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Land (Freistaat) Thüringen | bpb.de

Land (Freistaat) Thüringen

Michael Edinger

Historischer Hintergrund

Der Name Thüringen (TH) leitet sich vom germanischen Stammesverband der „Toringi“ ab, die erstmalig 395 beim römischen Schreiber Vegetius Renatus erwähnt werden. Von einem Land TH kann im staatsrechtlichen Sinne erst seit der Weimarer Republik gesprochen werden. Die Landesgründung erfolgte am 1. Mai 1920 nach langen Phasen kleinräumiger Entwicklung („Kleinstaaterei“). Mit dem Zusammenschluss von sieben Freistaaten in TH wurde eine „kleinthüringische Lösung“ realisiert ohne Coburg und die preußischen Gebiete um Erfurt. Hauptstadt des in der Verfassung von 1921 als Freistaat bezeichneten Landes TH wurde Weimar, das sich in den frühen Jahren der Republik zu einem Zentrum der künstlerischen Moderne entwickelte.

Das Land TH wurde nach dem schnellen Scheitern einer linksliberalen Regierung zunächst von einer Linkskoalition aus SPD und USPD/KPD regiert. Ab 1924 stellten die zunächst im „Ordnungsbund“ zusammengeschlossenen bürgerlichen Parteien die Regierung. Schon früh konnte sich die NSDAP als politische Kraft im Land etablieren. Nachdem die bürgerlichen Parteien in TH ihre absolute Mehrheit verloren hatten, stellte sie Anfang 1930 mit Frick erstmalig einen Landesminister im Deutschen Reich und bildete nach den Landtagswahlen 1932 eine überwiegend nationalsozialistische Regierung unter Sauckel. Nach der „Gleichschaltung“ wurde TH 1934 zu einem bloßen Verwaltungsbezirk herabgestuft.

Ein insoweit ähnliches Schicksal erfuhr das Land nach den halb-demokratischen Wahlen 1946, bei denen die SED die Hälfte der Mandate gewann. TH erhielt Ende 1946 eine eigene Verfassung, die zwar bereits deutlich von den neuen Machthabern und der sowjetischen Besatzungsmacht geprägt war, jedoch zahlreiche liberale Bestimmungen enthielt. Ihre Geltung blieb jedoch begrenzt, da die Länder in der DDR 1952 faktisch zugunsten der neu errichteten Bezirke (auf dem Gebiet von TH: Erfurt, Gera und Suhl) abgeschafft wurden. Erst mit der dt. Vereinigung erfuhr das Land TH eine Neugründung.

Bevölkerung – Gesellschaft – Wirtschaft

Mit etwa 2,14 Mio. Einwohnern (E.) Ende 2018 gehört TH zu den bevölkerungsschwachen Flächenstaaten Ds. Bevölkerungszentren sind die Landeshauptstadt Erfurt mit 213 Tsd. E. und Jena (111 Tsd.). Ähnlich den anderen ostdt. Ländern hat TH einen beträchtlichen Bevölkerungsrückgang verkraften müssen. Seit 1989 hat das Land im Saldo etwa ein Fünftel seiner Bevölkerung verloren, das sind mehr als eine halbe Mio. E. Die stärksten Wanderungsbewegungen sind zwischen 1989 und 1991 erfolgt, als viele Thüringer/innen das Land vorwiegend wegen der Arbeitsmarktlage in Richtung WestD verlassen haben. Nach einer über Jahre hinweg negativen Wanderungsbilanz ziehen seit 2013 (Ausnahme: 2016) wieder mehr Menschen nach TH, als das Land verlassen. Gleichwohl setzt sich der Trend des Bevölkerungsrückgangs fort, der 2015 durch die hohe Zahl Geflüchteter nur kurzzeitig unterbrochen worden ist. Die Verluste an E. gehen inzwischen allein auf die natürliche Bevölkerungsbewegung zurück, d. h. jedes Jahr sterben deutlich mehr E. als neue geboren werden.

