Zielkonflikte
Gesundheitspolitik bezeichnet die Institutionen, Prozesse und Entscheidungen zur Gestaltung und Finanzierung von Maßnahmen zur Verhinderung, Abwehr und Linderung von Krankheiten. Der wichtigste Bereich der staatlichen Gesundheitspolitik ist die Regulierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im Sozialgesetzbuch V (SGB V). Die GKV geht in ihren Grundstrukturen auf die bereits 1883 unter dem damaligen Reichskanzler Otto von Bismarck gegründete Krankenversicherung zurück. Wesentliche Strukturelemente des Bismarck-Systems sind die Finanzierung über Beiträge, die Organisation über Selbstverwaltungsorgane und das gegliederte Kassensystem. Grundlegend ist zudem ein eingeschränktes Solidarprinzip, das unter anderem durch das Sachleistungsprinzip gesichert werden soll. Das Solidarprinzip fordert eine Bereitstellung von gemeinschaftlich finanzierten Leistungen ohne zwingenden Bezug zum finanziellen Beitrag des Einzelnen. Es führt insbesondere zu Umverteilungen zwischen Menschen mit unterschiedlichen Einkommen, Alter, Geschlecht, Zahl der Familienangehörigen und Betroffenheit von (vor allem chronischen) Krankheiten.
Neben dem Prinzip der Solidarität lassen sich drei weitere grundsätzlichen Ziele des Gesundheitswesens identifizieren, die in einem „magischen“ Verhältnis zueinanderstehen, da sie nicht zeitlich parallel zu gleichen Teilen verfolgt werden können. Infolge einer öffentlich diskutierten „Kostenexplosion“ trat seit den 1970er-Jahren das Ziel der Finanzierbarkeit in den Vordergrund. Solidarität und Finanzierbarkeit stehen in keiner zwingenden Konkurrenz zueinander. Beide Ziele lassen sich durch eine verbesserte Effizienz des Gesundheitswesens gleichzeitig optimieren. Durch den Abbau von Über- und Fehlversorgung, die Stärkung der Prävention und die systematische Nutzung von Studien zum Nutzen von Behandlungsmethoden im Rahmen möglichst anerkannter Methoden („evidenzbasierte Medizin“) sollen die begrenzten Ressourcen so eingesetzt werden, dass notwendige und sinnvolle Leistungen für niemanden beschränkt werden müssen. Dies kann durch staatliche Vorgaben, im Rahmen von Verhandlungen der Selbstverwaltungsorgane oder im Kontext wettbewerblicher Strukturen umgesetzt werden (Busse et al. 2017).
Eine verbesserte Effizienz des Gesundheitswesens kann allerdings bedeuten, dass die Beschäftigungspotentiale des Gesundheitswesens und die Einkünfte in der Gesundheitswirtschaft gefährdet werden. Aktuell ist das Gesundheitswesen für Arbeitsplätze von 12,5 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung verantwortlich (BMG 2018). Damit streben grundsätzlich alle zentralen Akteure ein stärkeres „Wachstum“ als zusätzliches (oder alleiniges) Ziel an, allerdings ist die konkrete Operationalisierung und Gewichtung dieses Ziels umstritten. Aus Sicht der Beschäftigten lässt sich Wachstum auf die jeweiligen Einkünfte und beruflichen Sicherheiten beziehen. Für Aktionäre der Pharmaindustrie oder der Krankenhausketten beinhaltet Wachstum dagegen Gewinnzuwächse. Mit der Qualitätsorientierung gewinnt seit den 2000er-Jahren ein viertes Ziel an Bedeutung, das quer zu den drei ursprünglichen Zielen liegt, bei der Durchsetzung von Reformen aber oft als Legitimation für die Verfolgung eines dieser anderen Ziele instrumentalisiert wird. Inhaltlich findet sich Qualität vor allem bei dem Bemühen um Spezialisierung und wird über die Erfahrung etwa von Krankenhäusern bei der Anwendung bestimmter Methoden operationalisiert.
