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Neokorporatismus | bpb.de

Neokorporatismus

Helmut Voelzkow

Mit dem Begriff Neokorporatismus (Nk) wird die Einbindung („Inkorporierung“) von organisierten Interessen in die Politik und ihre Teilhabe an der Formulierung und Ausführung von politischen Entscheidungen bezeichnet. Im Nk werden die Verbände zu „privaten Interessenregierungen“, die in Verhandlungen mit dem Staat oder mit anderen Verbänden bindende Entscheidungen treffen und durchsetzen.

Der Begriff des Nk knüpft an den älteren Begriff des „Korporativismus“ an, der sich auf eine nach Ständen gegliederte → Gesellschaft bezog, um die Übertragung öffentlicher Gewalt auf gesellschaftliche Organisationen („Korporationen“) zu umschreiben. In D wurde der Begriff in den 1970er-Jahren in Anlehnung an den angelsächsischen Begriff „Corporatism“ als „liberaler“ oder „Neo“-Korporatismus wieder aufgegriffen. Die begriffliche Anbindung an den Korporativismus-Begriff wurde damit begründet, dass die organisierten Interessen nicht nur in der vorbürgerlichen Gesellschaft, sondern auch in der modernen Gesellschaft bestimmte Regierungsfunktionen wahrnehmen. Auch die modernen Gesellschaften befinden sich noch in dem „Jahrhundert des Korporatismus“ (Schmitter 1974).

Die Reichweite dessen, was mit dem Nk-Begriff erfasst wird, hat sich kontinuierlich erweitert. Während der Begriff zunächst nur für eine „tripartistische“ Kooperation von Staat, → Unternehmerverbänden und → Gewerkschaften in der Abstimmung der Einkommenspolitik der Tarifparteien mit der staatlichen Wirtschaftspolitik verwendet wurde, werden heute auch andere Formen der Kooperation von Verbänden und Staat in verschiedenen Politikfeldern unter den Begriff subsumiert. In der Forschung sind zahlreiche Belege für solche öffentlichen Funktionen privater Interessenorganisationen zusammengetragen worden. Beispielhaft genannt seien die Beiträge organisierter Interessen in der Wirtschaftspolitik (z. B. die „Konzertierte Aktion“ im Kontext des → Stabilitätsgesetzes oder das spätere „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“), in der → Bildungspolitik (Steuerung und Regulierung der beruflichen Bildung durch die Sozialpartner), in der → Gesundheitspolitik (z. B. die „Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen“), in der → Sozialpolitik (z. B. Übertragung öffentlicher Aufgaben auf die → Wohlfahrtsverbände) oder in der „kooperativen“ → Umweltpolitik (z. B. Selbstbeschränkungsabkommen der Wirtschaftsverbände).

In vertikaler Differenzierung wird zwischen Makro-, Meso- und Mikroebenen des Nk unterschieden. Diese Dreiteilung bezieht sich entweder auf das → politische System oder auf das ökonomische System eines Landes. In einem politischen System ist Nk enthalten, wenn neben der „territorialen Repräsentation“ durch allgemeine Wahlen und frei gewählte Parlamente auch eine „funktionale Repräsentation“ durch die Verbände vorgesehen ist, wobei solche Arrangements entsprechend der Struktur und Zuständigkeitsverteilung des politischen Systems auf der nationalen Ebene, der regionalen Ebene (in D die → Bundesländer) oder der lokalen Ebene (Städte und → Gemeinden) verankert sein können. Ein ökonomisches System bedient sich des Nk, wenn die freie Preisbildung auf Märkten nicht nur durch staatliche Regulierungen, sondern auch durch kollektive Vereinbarungen zwischen organisierten Gruppen ergänzt und begrenzt wird, wobei sich solche Arrangements auf volkswirtschaftliche Koordinationsprobleme (Makro), auf die „Governance“ einzelner Wirtschaftssektoren (Meso) oder auf die „Mikropolitik“ in Unternehmen („Corporate Governance“, z. B. → Mitbestimmung) beziehen können.