Nach der Bevölkerungsvorausberechnung von 2015 wird die Zahl der E. des Landes noch vor Ende der 2020er-Jahre unter die Zwei-Millionen-Marke sinken. Der andauernde Bevölkerungsrückgang stellt sich regional sehr unterschiedlich dar und verschärft tendenziell das Stadt-Land-Gefälle. Während für die Zentren Erfurt und Jena ein moderater Zuwachs prognostiziert wird, verlieren die ländlichen Gebiete insbesondere im Osten und Südosten von TH bis 2035 mehr als 15 %, teils sogar mehr als 25 % ihrer E.

Die regionalen Ungleichgewichte werden durch Veränderungen der Altersstruktur zu Lasten der jüngeren Altersgruppen zusätzlich verstärkt. Der demografische Wandel bedeutet daher eine massive Herausforderung für die infrastrukturelle Entwicklung des ländlichen Raums – von der Verkehrsanbindung über die schulischen Angebote bis hin zur medizinischen Versorgung. Land und Kommunen bemühen sich durch eine Vielzahl von Maßnahmen (gebündelt u.a. in einer Digitalisierungsstrategie) um deren Bewältigung.

Die wirtschaftliche Entwicklung von TH ist nach 1990 zunächst durch die Privatisierung vormaliger Staatsbetriebe und die Einbindung in den internationalen Handel geprägt gewesen. Die grundlegende Umstrukturierung hat einerseits zum Niedergang als unrentabel geltender Produktionszweige und zu Massenentlassungen geführt. Andererseits sind in Teilen des Landes leistungs- und wettbewerbsfähige Betriebe entstanden. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) belief sich 2018 auf knapp 64 Mrd. €. Die Produktivität hat sich seit der dt. Einheit erheblich erhöht, liegt jedoch wie die verfügbaren Einkommen weit unter den westdt. Werten. THs Wirtschaft ist durch eine starke Exportorientierung charakterisiert, wobei gut zwei Drittel der Ausfuhren in die EU-Staaten gehen.

Die anfänglich sehr hohen Wachstumsraten sind bereits Mitte der 1990er-Jahre erheblich zurückgegangen und haben danach teils unter, teils über den westdt. Werten gelegen. Von der kurzen Rezession im Kontext der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise Ende der 2000er-Jahre hat sich TH relativ gut erholt. Maßgeblichen Anteil daran hat das Produzierende Gewerbe, das nicht nur am stärksten zur Bruttowertschöpfung beiträgt, sondern auch seit Jahren die im Vergleich der Wirtschaftsbereiche höchsten Wachstumsraten aufweist. Steigende Bedeutung kommt in TH als „grünem Herzen Ds“ und als Land mit einer hohen Kulturdichte dem Tourismus zu. Die Wirtschaftskraft von TH weist ein starkes regionales Gefälle auf, wobei der Wartburgkreis mit seinem Fahrzeug- und Maschinenbau und Jena zu den Innovationszentren zählen.

Zu den sozialen Kosten des wirtschaftlichen Transformationsprozesses gehört die lange Zeit hohe Arbeitslosigkeit, die 1997 mit knapp 19 % ihren höchsten Stand erreichte, bis 2018 aber auf 5,5 % sank. Damit wies TH zuletzt die niedrigste Arbeitslosenquote der ostdt. Länder und eine niedrigere als z. B. HB und NRW auf. Infolge der Entspannung auf dem Arbeitsmarkt Ende der 2010er-Jahre ist die Zahl der Bezieher/innen von Sozialleistungen erheblich gesunken. Gleichzeitig besteht in verschiedenen Branchen und Regionen, insbesondere im Süden von TH, ein Fachkräftemangel, der sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen wird.

Politisches System

Verfassung

Die Verfassung des Freistaats TH wurde als letzte der ostdt. Verfassungen 1993 verabschiedet. Nach kontroversen Beratungen fand sie die Zustimmung der damaligen Regierungsfraktionen CDU und FDP sowie der oppositionellen SPD, während die kleineren Oppositionsfraktionen PDS und Bündnis 90/Die Grünen (BGR) dagegen votierten. Endgültig in Kraft trat die Verfassung erst ein Jahr später, nachdem sie in einem Volksentscheid eine Zustimmung von 70 % erhalten hatte.