Das deutsche Gesundheitswesen steht infolge gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, technologischer und politischer Veränderungen vor einem dauerhaften Reformdruck. Als Reaktion auf die Finanzkrise 2008 führten präventive Beitragssteigerungen und eine Erhöhung des steuerfinanzierten Bundeszuschusses zur Gesetzlichen Krankversicherung zu einer unerwartet günstigen Finanzlage, die das Ziel der Finanzierbarkeit in den Hintergrund treten ließ. Die nachfolgende Gesundheitspolitik zeichnete sich deshalb durch weitgehend distributive Maßnahmen aus, die kaum strukturverändernde Elemente beinhalteten. Grundlegende Veränderungen sind vor allem dann zu erwarten, wenn Herausforderungen nicht durch bestehende Regelungen gelöst werden können. Dies trifft vor allem auf die in allen Politikfeldern relevante Tendenz zur Digitalisierung zu, die im Gesundheitswesen trotz staatlicher Vorgaben bisher unzureichend umgesetzt wurde. Neuere Diskussionen nehmen außerdem die Pflegepolitik in den Blick, die mit der seit 1995 als eigenständige Säule der Sozialversicherung eingerichteten Pflegeversicherung auch in den Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit zählt. Weitere wiederholt diskutierte Themen sind die integrierte Versorgung, die eine Überwindung des traditionell getrennten ambulanten und stationären Sektors adressieren will, sowie die Vergütungssysteme von Leistungserbringern (hier vor allem Krankenhäusern und Ärzten), die im klassischen Konflikt mit den Krankenkassen als wesentlichen Kostenträgern stehen.
Arenen und Akteure
Gesundheitspolitik findet in einem Geflecht hierarchischer und teilweise miteinander vernetzter Ebenen statt. Die Ebenen lassen sich funktional und regional unterscheiden. Funktional stellen Gesetze und darauf basierende Rechtsverordnungen die Makroebene dar. Auf der Mesoebene der Gesundheitspolitik werden auf Grundlage des Rechts im Rahmen von Verhandlungen kollektive Vereinbarungen getroffen. Die Mikroebene bilden Verträge und Vereinbarungen zwischen einzelnen Akteuren (etwa einzelnen Kassen und einzelnen Leistungserbringern).
Regional gewinnt die Europäische Union (EU) an Bedeutung für die Gesundheitspolitik. Insbesondere durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) wird Druck auf die nationalen Gesundheitssysteme ausgeübt. Dennoch ist die EU in der Gesundheitspolitik noch weniger bedeutsam als in anderen Politikfeldern.
Innerhalb Deutschlands kommt dem Bund die zentrale Bedeutung zu. Die Sozialversicherung und auch die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser und die Regelung der Krankenhauspflegesätze sind der konkurrierenden Gesetzgebung zugeordnet (Art. 74 Absatz 1 Nr. 12 und 19a GG). Eine allgemeine Zustimmungspflicht des Bundesrats für Bundesgesetze zur Gesundheitspolitik besteht nicht (Gesetzgebung). Allerdings begründete bis zur Föderalismusreform I (2006) Art. 84 Abs. 1 GG eine Zustimmungspflicht für alle umfassenden Reformen, insbesondere wenn der Krankenhausbereich betroffen war. Die Föderalismusreform intendierte, diese Zustimmungspflicht deutlich zu reduzieren. Obwohl mit Art. 104a Abs. 4 GG (NF) eine neue Grundlage für eine Zustimmungspflicht geschaffen wurde, ist dies in der Gesundheitspolitik – anders als in den meisten anderen Politikfeldern – offenbar gelungen (Burkhart und Manow 2006). In der 18. Legislaturperiode (2013–2017) war kaum eine Reform zustimmungspflichtig durch den Bundesrat (Bandelow et al. 2019).
Neben der Mitwirkung an der Rechtsetzung des Bundes über den Bundesrat verfügen die Bundesländer nur über relativ geringe gesundheitspolitische Kompetenzen. Diese betreffen vor allem die Krankenhausplanung, den Öffentlichen Gesundheitsdienst, das Medizinstudium und die Aufsicht über Körperschaften des Gesundheitswesens (Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigungen), sofern diese nur in einem Bundesland vertreten sind. Trotz der geringen Gestaltungsmöglichkeit auf Länderebene können einzelne landespolitische Akteure einen Einfluss auf die Bundespolitik ausüben. Gesundheitspolitischer Sachverstand kann dabei entweder über eine parteiliche Ebene transferiert oder im Rahmen von Gremien, Arbeitsgruppen, u. Ä. ausgetauscht werden.
