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Interessengruppen | bpb.de

Interessengruppen

Rolf G. Heinze

Schon ein kurzer Blick auf das System der Interessengruppen in D macht deutlich, dass traditionell einige Interessen besonders gut organisiert sind, während andere nur unzureichend im organisierten Interessenspektrum vertreten sind. Am ehesten organisieren sich homogene, durch eine gemeinsame ökonomische Lage und ggf. Deprivationen gekennzeichnete Statusgruppen. Dies zeigt sich sowohl an der Entwicklung der → Gewerkschaften als auch bei den Wirtschaftsverbänden sowie einiger Statusgruppen wie Ärzte oder Bauern. Durch diese ökonomische Logik werden allgemeine, außerhalb der Produktionssphäre angesiedelte Interessen strukturell benachteiligt. Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um allgemeine Interessen aus den Bereichen Umwelt, Verkehr etc. Wenngleich manche dieser Interessen inzwischen eine organisatorische Interessenvertretung gefunden haben, und der Eindruck entstehen könnte, jedem Interesse sei eine Organisation zuzuordnen, so müssen doch die vielfältigen organisatorischen Schwierigkeiten gesehen werden, die die strukturellen Restriktionen nicht gänzlich außer Kraft setzen können.

Die lückenhafte Entstehung von Organisationen wurde von M. Olson (1968) durch den am methodologischen Individualismus orientierten ökonomischen Ansatz der „Logik kollektiven Handelns“ erklärt, der sich gegen die von pluralistischer Seite vertretene Gleichgewichtsthese aussprach, der zufolge einem mächtigen Verband quasi automatisch ein gleich starker Gegenverband Paroli bietet. Vielmehr wird nachgewiesen, dass mit steigender Gruppengröße die Bereitschaft zur Organisierung abnimmt, da die von dem Verband angebotenen und erkämpften politischen Güter (z. B. höhere Löhne bei den Gewerkschaften) unteilbar sind (Kollektivgüter) und so auch den Nichtmitgliedern zur Verfügung stehen, so dass ein ökonomisch rational handelndes Individuum nur durch persönliche Anreize (etwa besondere Serviceleistungen) zum Organisationsbeitritt bewogen werden kann.

Die Möglichkeit, im Verbandssystem Bedeutung zu erlangen, ist neben der Organisationsfähigkeit im Wesentlichen durch die Konfliktfähigkeit von Interessen bestimmt. Diese beweist sich in den Entzugsmöglichkeiten als Sanktionen gegenüber anderen Interessengruppen oder staatlichen Instanzen. Ein wirksames Druckmittel ist die Zurückhaltung von Kapital und/oder Arbeit, wie sie etwa von Unternehmerverbänden und Gewerkschaften in Konflikten eingesetzt wird (z. B. bei einem → Streik). Ein weiteres Druckmittel von Verbänden gegenüber politischen → Parteien, das seit Bestehen der Interessengruppen eine große Rolle spielt, ist die Drohung mit dem Entzug von Wählerstimmen. Die Effektivität solcher Drohungen ist von gewissen Konstellationen im politischen System abhängig. Wenn bspw. ein Wechsel der Parteipräferenzen bei knappen Mehrheiten im Parlament angedroht werden kann, steigt der Einfluss von Interessenorganisationen. Vergleicht man das Durchsetzungspotenzial gewisser ökonomischer Interessengruppen mit den geringen Entzugsmöglichkeiten anderer Gruppen, etwa der Behinderten, Kinder, Hausfrauen, alten Menschen, Verbraucher etc., dann wird deren geringerer politischer Einfluss einsichtig. Manche dieser kaum konfliktfähigen und oft auch nur schwer zu organisierenden Gruppen werden im Vereins- und Verbandssystem meistens durch von den Betroffenen nicht selbst entwickelte soziale Organisationen (z. B. Wohlfahrtsverbände) repräsentiert.

Die Organisierung von Interessen und die dabei auftretenden strukturellen Asymmetrien (Organisations- und Konfliktfähigkeit) erweisen sich als wesentliche Filterfunktionen für das real existierende Verbandssystem, in dem nur eine begrenzte Zahl von organisierten Interessen mit unterschiedlichen Machtressourcen vertreten ist.