Im umfänglichen Grundrechtsteil ist der Verfassungsgeber verschiedentlich über die Bestimmungen des Grundgesetzes hinausgegangen und hat dadurch eigene Akzente gesetzt. Die Verankerung der politischen Opposition und das Recht auf politische Mitgestaltung verweisen ebenso wie Teile der Präambel auf die historischen Erfahrungen der SED-Diktatur und der nationalsozialistischen Terrorherrschaft. Im Staatsorganisationsrecht folgt die Ausgestaltung der Verfassungsorgane Landtag, Landesregierung und Verfassungsgerichtshof weitgehend den grundgesetzlichen Mustern. Mit der Bezeichnung von TH als Freistaat soll an eine republikanische Tradition angeknüpft werden, ohne dass damit aber staatsrechtliche Folgen verknüpft sind. Eingang in den Verfassungstext haben zudem Staatsziele wie Umweltschutz, Tierschutz, Wohnen und Arbeit gefunden.

Deren Verankerung war in den Verfassungsverhandlungen ebenso strittig wie die Ausgestaltung der direktdemokratischen Verfahren. Der schließlich erzielte Kompromiss sah die Möglichkeit von Volksbegehren und Volksentscheiden vor, setzte aber für die Anwendung relativ hohe Hürden. Nach einem nachträglich für verfassungswidrig befundenen Volksbegehren für mehr direkte Demokratie einigten sich die Landtagsfraktionen 2003 in der wichtigsten von bislang vier Verfassungsänderungen auf eine Absenkung der Zustimmungs- und Beteiligungsquoren. Sowohl die Landesregierung als auch die oppositionelle CDU haben in der 2019 zu Ende gegangenen 7. Wahlperiode verfassungsändernde Gesetzentwürfe zur Ausweitung direktdemokratischer Verfahren vorgelegt. Auch wenn es in TH nach 1994 zu keinem Volksentscheid mehr gekommen ist, haben Volksbegehren im Einzelfall politische Wirkung erzielt, so etwa das auf die Kindertagesstätten bezogene „Volksbegehren für eine bessere Familienpolitik“.

Organisation der Landesverwaltung

Der Verwaltungsaufbau in TH folgt der üblichen Unterteilung in oberste, mittlere und untere Landesbehörden. Eine Besonderheit stellt das Landesverwaltungsamt als zentrale Mittelbehörde dar, die ebenso Vollzugsaufgaben erfüllt wie sie Aufsichts- und Widerspruchsbehörde ist. Im Land gibt es sechs kreisfreie Städte sowie 17 Landkreise. Die Zahl der Städte und Gemeinden ist nach wiederholten Fusionswellen bis Ende 2018 auf 821 (von anfänglich mehr als 1700) gesunken, liegt damit aber etwa doppelt so hoch wie im bevölkerungsreicheren Nachbarland SN.

Die bislang einzige Kreisgebietsreform datiert auf die frühen 1990er-Jahre. Neben der Verfassungsgebung, den staatsorganisationsrechtlichen Aufbaugesetzen (Wahlgesetz usw.) sowie den Schul- und Mediengesetzen gehörte die Neugliederung zu den wichtigsten Gesetzesprojekten der ersten Wahlperiode. Das Vorhaben war sehr umstritten und führte auch innerhalb der Parteien zu heftigen Auseinandersetzungen.