Was die Verbreitung des Nk betrifft, hat die international vergleichende Forschung große Unterschiede festgestellt. In Europa ist der Nk bspw. in den skandinavischen Ländern oder in Deutschland, Österreich und den Niederlanden stark ausgeprägt, während er in Großbritannien oder in Frankreich nur eine untergeordnete Rolle spielt. In jüngerer Zeit wird die Frage diskutiert, ob der Nk auch in supra-nationalen Zusammenhängen vorkommt. Der so genannte „Soziale Dialog“ wird als mögliches Beispiel für Nk in der Europäischen Union diskutiert. Aber nach dem Stand der Forschung hat der Nk auf den höheren Ebenen oberhalb der Nationalstaaten nicht den Stellenwert erreichen können wie auf der Ebene einzelner Länder.

Im Rückblick lassen sich drei zentrale Befunde der Nk-Forschung festhalten, die eng miteinander verknüpft sind: (1) Der Staat nimmt Einfluss auf die Bildung von → Interessengruppen und auf die Organisierung kollektiver Interessen. Es gibt vielfältige Staatseingriffe in Form von staatlich initiierten Verbandsgründungen, Zwangs- und Quasizwangsmitgliedschaften und anderen Organisationshilfen, die zu dem Schluss führen, dass die Formen und Inhalte sowie die Resultate des Wirkens der Verbände nicht ohne Rückgriff auf die Rolle des Staates nachvollziehbar sind. (2) Die Verbände fungieren nicht als Einrichtungen der Repräsentation von bereits vorab eindeutig feststehenden Gruppeninteressen. Vielmehr werden die Gruppeninteressen erst im Prozess der Interessenorganisierung in den Verbänden erzeugt und konkretisiert. (3) Die Verbände müssen dazu einerseits mit den lebensweltlichen Orientierungen und Forderungen ihrer Mitglieder („logic of membership“) und andererseits mit den Anforderungen ihrer institutionellen Umwelt („logic of influence“) zurechtkommen. Die Widersprüchlichkeit von Mitgliedschaftslogik und Einflusslogik erzwingt und ermöglicht wechselseitige Austauschprozesse, die zu einer Form der „Interessenvermittlung“ führen, die über eine reine „Interessenrepräsentation“ im Sinne des → Pluralismus hinausgeht. Die Verbände können im Austausch mit den Adressaten in ihrer institutionellen Umwelt (insbesondere im Austausch mit dem Staat) Organisationshilfen zur Einbindung ihrer Mitglieder und Zuständigkeiten für bindende Entscheidungen und kollektive Problemlösungen gewinnen, die es ihnen erlauben, die Interessen ihrer Verbandsdomäne zu „regieren“, statt sie nur zu repräsentieren.

Die empirischen Befunde der Nk-Forschung sind von einigen Autoren politisch-normativ verlängert worden. Die Verbände sollen demnach in jenen Problemfeldern als gemeinwohlorientierte Steuerungsinstanzen fungieren können, die den Staat ohne die Entlastung durch die Verbände überfordern würden. Aber die Realisierbarkeit und die demokratietheoretischen Grundlagen des politisch-normativen Nk sind kontrovers geblieben.

In jüngerer Zeit werden auch die Zukunftsaussichten des Nk in Zweifel gezogen. Skeptische Stimmen sehen mit der Globalisierung die politische Handlungsfähigkeit derart eingeschränkt, dass auch die Handlungsfähigkeit der Verbände geschwächt wird. Empirische Analysen ergeben, dass die Verbände als Instanzen der Interessenvermittlung an Gewicht verlieren, weil sie aufgrund von Mitgliederschwund und zunehmender Interessenheterogenität nicht mehr in der Lage sind, ihre Mitglieder auf die Verhandlungsergebnisse zu verpflichten. Und der Staat verzichtet immer häufiger auf die Kompromissfindung im Nk, um andere Wege der Entscheidungsfindung (z. B. Expertenkommissionen) zu nutzen.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Helmut Voelzkow

Fussnoten