Bevor eine empirisch orientierte Typologie der Interessengruppen diskutiert wird, muss zunächst geklärt werden, was unter einer Interessengruppe bzw. einem Verband zu verstehen ist. Generell geben die selbst gewählten Bezeichnungen der Organisationen nur wenig Auskunft über ihre wirklichen Ziele und Vorgehensweisen. Organisationen, die ökonomische Interessen vertreten, tragen die Bezeichnung Verband oder eben Gewerkschaft, und die mehr im Freizeitbereich engagierten Organisationen nennen sich Verein, aber aus diesen Bezeichnungen ist nicht immer klar ersichtlich, welche konkreten Zielsetzungen von den Interessenorganisationen verfolgt werden. Für eine Klassifizierung ist deshalb eine sozialwissenschaftliche und teilweise auch juristische Abgrenzung wichtig. Die Bemühungen um eine sozialwissenschaftliche Definition und Analyse der Verbände und Vereine sind schon sehr alt. Bereits M. Weber bezeichnete 1910 auf dem ersten Deutschen Soziologentag die Entwicklung einer „Soziologie des Vereinswesens“ als fundamentale Aufgabe einer Gesellschaft für Soziologie, da sich in Deutschland eine Vielzahl von Vereinigungen konstituiert hatte und ihm der damalige Mensch als ein „Vereinsmensch in einem fürchterlichen, nie geahnten Maß“ vorkam (Weber 1924, S. 442).

In der heutigen Diskussion hat sich eine relativ weite Definition durchgesetzt, die sowohl Verbände als auch Vereine umfasst. von Alemann und Heinze (1990) haben auf Basis historisch vorliegender Abgrenzungen eine Typologie organisierter Interessengruppen entwickelt, die sich an Handlungs- und Politikfeldern orientiert:

  1. Organisierte Interessen im Wirtschaftsbereich und in der Arbeitswelt (Unternehmer- und Selbstständigenverbände, Gewerkschaften, Konsumentenverbände)

  2. Organisierte Interessen im sozialen Bereich (Sozialanspruchsvereinigungen, Sozialleistungsvereinigungen, Selbsthilfegruppen)

  3. Organisierte Interessen im Bereich der Freizeit und Erholung (Sportvereine und -verbände, Geselligkeits- und Hobbyvereine)

  4. Organisierte Interessen im Bereich von Religion, Kultur und Wissenschaft (Kirchen, Sekten, wissenschaftliche Vereinigungen, Bildungswerke, Kunstvereine)

  5. Organisierte Interessen im gesellschaftspolitischen Querschnittsbereich (ideelle und gesellschaftspolitische Vereinigungen)

Aber auch eine solche Klassifizierung hat ihre Schwächen. Es ist schwer, einen ADAC, der gleichzeitig Autosportclub, Autofahrerverbraucherverband, Reiseunternehmen und Dienstleistungsorganisation in einem ist, einzuordnen. Ebenso vertreten auch die Gewerkschaften oder die → Kirchen soziale, kulturelle und allgemein gesellschaftspolitische Interessen ihrer Mitglieder.

Auf lokaler Ebene ist die überwiegende Mehrzahl der Interessengruppen als Verein organisiert. Sie sehen ihr wichtigstes Ziel nicht in der Durchsetzung sozialökonomischer Interessen. Die unmittelbare politische Relevanz des Vereinswesens ist meist nur randständig. Hauptzweck der freiwilligen Vereinsarbeit bleibt die gemeinsame Ausübung von Freizeit- und Hobbyinteressen. Politisch wirken die Vereine in erster Linie indirekt als Vermittler von politischer Sozialisation und Kommunikation. So gesehen hat das Vereinsleben nicht nur eine Komplementärfunktion als Ausgleich zur Arbeitswelt, sondern es hat auch eine wichtige gesellschaftliche, sozialintegrative Funktion.