Sämtliche Anläufe für eine weitergehende Gebietsreform in den 2010er-Jahren sind gescheitert. In der CDU-SPD-Regierung war die von Experten empfohlene Reform zwischen den Koalitionspartnern umstritten. Die rot-rot-grüne Regierung nahm von ihrem umfassenden Neugliederungsvorhaben nach Widerstand aus dem kommunalen Bereich und vom Landesverfassungsgericht monierten Verfahrensmängeln Abstand. Stattdessen wurden vor allem finanzielle Anreize für freiwillige Gemeindeneugliederungen gesetzt, durch die die Zahl der Gemeinden zum Jahresbeginn 2019 auf 664 reduziert worden ist und bis 2020 auf voraussichtlich knapp über 600 sinken wird.

Parteien, Wahlen, Wählerverhalten

Im zuletzt 2019 gewählten Landtag sind mit Ausnahme der CSU alle Bundestagsparteien vertreten. Die Parteien mit Vorläufern in der DDR-Zeit (CDU, PDS/Linke, FDP) haben seit Anfang der 1990er-Jahre massiv an Mitgliedern verloren. Die neu bzw. wieder gegründeten Parteien (SPD und Bündnis 90/Die Grünen) konnten von Beginn an nur eine überschaubare Zahl von Mitgliedern gewinnen. Mit inzwischen (Stand: Ende 2018) weniger als 10.000 Mitgliedern stellt die CDU die bei weitem mitgliederstärkste Partei des Landes, gefolgt von der Linken (ca. 4200) und der SPD (ca. 3800).

Die CDU hat nicht nur die meisten Mitglieder von allen Parteien in TH, sie ist aus den ersten sechs Landtagswahlen auch als stärkste politische Kraft hervorgegangen. Erst 2019 fiel sie mit einem Zweitstimmenanteil von knapp 22 Prozent hinter Die Linke und die AfD zurück (Abb. 1). 20 Jahre zuvor hatte die Union noch die absolute Mehrheit der Stimmen erreicht, bei den Wahlen 2009 und 2014 etwa ein Drittel der Wählerstimmen auf sich vereinen können. Die gesunkene Wählerunterstützung für die Union zeigt sich auch bei den Direktmandaten: Hatte sie bis einschließlich 2004 mindestens 39 der 44 Wahlkreise gewonnen, waren es 2009 noch 28, 2019 lediglich 21.

Der PDS/Linken ist es als einziger der etablierten Parteien bislang gelungen, bei jeder Landtagswahl ihr Ergebnis zu verbessern. 2019 wurde sie erstmals bei einer Landtagswahl in D stärkste Partei. Die SPD war nach ihrer Wahlniederlage 1999 für zwei Jahrzehnte drittstärkste politische Kraft in TH. Mit einem einstelligen Ergebnis 2019 verlor sie auch diese Position und stellt ähnlich wie im Nachbarland SN nur noch eine kleine Landtagsfraktion. Bündnis 90/Die Grünen konnten nach ihrem (Wieder-)Einzug in den Landtag 2009 bei allen Wahlen die Fünfprozentklausel überwinden. Hingegen verpasste die FDP 2014 den Wiedereinzug in den Landtag und erreichte ihn 2019 nur äußerst knapp. Mit der AfD ist seit 2014 eine Rechtsaußenpartei im Landtag vertreten; sie konnte ihren Stimmenanteil 2019 auf gut 23 Prozent mehr als verdoppeln.

Bis 2014 war die CDU in den meisten Alters- und Berufsgruppen die erfolgreichste Partei. Überproportional gute Ergebnisse erreichte sie bei Katholiken und Protestanten, älteren Wähler/inne/n sowie in der Gruppe der Selbständigen. In der Arbeiterschaft lag sie etwa gleichauf mit der Linken. Bei der Landtagswahl 2019 ist die Union bei fast allen soziodemografischen Gruppen hinter die Linke und/oder die AfD zurückgefallen. Die Linke wird traditionell überdurchschnittlich von den gewerkschaftlich organisierten und den konfessionslosen Wähler/inne/n unterstützt. Stark vertreten ist sie in den einstigen DDR-Bezirkshauptstädten Erfurt, Gera und Suhl sowie in der Universitätsstadt Jena, wo sie wiederholt Direktmandate gewinnen konnte. Eine besondere regionale Hochburg der CDU stellt seit jeher das katholische Eichsfeld dar, während die SPD-Wählerschaft kein deutliches regionales oder sozialstrukturelles Profil aufweist. Die AfD erreicht in strukturschwachen Gebieten überdurchschnittliche Resultate. Bei Männern ist sie weit erfolgreicher als bei Frauen. 2019 wurde sie in allen Altersgruppen unter 45 Jahre sowie in der Gruppe der Arbeiter stärkste Partei.

