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Nation | bpb.de

Nation

Christian Bala

Der Begriff der Nation

Es gibt keinen allgemein anerkannten und eindeutigen Begriff der Nation. Das liegt in der vielschichtigen Funktion dieses und ähnlicher Begriffe begründet: Sie haben sowohl erklärende wie legitimierende und normierende Aufgaben. Begriffe dieser Art wollen nicht nur die Wirklichkeit erfassen oder analysieren, sondern sie setzen auch politische Ziele für die Zukunft und werden zur Rechtfertigung der Gegenwart eingesetzt.

Für M. Weber (1980, S. 528) kann die Nation „nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten definiert werden“, vielmehr besage der Begriff der Nation, „daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei“, er ist somit subjektiv und gehört „der Wertsphäre an“. Auch E. Renan (1996, S. 35) betont dieses Element, wenn er schreibt: „Eine Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen vom Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch bringen will. Sie setzt eine Vergangenheit voraus und läßt in der Gegenwart in eine handfeste Tatsache münden: in der Übereinkunft, den deutlich geäußerten Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Das Dasein einer Nation ist – erlauben Sie mir dieses Bild – ein Plebiszit Tag für Tag, wie das Dasein des einzelnen eine dauernde Behauptung des Lebens ist.“ Die Geschichte spielt in der Entwicklung der Nationalbewegungen insofern eine Rolle, als dass sie eine generationenübergreifende Gemeinschaft konstruiert, die über das Leben des einzelnen Individuums hinausreicht.

Die nationalstaatlichen Bewegungen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts haben den Begriff der Nation höchst unterschiedlich verwandt, der Anspruch auf Selbstbestimmung, auf Selbstorganisation nach innen und Unabhängigkeit nach außen war ihnen gemein. In der Nationalismusforschung wird gemeinhin zwischen vier verschiedenen Nationsbegriffen unterschieden: (a) „Volksnation“, welche die Zugehörigkeit zur Nation an eine ethnisch homogene Gruppe knüpft; (b) „Kulturnation“, welche die Gemeinsamkeit in Verhaltensweisen im Allgemeinen und der Sprache, Literatur, Musik im Speziellen hervorhebt; (c) „Staatsnation“, die keine spezifischen Kriterien für die Vorstellung der Nation angibt, sondern das Vorhandensein einer staatlichen Verbandsordnung bezeichnet, die auf der Grundlage der „Volksnation“ oder der „Kulturnation“ bestehen kann; (d) „Staatsbürgernation“, die sich durch Verfahren der demokratischen Partizipation und die individuelle Rechte ihrer Mitglieder (Staatsbürger) bildet.

Die vieldeutige und wertende Dimension des Begriffes der Nation prägt die Versuche, ihn genauer zu bestimmen, er differiert aufgrund unterschiedlicher Überzeugungen wissenschaftlicher wie politischer Art. Gleich welche Definition für den Begriff der Nation verwendet wird, stets überschneidet oder deckt er sich mit anderen Begriffen, wie dem der Nationalität als einer ethnischen Einheit oder des Volkes als einer kulturellen Gemeinschaft. Vielfach wird daher auch Nation und Nationalstaat gleichgesetzt, zumindest für jede Nation ein einheitlicher Nationalstaat gefordert. Dies ist das Ziel, das der Nationalismus verfolgt. Als eine ideologische, politische und soziale Bewegung versucht er, Eindeutigkeit zu erzeugen und die Übereinstimmung von ethnischen und politischen Grenzen zu erreichen, dabei tendiert er zur Ausgrenzung.

Deutschland als „verspätete Nation“

Die Entwicklung der deutschen Nation ist im Vergleich zu den westeuropäischen Nationalstaaten durch die lange Zeit gekennzeichnet, in der ihre Einheit bloß auf kulturellen Gemeinsamkeiten beruhte. Als schließlich 1871 mit der Errichtung des Deutschen Reiches auch die staatliche Einheit erreicht wurde, war diese Nationalstaatsgründung in vielfacher Hinsicht vorbelastet. Nachdem 1848/49 in der bürgerlichen Revolution das Bemühen gescheitert war zugleich „Einheit und Freiheit“ zu erringen, beruhte die Gründung des Reiches nicht auf einer nationalen und demokratischen Massenbewegung, sondern auf dem obrigkeitsstaatlichen Einigungsbeschluss der Fürsten. Er brachte mit dem kleindeutschen Reich die staatliche Einheit nur eines Teils der deutschen Nation und ließ die deutschsprachigen Österreicher außen vor; im Laufe der 1880er-Jahre entwickelte sich in Teilen der Bevölkerung der Donaumonarchie ein „volksdeutsches“ Selbstverständnis im ethnischen Sinne. Auf der anderen Seite umfasste das neugegründete Deutsche Reich nationale Minderheiten (Polen, Dänen, Elsass-Lothringer), deren Zugehörigkeit zur Nation infrage gestellt wurde. Aber auch religiöse Minderheiten, die sich eindeutig zur Nation bekannten (z. B. die deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens), waren nicht vor Ausgrenzungen geschützt.