Auf allen Ebenen treffen viele Akteure mit gegensätzlichen Zielen aufeinander. Der wichtigste Akteur ist das Bundesgesundheitsministerium (BMG). Innerhalb der → Bundesregierung sind insbesondere das Kanzleramt und zunehmend (infolge des steigenden Steueranteils zur Krankenversicherung) auch das Finanzministerium an der Gesundheitspolitik beteiligt. Formal nehmen an der Gesetzgebung auch der → Bundestag und die Länderregierungen über den Bundesrat teil. Für die Entscheidungsfindung spielten vor allem in den 1990er-Jahren die → Parteien eine zentrale Rolle. Konflikte zwischen den Parteien betrafen damals vor allem Fragen der zukünftigen Finanzierung des Gesundheitswesens. Während Finanzierungsfragen als Wahlkampfthemen von den Partei- und Fraktionsspitzen kontrovers verhandelt wurden, besteht zwischen den Fachpolitikern der verschiedenen Parteien größeres Einigungspotenzial. Darüber hinaus hat die Fragmentierung des Parteiensystems dazu geführt, dass sich auch die gesundheitspolitischen Konflikte weniger anhand zweier gegenüberstehender Blöcke als entlang differenzierter und diffuser Interessen analysieren lassen. Prozessual hat sich die Aushandlung gegensätzlicher parteipolitischer Ziele zunehmend in die Koalitionsverhandlungen zu Beginn der Legislaturperioden verschoben. In Koalitionsverträgen werden außerdem wesentliche politische Meilensteine zunehmend bereits festgeschrieben, was einerseits langfristige Prognosen von gesundheitspolitischen Entwicklungen über eine Legislaturperiode hinweg ermöglicht, andererseits kurzfristige Reaktionen auf aktuelle Entwicklungen jedoch erschweren und den relevanten Akteuren ein Stück Gestaltungskraft nehmen.
Eine Besonderheit der Gesundheitspolitik sind die starken Interessengruppen. Vor allem die Leistungserbringer im Gesundheitswesen (Pharmaindustrie, Kassenärzte, Krankenhausträger, Apotheker, Heil- und Hilfsmittelhersteller) sind gut organisiert (Eckert und Rüsenberg 2018). Neben den Verbänden unterhalten vor allem die großen Pharmahersteller auch eigene Büros in Berlin. Kleinere Leistungsanbieter lassen sich wiederum durch professionelle Agenturen vertreten und nutzen kostenpflichtige Informationsdienste. Die Leistungsanbieter verfolgen eine oft kontroverse Strategie gegenüber den politischen Akteuren. Die gesetzlichen Krankenkassen und ihre Verbände sind gleichzeitig Akteur und Arena: In den Selbstverwaltungsorganen der Kassen sind die Gewerkschaften als Versichertenvertreter und die Arbeitgeber repräsentiert. Neben den gesetzlichen Krankenkassen nehmen die privaten Krankenversicherungen Einfluss. Relativ schwach sind die Interessen von Versicherten und Patienten repräsentiert. Im wichtigsten Entscheidungsgremium der Selbstverwaltung, dem Gemeinsamen Bundesausschuss, sind die Krankenkassen als Kostenträger mit fünf Stimmen, Kassenärzte (drei Stimmen) und Krankenhäuser (zwei Stimmen) als Leistungserbringer ebenfalls mit fünf Stimmen sowie drei unparteiische Mitglieder mit jeweils einer Stimme vertreten. Der Gemeinsame Bundesausschuss stellt damit ebenfalls eine relevante Arena für Entscheidungen dar, wobei lediglich die drei unparteiischen Mitglieder eigene persönliche Akzente setzen können während die anderen Mitglieder repräsentativ stimmen und entsprechende Interessen vertreten.