Parteiensystem

Über fast zwei Jahrzehnte hinweg nahm die CDU eine dominante Stellung im Parteiensystem von TH ein. Die anfänglich starke Asymmetrie im Parteiensystem ist jedoch mit dem Erstarken der Linken nahezu verschwunden (Tab. 1). Die SPD stellt seit 2019 nur noch die viertstärkste politische Kraft dar. Von ihrer relativ zentralen Position im Parteiensystem und ihrer Koalitionsfähigkeit in beide politischen Richtungen profitierte sie bei Wahlen nicht. Gleichwohl fiel ihr sowohl 2009 als auch 2014 bei der Regierungsbildung die Rolle des „Königmachers“ zu. Bezogen auf ihr Wahlergebnis konnte sie 2009 in die Koalitionsvereinbarung mit der CDU viele eigene Positionen einbringen und 2014 drei ihr wichtige Ressorts in der rot-rot-grünen Landesregierung besetzen.

Indikatoren der Entwicklung des Thüringer Parteiensystems

Tab. 1

Eigenschaft

Indikator

1990

1994

1999

2004

2009

2014

2019

Format

Zahl der im Landtag vertretenen Fraktionen

5

3

3

3

5

5

6

Dominanz

Kumulierte Stimmenanteile der beiden stärksten Parteien

68 %

72 %

72 %

69 %

59 %

62 %

54 %

Asymmetrie

Differenz stärkste – zweitstärkste Partei

23 %p.

13 %p.

30 %p.

17 %p.

4 %p.

5 %p.

8 %p.

Fragmentierung

Effektive Zahl der Parlamentsparteien

3,08

2,68

2,45

2,55

3,80

3,70

4,31

Segmentierung

Politisch ausgeschlossene Koalitionen∗

4 v. 10

2 v. 3

1 v. 3

1 v. 3

2 v. 10

5 v. 10

7 v. 15

Volatilität

Veränderungen der Stimmverteilung von einer Wahl zur nächsten

16 %p.

18 %p.

17 %p.

15 %p.

15 %p.

22 %p.

Tabellenbeschreibung

∗zwischen zwei im Landtag vertretenen Parteien unabhängig von der rechnerischen Möglichkeit einer Koalitionsbildung

Quelle: eigene Berechnungen überwiegend mit Daten des Thüringer Landesamts für Statistik

Die Entwicklung des Parteiensystems in TH ist durch starke Schwankungen im Wählerverhalten (elektorale Volatilität) geprägt. Charakteristisch sind darüber hinaus seit 2009 eine deutliche Fragmentierung und mit dem Einzug der AfD in den Landtag 2014 eine erneute Segmentierung, d. h. eine Abschottung der Parteien voneinander (Tab. 1). Zu beiden Entwicklungen hat die in TH vom nationalkonservativen Flügel dominierte, teils als rechtsextrem, teils als rechtspopulistisch eingestufte AfD wesentlich beigetragen. Wie in anderen Ländern wird durch die zusehende Segmentierung die Regierungsbildung gravierend erschwert.

Landesregierungen

TH ist das erste und bislang einzige Land, das von einem Ministerpräsidenten aus den Reihen der Linken geführt wird. Der seit Ende 2014 amtierende und über Parteigrenzen hinweg populäre Regierungschef Bodo Ramelow stand bis Ende November 2019 einer Dreiparteien-Koalition aus Die Linke, SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor. Seitdem ist die Regierung nur noch geschäftsführend im Amt, da sie bei der Landtagswahl 2019 ihre parlamentarische Mehrheit verloren hat.