Somit war die „verspätete Nation“ (Helmuth Plessner) schon 1871 kein unbestrittener und saturierter Nationalstaat. Deutschlands demokratisches Defizit und seine territoriale Instabilität schlugen in das aggressive und imperialistische Denken und Handeln des wilhelminischen Machtstaates um. Auch der Untergang dieses Staates durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg, die territoriale Reduzierung des Deutschem Reiches und die Einführung einer parlamentarischen Republik brachten noch keine Aussöhnung von demokratischer Selbstbestimmung und nationaler Selbstbescheidung. Die Nationalsozialisten verstanden es vielmehr, das Ungenügen des Bürgertums an seiner nationalen Existenz aufzugreifen. Nach der Machtübertragung wurden politische Gegner und die deutsche Juden aus der Nation ausgegrenzt und ermordet. Die Expansionspolitik des „Dritten Reiches“ dehnte die Herrschaft weit über die deutsche Nation aus, zahlreiche Gebiete wurden annektiert, ihre Bevölkerungsgruppen wurden Opfer von Krieg und Völkermord.

Das geteilte Deutschland (1945–1990)

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hielten deutsche Politiker in Ost und West an der Idee der Nation fest, wollten sie aber in spezifischer Weise geläutert wissen. Ganz gleich, was unter Nation im Einzelnen verstanden wurde, den führenden Politikern der BRD war die Auffassung gemeinsam, dass an der Einheit der Nation festzuhalten sei. Als konstitutiv für die deutsche Nation wurden das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit und der Wille zu ihrer Erhaltung angesehen.

In der DDR erhob die Führung zunächst den Anspruch, die Einheit Deutschlands zu vertreten. Ab 1955 verfolgte sie, als Reaktion auf die Nichtanerkennung der DDR, die Politik der zwei deutschen Staaten, hielt aber an der Einheit der Nation fest. Als die sozial-liberale Bundesregierung 1969 diese Konzeption jedoch übernahm, wurde sie von der DDR-Führung abrupt fallen gelassen, um nun die Entwicklung eines eigenständigen sozialistischen Nationalstaates zu propagieren.

Nachdem die SED-Führung während des Sommers 1989 in eine Legitimitätskrise geraten war, zeigte sich, dass auch die Akzeptanz einer „DDR-Nation“ zunehmend schwand. Strebte in der Opposition zunächst die Mehrheit eine demokratische Erneuerung in der DDR an, wurde die politische Option der Eigenstaatlichkeit nach der Öffnung der Berliner Mauer (09.11.1989) von großen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung nicht mehr geteilt. Auf den großen Demonstrationen wurde ab Dezember 1989 die Parole „Wir sind das Volk“ durch die auf die Nation bezogenen Leitsprüche „Wir sind ein Volk“ und „Deutschland einig Vaterland“ ersetzt.

Der Vereinigungsprozess war auch verbunden mit der Angst vor dem Erstarken des deutschen Nationalismus, insbesondere in Großbritannien und in Frankreich, die man von deutscher Seite aber zu zerstreuen versuchte. Nach Gesprächen mit allen vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges erlangte die BRD mit dem Abschluss des „Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ (12.09.90) wieder die vollständige Souveränität in inneren und äußeren Angelegenheiten. Durch den Grenzvertrag mit Polen (14.11.90) erkannte das vereinigte Deutschland die Oder-Neiße-Linie als endgültige deutsch-polnische Grenze an. Dieser Vertrag sowie die Änderung des GG, dass dessen territorialer Geltungsbereich nach der Vereinigung unabänderlich ist, zeigte den vollständigen Verzicht auf alle früher zum Deutschen Reich gehörenden Gebiete, auch das Wiedervereinigungsgebot wurde am 03.10.90 aus dem GG gestrichen. Auch dadurch konnte in den Nachbarstaaten der BRD Akzeptanz für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten gewonnen werden. Doch mit der Vereinigung waren die Debatten um die Nation nicht beendet.