Entwicklungen
Die Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens lässt sich grob in vier Phasen unterteilen. Bis zu den 1970er-Jahren galt es als besonders reformresistent. In dieser Phase war das Politikfeld noch wenig ausdifferenziert (Döhler und Manow 1997). Aufgrund von Widerständen von Gewerkschaften und Kassenärzten, die direkt Druck auf den damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer ausübten, scheiterten die ersten großen Reformversuche unter dem damals zuständigen Minister Theodor Blank. Dies führte in Wissenschaft und Politik zu dem Eindruck, dass im Gesundheitswesen bestenfalls graduelle Veränderungen durchsetzbar wären. Entsprechend erfolgte auch die Umgestaltung bis zum Ende der 1980er-Jahre nur in kleinen Schritten. Dabei wurden bis Mitte der 1970er-Jahre der Personenkreis und das Leistungsspektrum der GKV ausgebaut.
Ab 1975 war die Gesundheitspolitik vor allem von Kostendämpfungsmaßnahmen geprägt, die sich aus dem zentralen Konflikt zwischen den beiden Advocacy Koalitionen von Befürwortern umfassender Solidarität und Anhängern stärkerer Eigenverantwortung ergaben. Der Gegensatz zwischen diesen Zielen führte vor dem Hintergrund der geringen Machtkonzentration des deutschen politischen Systems zu Blockaden struktureller Reformvorhaben. Erfolgreich waren bis zum Beginn der 1990er-Jahre vor allem kurzfristige Reformen zur Stärkung der Finanzierbarkeit. Im Rahmen der Diskussion wurde der Begriff der „Kostenexplosion im Gesundheitswesen“ geprägt, die bisweilen umstritten und von einigen zentralen Figuren als Mythos benannt wird (Reiners 2018).
Einen wesentlichen Wendepunkt zur dritten Phase in der Gesundheitspolitik stellt das 1992 verabschiedete Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) dar. Eine parteiübergreifende Sachkoalition zwischen Union und SPD – trotz formaler Mehrheit im Bundestag aber Minderheit im Bundesrat der christlich-liberalen Regierung – beschloss auf Basis des Endberichts der Enquete-Kommission „Strukturreform der GKV“ (1987–1990) den Einstieg in wettbewerbsorientierte Strukturen der Krankenkassen. Die Kommission leistete inhaltliche Vorarbeiten, stärkte nachhaltig das Fachwissen der Parlamentarier und förderte eine Vernetzung von Experten aus verschiedenen Parteien und externen Sachverständigen. Beide Eckpunkte stehen damit stellvertretend für die Bildung einer programmatischen Gruppe, bestehend aus Funktionären in Organen der Leistungserbringer, Kostenträger und der Bundesregierung, die das Gesundheitswesen mindestens bis zum Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) 2011 mit dem politischen Programm „Wettbewerb in einer solidarischen Rahmenordnung“ die Gesundheitspolitik maßgeblich prägen sollte (Knieps 2017; Hornung und Bandelow 2018). Diese langfristige Gestaltung lässt sich an einigen zentralen Reformen festmachen: Das Gesundheitsreformgesetz 2000 versuchte zunächst, die Hürden zwischen den Fachdisziplinen und Sektoren des Gesundheitswesens durch vermehrten Wettbewerb zu reduzieren. Dazu wurden Selektivverträge zwischen einzelnen Krankenkassen und Leistungsanbietern auch ohne Zustimmung der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) ermöglicht (Integrierte Versorgung). Das 2003 verabschiedete GKV-Modernisierungsgesetz beinhaltete neben der unpopulären Praxisgebühr auch einen wesentlichen Umbau der Selbstverwaltung: Die vormals eigenständigen Bundesausschüsse der Sektoren wurden zu einem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zusammengefasst. Dort sind neben den Leistungserbringern und den Kassen auch Patientenverbände beteiligt, allerdings nur mit beratender Stimme. Das 2004 neugeschaffene Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) prüft im Auftrag des BMG und des G-BA sowie in eigener Verantwortung die Evidenz für Vor- und Nachteile medizinischer Methoden (Ruof et al. 2014).