Schätzungen zufolge gab es in der „alten“ Bundesrepublik über 200.000 Interessenvereinigungen, darunter ca. 40.000 Sportvereine und über 5000 Verbände im engeren politischen Sinne. Rund 1200 Verbände waren bereits in der Bonner „Lobbyliste“ registriert; diese Zahl ist in der „Berliner Republik“ weiterhin gewachsen (so sind allein um das Gesundheitsministerium über 400 Lobbyverbände angesiedelt). Weit über die Hälfte aller Bundesbürger gehören einem Verein an, 1/4 der Bürger ist sogar Mitglied in mehr als einer Vereinigung. Rechnet man die Mitgliedschaft im ADAC oder sogar in einer der Religionsgemeinschaften dazu, so schrumpft die Zahl der nichtorganisierten Bundesbürger auf eine Minderheit. Allerdings zeigt sich eine auffallende Kluft zwischen formaler Mitgliedschaft einerseits und subjektiver Vereinszugehörigkeit andererseits, die sich daraus erklärt, dass viele Mitglieder in den Interessenvereinigungen nur eine passive Rolle innehaben.

Im Zentrum der bisherigen sozialwissenschaftlichen Forschung über Interessengruppen steht die Einflussnahme auf staatliche Entscheidungen. Bis Ende der 1950er-Jahre wurde der Einfluss der Verbände vorwiegend als Gefahr für den Staat gedeutet, oft war von einer „Herrschaft der Verbände“ die Rede. Vor allem durch die Einbeziehung von empirischen Untersuchungen über einzelne Politikverlaufsmuster konnten die konservativen Befürchtungen vor einer Übermacht der Verbände, die dem staatlichen Souveränitätsanspruch entgegenstünde, widerlegt werden. Die empirischen Studien zur Entstehung einzelner Gesetze kamen zu dem Ergebnis, dass im Gesetzgebungsprozess keine alleinige Dominanz einzelner Interessenverbände zu erkennen ist. Von einer „Herrschaft der Verbände“ in einem umfassenden Sinne ist also in dieser Form nicht zu sprechen. Allerdings nehmen die von den Gesetzgebungsverfahren direkt betroffenen Verbände in den jeweiligen Politikfeldern Einfluss hierauf, wobei sich die großen Verbände (wie etwa die Ärzteverbände) in der Regel gegenüber den kleineren Vereinigungen durchsetzen können. Allerdings haben die traditionellen Großverbände wie etwa der Bauernverband in den letzten Jahrzehnten an Macht eingebüßt.

Zwischen den Parteien und den Interessengruppen ergibt sich eine gegenseitige Abhängigkeit daraus, dass die Verbände über die Parteien direkten Einfluss auf den Politikformulierungsprozess bekommen, während die Parteien von den Verbänden vor allem bei → Wahlen unterstützt werden. Zudem haben die Verbände die Möglichkeit, schon relativ früh im Gesetzgebungsverfahren auf die → Ministerialbürokratie einzuwirken, die ihrerseits auf die Informationen der Verbände angewiesen ist. Auch hier ergeben sich wechselseitige Verflechtungen.

Integration und funktionale Repräsentation von Verbänden im politisch-administrativen System stehen im Zentrum der Debatten über → „Neokorporatismus“. Von der Institutionalisierung werden nicht alle Interessengruppen gleichermaßen erfasst, sondern vorwiegend die Spitzenverbände in den jeweiligen Politikfeldern. Diese Verflechtungen schaffen beiden Seiten Vorteile: dem Staat größere Steuerungskapazitäten, den Verbänden eine Bestandsgarantie und eine wirksame Durchsetzung ihrer Interessen. Die Einbeziehung der Verbände in die Politikformulierung und -implementation, die in Deutschland schon seit der Weimarer Republik beobachtet werden kann, löst die Dualität von Staat und Gesellschaft weiter auf. Diese gleichzeitige Verstaatlichung der Interessenverbände und Vergesellschaftung des Staates lässt sich – wenn auch in einem unterschiedlichen Ausmaß – in allen westlichen Ländern belegen.

Das bundesdeutsche System organisierter Interessen und die gewachsenen Verflechtungen zwischen Verbänden und Staat stehen seit Anfang der 90er-Jahre vor neuen Herausforderungen, die zum einen (1) aus der Transformationsproblematik des Übergangs zu Marktwirtschaft und Demokratie in den neuen Bundesländern und zum anderen (2) aus der Internationalisierung und Globalisierung von Wirtschaft und Politik (insbesondere auch im Kontext der Europäischen Union) erwachsen.