Das vereinte Deutschland (seit 1990)

Durch die Vereinigung wurden zwei Bevölkerungen zusammengefasst, die über vierzig Jahre hinweg unterschiedliche Erfahrungen gemacht hatten. Die einstmals staatliche Spaltung wurde zu einer gesellschaftlichen („Wessis“ und „Ossis“). Vielen ehemaligen DDR-Bürgern fiel es schwer, ihre alten Wir-Gefühle auf das vereinte Deutschland zu übertragen, während die Bewohner der alten BRD scheinbar nahtlos anknüpfen konnten. Diese Befunde lassen daran zweifeln, ob man von dem nationalen Bewusstsein der Deutschen sprechen kann, stattdessen sei ein spezifisches „Ost-Bewusstsein“ erhalten geblieben, das nicht mit dem nationalen identisch sei, während die westdeutsche Bevölkerung ihr „West-Bewusstsein“ als Aspekt ihres nationalen Verständnisses interpretiere. (Blank 1997)

Nationalistische Autoren und Bewegungen stellten Mitte der 1990er-Jahre das Festhalten an bundesrepublikanischen Traditionen (Verfassungspatriotismus) infrage und forderten ein neues nationales Selbstbewusstsein, das an ethnische und kulturelle Deutungen der Nation anknüpfte. Eng mit dieser Sichtweise der „Neuen Rechten“ verbunden sind ein vehementer Geschichtsrevisionismus, autoritäre und antiliberale Einstellungen, ethnopluralistische Argumentationen und Forderungen nach einer machtstaatlich orientierten Außenpolitik.

Populistische „Euro-Skeptiker“ übten Kritik an der europäische Integration, indem sie ökonomische Streitfragen (z. B. DM vs. Euro; Eurokrise) oder Unmut über die EU-Bürokratie mit dem vermeintlichen Verlust „nationaler“ Identität und Souveränität oder des Wohlstands vermischten. Die zunächst vornehmlich als europaskeptisch wahrgenommene AfD wandte sich zunehmend nationalistischen, heterophoben und islamfeindlichen Positionen zu (Heitmeyer 2018).

Die aggressive Abwertung und Ausgrenzung von „Fremden“ ist ein Kennzeichen des deutschen Nationalismus. Nach 1990 kam es immer wieder zu brutalen Übergriffen gegen Asylsuchende und Ausländer. Debatten, ob Deutschland ein „Einwanderungsland“ sei oder der „Islam zu Deutschland gehört“, sind geprägt vom Vorwurf der nationalen Illoyalität und der Ablehnung ethnischer Heterogenität. Kurzzeitig schien es, dass im Zuge des „Sommermärchens“ (Fußball-WM 2006) ein „neuer Patriotismus“ entstünde, der sich nicht in Aggressivität und Nationalismus manifestiere. Die Nationalmannschaft schien ein Beispiel gelungener Integration zu sein. Doch die Reaktionen auf den Rücktritt von Mesut Özil 2018 zeigten die Ausgrenzungserfahrungen von Menschen aufgrund ihres Migrationshintergrunds oder ihrer religiösen Zugehörigkeit (#MeTwo). Diesen Debatten liegt nicht zuletzt die Frage zugrunde, wer als zur Nation zugehörig betrachtet wird.

Die Staatsangehörigkeit in Deutschland bestimmte sich seit dem Kaiserreich weitgehend nach dem Abstammungsprinzip (ius sanguinis), erst die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts durch die rot-grüne Bundesregierung (2000) etablierte Elemente des Territorialprinzips (ius soli). Die Debatten um diese Reform und ein Einwanderungsgesetz, die Integration von Zuwanderern und die Aufnahme von Flüchtlingen ab 2015 zeigen, dass sich die Vorstellungen Deutschlands als einer „Kultur-“ oder „Volksnation“ als persistent erweisen. Für nationalistische Parteien wie die AfD oder Gruppierungen (bspw. Pegida oder die Identitäre Bewegung) bilden sie einen Kern ihrer Programmatik (Heitmeyer 2018).

Auch in Teilen der politischen Linken hat die Nation als Bezugspunkt wieder an Bedeutung gewonnen, so in der Sammlungsbewegung „Aufstehen“, die u. a. durch den Soziologen Wolfgang Streeck unterstützt wird. Er argumentiert, so bereits 2013 in der Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“, dass sich die demokratische Gleichheit gegen eine neoliberale Aushöhlung des Sozialen, insbesondere durch die EU, nur in einem nationalstaatlichen Rahmen durchsetzen und verteidigen lasse.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Christian Bala

Fussnoten