalles geregelt sind, sondern sich an ganz anderer Stelle im GG, nämlich im Abschn. „Die Gesetzgebung des Bundes“, finden.
Dies führt zum dritten und letzten Kritikpunkt: die nahezu erratische Aufführung der entsprechenden Normen der Notstandsverfassung an verschiedenen Stellen des GG. Eine Vereinfachung, begriffliche Klärung und vor allem Bündelung der vielen unübersichtlichen, die Notstandsverfassung regelnden Normen ist im Zuge zukünftiger Verfassungsreform unbedingt angezeigt.
Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Pierre Thielbörger