Ad 1) Zwar gab es auch in der ehemaligen → DDR eine Reihe von verbandsförmigen Interessenorganisationen, diese aber waren in ihrer Zahl und Reichweite beschränkt und fungierten eher als ein „Transmissionsriemen“ (Lenin) der Funktionseliten im Sozialismus. Die gesellschaftlichen Massenorganisationen der DDR (wie bspw. der FDGB oder die FDJ) und selbst die kleineren gesellschaftlichen Organisationen hatten fest umrissene Funktionen, insbesondere Kontrollfunktionen. So konnten sich unter der allgegenwärtigen Vorherrschaft des Partei- und Staatsapparats keine autonomen funktionellen Subsysteme entfalten, Inzwischen hat sich das Bild der Interessengruppen in den ostdeutschen Ländern dem westdeutschen Muster immer mehr angeglichen. In der anfänglichen Zwischenphase konkurrierten drei Typen von Interessenverbänden um Mitglieder und Einfluss: (1) „Altorganisationen“, die bereits in der DDR als „autoritär-korporatistische“ Formen der Interessenvermittlung existierten und die nach der „Wende“ versuchten, ihren Bestand durch eine Besetzung neuer Themen und eine radikale Reorganisation ihrer Strukturen zu wahren. (2) Ostdeutsche Neugründungen, die an die eher informellen Formen kollektiven Handelns in der ehemaligen DDR anknüpften. Gleichzeitig erzeugte der Transformationsprozess neue Interessengruppen, die ebenfalls zur Organisationsbildung drängten. (3) Zweigniederlassungen und Tochterorganisationen westdeutscher Organisationen, die sich dem Institutionentransfer von West nach Ost verdanken. Spätestens mit der einseitigen Beitrittserklärung der ehemaligen DDR in den Geltungsbereich des Grundgesetzes (1990), die einem endgültigen Abbruch des nationalen Bezugsrahmens gleichkam, ergab sich für alle DDR-spezifischen Interessenorganisationen ebenso wie für die in Ostdeutschland im Aufbau befindlichen westdeutschen Tochterorganisationen und Zweigniederlassungen eine Konkurrenzsituation, auf die die westdeutschen Organisationen teils mit Ignoranz, teils mit aktiven Wettbewerbsstrategien und teils mit Kooperationsangeboten reagierten. In dieser Konkurrenzphase verringerte sich die Vielzahl an Organisationsformen praktisch wieder auf ein Maß, das der westdeutschen Praxis entspricht. Im Rückblick zeigt sich ferner, dass die offene Konkurrenz zwischen den drei Organisationstypen letztlich zu einer Dominanz jener Formen assoziativen Handelns geführt hat, die als Ausweitung der westdeutschen Verbände oder aber als solche Neugründungen anzusehen sind, die in das westdeutsche System organisierter Interessen integriert werden konnten. Diese Angleichung an die westdeutschen Strukturen schließt freilich nicht aus, dass im ostdeutschen System organisierter Interessen Repräsentations- und Steuerungsprobleme auftreten, die auch auf die westlichen Organisationen und ihre gemeinsamen Spitzenorganisationen ausstrahlen.

Ad 2) Die Internationalisierung der Wirtschaft, insbesondere die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes, der damit verbundene Funktionswandel des Nationalstaates, insbesondere die deutliche Begrenztheit staatlichen Handelns gegenüber einer entgrenzten Wirtschaft sowie die zumindest ansatzweise erkennbare supranationale Staatlichkeit, insbesondere der Europäischen Union, erzeugen für die organisierten Interessen die Notwendigkeit, ebenfalls einen Prozess der Internationalisierung bzw. Europäisierung einzuleiten. Dabei ist offen, ob und inwieweit die Erzeugung verbandlicher Handlungsfähigkeit auf der supranationalen Ebene gelingen kann. Zwar ist nicht zu übersehen, dass in den letzten beiden Dekaden eine unüberschaubare Vielzahl von Interessengruppen auch in der Europäischen Politik durch ihre neuen Verbände unmittelbar präsent sind. Aber es wird bezweifelt, dass die Interessengruppen und ihre Vertretungsorgane in der Europäischen Politik jene selbstregulativen Potenzen entwickeln können, die ihnen im nationalen Kontext in der Soziologie organisierter Interessen, insbesondere in der Korporatismusforschung, zugeschrieben wurden.