Vor dem Hintergrund der gegensätzlichen Finanzierungskonzepte der Koalitionspartner und im Einklang mit dem Programm für mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen wurde unter der Großen Koalition (2005–2009) mit dem GKV- Wettbewerbsstärkungsgesetz (WSG) 2007 der Gesundheitsfonds eingeführt. Damit wurde den Kassen das Recht genommen, ihre Beitragssätze individuell festzusetzen. Als einheitlicher Beitragssatz wurden zunächst 15,5 Prozent beschlossen (7,3 % Arbeitgeberanteil und 8,2 % Versichertenanteil). Ergänzend ist ein wachsender Steuerzuschuss vorgesehen. Bei der Verteilung des Geldes an die Kassen wird die Versichertenstruktur berücksichtigt, Details dazu regelt der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA). Zusätzliche Beiträge konnten durch die Kassen bis Ende 2018 ausschließlich von den Versicherten erhoben werden. Neben dem Gesundheitsfonds beinhaltet das WSG eine Fortführung der Umgestaltung in den Vertragsbeziehungen des Gesundheitswesens. Dabei wurden gleichzeitig wettbewerbliche Steuerungsformen gestärkt als auch staatliche Vorgaben präzisiert. Das Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) stellt den Abschluss des etwa 25-jährigen Programms der programmatischen Gruppe dar. Es verlangt von den Arzneimittelherstellern bei der Einführung neuer Wirkstoffe den direkten Nachweis eines Zusatznutzens, um nicht unter die Festbetragsregelung zu fallen. Damit hat das FDP-geführte Bundesministerium für viele Beobachter überraschend eine Maßnahme zu Lasten der großen Pharmaunternehmen durchgesetzt.
Als Reaktion auf die Finanzkrise 2008 führten Beitragserhöhungen und ein wachsender Bundeszuschuss bei gleichzeitigem Ausbleiben der befürchteten wirtschaftlichen Rezession zu einem finanziellen Überschuss im Gesundheitswesen. Die vierte Phase der Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens, die nunmehr seit 2011 andauert, ist deshalb primär von Verteilungspolitiken beherrscht, die den Problemdruck für notwendige strukturelle Reformen im Gesundheitswesen verblassen lassen. Gesundheitsminister Hermann Gröhe (2013–2017) tat dies vor allem in der Pflegepolitik, bei der die Pflegestärkungsgesetze I-III jeweils durch eine Neudefinition des Pflegebegriffs Leistungsansprüche ausweiteten. Mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) und dem Krankenhausstrukturgesetz (KHSG) wurden jeweils ein Innovations- und ein Strukturfonds eingerichtet. Während ersterer der Erforschung innovativer Versorgungsformen dient, soll letzterer den Abbau von Überkapazitäten (und damit faktisch die Schließung von Krankenhäusern) vereinfachen. Lediglich das GKV-Selbstverwaltungsstärkungsgesetz (GKV-SVSG) adressierte durch eine Ausweitung der ministerialen Kompetenzen gegenüber der Selbstverwaltung strukturelle Aspekte des Gesundheitssystems. In einer andauernden Großen Koalition fehlen auf mehreren Ebenen der politischen Steuerung Visionen für die zukünftige Gestaltung des Gesundheitswesens. Aufkommende Herausforderungen werden mit expansiverer Ausgabenpolitik gelöst, so etwa durch die 2018 unter Gesundheitsminister Jens Spahn formulierten Reformen des GKV-Versichertenentlastungsgesetzes (GKV-VEG), des Pflegepersonalstärkungsgesetzes (PpSG) und des Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG). Mit dem GKV-VEG wurde ab 2019 die paritätische Finanzierung wiedereingeführt. Die Phase des Überschusses ist gleichzeitig mit fehlenden Visionen für die anstehenden Herausforderungen der Digitalisierung, dem Überwinden der sektoralen Trennung von ambulanter und stationärer Versorgung, dem Anwerben von Fachkräften sowie dem spezifischen deutschen Strukturbruch zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung verbunden. Nach der Phase des Überschusses sind strukturelle und tief greifende Reformen zu erwarten – oder zumindest notwendig – um das Gesundheitswesen langfristig zu steuern.
Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Nils C. Bandelow