Die Bildung einer rot-rot-grünen Regierung unter Führung der Linken fand über TH hinaus Beachtung und wurde zeitweilig als Signal für neue Koalitionsoptionen im Bund interpretiert. Die anfängliche intensive Beobachtung mag Anreiz für die neue Landesregierung gewesen sein, zwar linke programmatische Akzente etwa in der Bildungs-, Umwelt- und Flüchtlingspolitik zu setzen, insgesamt aber auf die konfrontative Durchsetzung von umstrittenen eigenen Vorhaben zu verzichten. Begünstigt wurde dieser pragmatische Kurs durch unerwartete finanzielle Spielräume, die gleichzeitig die Erhöhung des Landeshaushalts und den Abbau von Schulden ermöglichten.

Zuvor hatte fast ein Vierteljahrhundert lang die CDU den Ministerpräsidenten gestellt. Anfänglich war dies mit Josef Duchač ein langjähriges Mitglied der CDU der DDR, das zuvor Regierungsbevollmächtigter für den Bezirk Erfurt war. An seine Stelle trat nach dem von parteiinternen Kritikern herbeigeführten Rücktritt mit Bernhard Vogel ein prominenter westdt. Berufspolitiker und früherer Ministerpräsident von RP. In seiner mehr als zehnjährigen Amtszeit führte Vogel zunächst die seit 1990 bestehende Koalition mit der FDP fort, ging dann ein Regierungsbündnis mit der SPD ein (1994–99) und bildete nach dem Wahlsieg 1999 die erste von zwei CDU-Alleinregierungen. 2003 machte Vogel mit seinem frühzeitigen Rücktritt den Weg für seinen Nachfolger Dieter Althaus frei. Unter dessen Führung verteidigte die Union ihre absolute Mehrheit im Landtag 2004 knapp.

Nach den Stimmeneinbußen der Union bei der Landtagswahl 2009 war ihre weitere Regierungsbeteiligung zunächst unsicher, da die SPD auch mit der Linken und Bündnis 90/Die Grünen Sondierungsgespräche führte. Erst nach deren Scheitern wurde die zweite schwarz-rote Regierungskoalition unter Christine Lieberknecht gebildet. Die Pastorin mit langjähriger Führungserfahrung in Regierungs- und parlamentarischen Ämtern war die erste ostdt. Ministerpräsidentin. 2014 entschied sich die SPD nach ihrem Wahldebakel gegen eine Fortsetzung der Koalition mit der CDU. Stattdessen wurde sie Teil der rot-rot-grünen Landesregierung unter Führung der Linken unter Ramelow. Offen ist, ob die bisherigen Koalitionspartner nach dem Verlust ihrer parlamentarischen Mehrheit 2019 eine Minderheitsregierung bilden werden.

Politische Rolle in Deutschland

Angesichts seines Charakters als kleiner Flächenstaat bleibt THs bundespolitische Rolle naturgemäß begrenzt. Das Land verfügt im Bundesrat wie die meisten ostdt. Länder über vier Sitze. Im 19. Deutschen Bundestag wird TH durch 22 Abgeordnete vertreten, darunter erstmalig auch 5 Parlamentarier der AfD. Bei der Bundestagswahl 2017 gewann die CDU zum zweiten Mal in Folge alle (mittlerweile noch acht) Direktmandate.

Bundesweite Aufmerksamkeit erfuhr Thüringen nach den beiden letzten Landtagswahlen: 2014 wurde erstmalig ein Politiker der Linken zum Ministerpräsidenten gewählt. 2019 verfügten CDU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen zusammen über keine Mehrheit im Landtag. Diese parlamentarischen Kräfteverhältnisse bedeuten ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik. Sie machen zudem wegen der Sonderstellung der AfD und der wechselseitig ausgeschlossenen Koalition zwischen Linken und CDU die Bildung einer Mehrheitsregierung nahezu unmöglich.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Michael Edinger

Fussnoten