Die Stabilität „neokorporatistischer“ Arrangements wird vor allem im Bereich der Einkommens- und Wirtschaftspolitik fraglich. Der wachsende Kosten-, Effizienz- und Flexibilitätsdruck aufgrund stärker globalisierter Märkte und der Billiglohn-Konkurrenz osteuropäischer Volkswirtschaften greift das verbandliche Fundament der Arbeitsbeziehungen an. Die Tarifautonomie wird nicht nur durch die strukturellen Defizite der Gewerkschaften, sondern auch durch die Schwäche der Arbeitgeberverbände in Frage gestellt. Die in den letzten Jahren weiter abnehmende Bedeutung des Flächentarifvertrags und die weitere Schwächung der Arbeitgeberverbände bedingen sich dabei gegenseitig. Der Strukturwandel wichtiger Interessengruppen in diesem Sektor entscheidet damit auch über die Zukunft der Arbeitsbeziehungen in Deutschland.

Im „Modell Deutschland“ sind die ökonomischen Interessengruppen und ihre Interessenorganisationen, insbesondere die Spitzenverbände der Arbeitgeber und der Gewerkschaften, immer wieder in die politische Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse einbezogen worden. Mit der Regierungsübernahme durch die rot-grüne Koalition im Herbst 1998 wurde mit dem „Bündnis für Arbeit“ ein erneuter Anlauf unternommen, die Politik der Spitzenverbände und der Regierung in der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik abzustimmen, wobei Vorbilder aus dem Ausland wegweisend waren. Eine Bilanz fällt allerdings ernüchternd aus; die in Aussicht gestellten Reformen auf dem Arbeitsmarkt wurden nicht eingeleitet, die im Bündnis zentralen Großorganisationen haben sich von ihren Leitbildern und ihrer institutionellen Eigenlogik kaum lösen können. Bewegung kam in die arbeitsmarktpolitische Reformdebatte erst durch die von der Bundesregierung initiierte „Hartz-Kommission“. An der Einsetzung dieser Kommission erkennt man exemplarisch eine Neuorientierung, die die Strategie der Kooperation mit den zentralen Großverbänden auf Makroebene ablöste und neue, wiederum temporäre Gremien zur Konsensbildung schaffte, um die festgefahrenen Organisationsrituale durch innovative Anstöße voranzubringen. Insgesamt sprechen die verschiedenen Initiativen der Bundesregierung in den letzten Jahren dafür, von einer beginnenden Transformation des traditionellen deutschen Wohlfahrtsstaatsmodells zu sprechen. Und der betrifft massiv das System der organisierten Interessen und das Kernstück der korporativen Marktwirtschaft: den deutschen Korporatismus, der im Nachkriegsdeutschland zum sozialen Integrationsmodell wurde und nun – nicht nur durch die Globalisierung – erodiert. Auch in anderen Policyfeldern zeigen sich neue Governancestrukturen, verbunden mit neuen Wettbewerbselementen (etwa in der Sozial- und Gesundheitspolitik mit „Wohlfahrtsmärkten“), die auf einen tendenziellen Ausstieg aus korporatistischen Strukturen und Bedeutungsverluste der traditionellen Interessengruppen hinweisen (vgl. die Beiträge in Heinze et al. 2018). Der staatlichen Politik bleibt, nachdem die „Verpflichtungsfähigkeit“ der Verbandseliten immer weniger greift, deshalb gar keine andere Wahl, als die funktionalen Ressourcen der wissenschaftlichen Experten und Organisationen in Beiräten und Kommissionen zu nutzen.

Politiktheoretische Argumentationen sprechen in diesem Kontext von einer „Zerfaserung“ der Staatlichkeit, den Wandel vom hierarchischen zum kooperativen Staat, um die Regierbarkeit zu sichern. Die zentralen Institutionen wie Verbände, Gewerkschaften und Parteien sind fokussiert auf Stabilität und Kontinuität und tun sich schwer mit disruptiven Innovationen wie die derzeitigen Digitalisierungsprozesse, die ein erhöhtes Maß an Flexibilität und rascher politischer Entscheidungen erfordern.

Generell stellt für alle Interessengruppen die Digitalisierung eine große Herausforderung dar. Sie wird in Zeitdiagnosen als wesentlicher Motor disruptiver sozialer Umbrüche genannt und führt zu einer wachsenden Singularisierung der Gesellschaft. Digitale Netzwerke haben inzwischen im Alltagsleben vieler Menschen große Bedeutung erlangt und beeinflussen immer mehr auch politische Entscheidungen. Dies hat immense Folgewirkungen auf die Organisationsidentität und -praxis gerade von Großverbänden, denn Singularisierung bedeutet, dass selbstgewählte Kollektive, die zumeist kulturelle Begründungsmuster haben, zu zentralen Vergesellschaftungsformen werden (vgl. die Beiträge in Heinze et al. 2019). Eine solche Logik des Besonderen stellt alle traditionellen Großorganisationen vor erhebliche Organisations- und Legitimationsprobleme und deshalb wird nicht nur vom „Niedergang“ der Volksparteien gesprochen, vielmehr sind alle soziopolitischen Großorganisationen von einer internen Auszehrung bedroht. Im Kontext eines gewachsenen Misstrauens gegenüber soziopolitischen Organisationen und der „Wahldemokratie“ artikulieren sich immer stärker zivilgesellschaftliche Gegenmächte. Digitale Netzwerke scheinen insbesondere in der Mobilisierung und Organisierung von Protest jenseits etablierter Interessengruppen eine wachsende Rolle zu spielen – vom „Arabischen Frühling“ bis hin zu Pegida und den Protestwellen der „Gelbwesten“ in Frankreich 2018/2019 gegen die Politik von Präsident Macron. So haben sich bspw. in Deutschland abseits etablierter Verbände neue „Communities“ nicht nur im Feld der Flüchtlingshilfe gebildet. Insbesondere in diesen neuen Netzwerken lässt sich die Bedeutung digitaler Medien beobachten, denn diese werden nicht nur für die Öffentlichkeitsarbeit genutzt, sondern sind genuiner Bestandteil der Engagementkoordination und spielen eine zentrale Rolle für das Funktionieren dieser Gruppen, da mit ihrer Hilfe die Organisation und Kommunikation unter den Engagierten als auch der Austausch mit der Zielgruppe gewährleistet wird.

Die Dynamik digitaler Netzwerke trifft die traditionellen Interessengruppen zu einem Zeitpunkt, in dem organisationsintern oft eher ein Gefühl der Erstarrung vorherrscht. Deshalb überrascht auch nicht der tendenzielle Rückzug gerade jüngerer Menschen von den klassischen Interessengruppen, was sich nachhaltig an den zurückgehenden Mitgliederzahlen und vor allem den internen Aktivitäten zeigen lässt. Sie sind auch deshalb von einer internen Auszehrung bedroht, weil immer mehr Menschen „Bastelbiographien“ entwickelt haben, die eine langfristige Bindung erschweren. Selbst Umweltverbände und soziale Netzwerke klagen über sinkenden Zulauf, was in den gewachsenen Individualisierungsprozessen begründet liegt. Dennoch ist vor voreiligen Krisendiagnosen, die eine zunehmende Erosion der traditionellen Interessenverbände prognostizieren, zu warnen. Sicherlich müssen sich viele einem organisatorisch oft schmerzhaften Wandlungsprozess unterwerfen, dennoch bedeutet dies in den meisten Fällen keinen Untergang, sondern teilweise nur eine Schwächung der Organisationskraft und insgesamt eine Pluralisierung der Landschaft der Interessengruppen. Gesamtgesellschaftlich reduziert allerdings die zurückgehende Bindungskraft und damit schrumpfende Integrationsfähigkeit der Interessengruppen die Steuerungsressourcen der Politik. Regieren wird damit schwieriger und aufwendiger, denn die Mitwirkungsoptionen werden einerseits vielfältiger, andererseits unübersichtlicher und es gilt auch, auf unkonventionelle Politikformen einzugehen.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Rolf G. Heinze

Fussnoten