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Gerichte | bpb.de

Gerichte

Jürgen Plöhn

Begriff

Angesichts der Allgegenwärtigkeit von Konflikten bedürfen → menschliche Gesellschaften grundsätzlich streitschlichtender Einrichtungen. Für diese lässt sich eine Stufenfolge beobachten vom (1.) Zwischenträger von Nachrichten an die Konfliktgegner über (2.) den Vermittler mit Vorschlägen für eine Konfliktregelung durch die Parteien selbst, (3.) den Schlichter mit eigenen Regelungsvorschlägen und (4.) den Schiedsrichter gemäß einem zwischen den Parteien vereinbarten Verfahren bis hin zum (5.) gesetzlichen Richter mit einer von den Parteien unabhängigen Autorität. Bei dem am Ende der Skala stehenden Gericht (G.) handelt es sich um eine Institution, die idealtypisch strukturell (1.) nach festen, nachvollziehbaren Kriterien zuständig ist, deren Angehörige (2.) an dem Gegenstand des Konflikts kein eigenes Interesse haben und (3.) in ihrer beruflichen Stellung gesichert sind. Funktional verfügt das G. (4.) über die Kompetenz, den Streit durch eine autoritative Entscheidung zu beenden, wobei diese (5.) gemäß öffentlich bekannt gemachten, allgemein verbindlichen Normen in einem (6.) nach fairen Regeln mit allseitigen Chancen auf Gehör ablaufenden Verfahren zu treffen ist. Im Zuge wachsender Komplexität von Gesellschaften haben sich G.e institutionell verfestigt. Dabei ist die Zustimmung der Streitparteien zu einer speziellen Norm durch die generelle Anerkennung der Rechtsordnung ersetzt worden. Doch sind mit Mediatoren und Schiedsgerichten in jüngerer Zeit für Rechtspolitiker und Streitparteien auch die stärker konsensual orientierten Regelungsinstitutionen wieder zunehmend interessant geworden.

Rechtssysteme

In den kontinentaleuropäischen, auf römischem Recht fußenden Systemen konnte sich die naive Auffassung entwickeln, der Richter „subsumiere“ lediglich Fakten unter Rechtssätze und spreche aus, was das Gesetz im Einzelfall gebiete. Demgegenüber billigen die Systeme des Common Law den Richtern in gesetzlich nicht geregelten Bereichen die Kompetenz zur Rechtsfortbildung zu.

Verfahrensrechtlich sind angelsächsische Rechtssysteme an kontradiktorischen Verhandlungen orientiert, kontinentaleuropäische Systeme nicht immer, jedoch zugleich an der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung. Anders als nach angelsächsischem Recht besteht in D für G.e weder eine generelle Pflicht zur Befolgung von Präzedenzentscheidungen höherer Instanzen noch eine Selbstbindung durch vorangegangene eigene Entscheidungen.

Geschichte

In D steht die Einsetzung des Reichskammergerichts als oberstes G. für das Heilige Römische Reich (1495) in Zusammenhang mit der Verkündigung des Ewigen Landfriedens. Als Rechtsprechungsorgan blieb es in Konkurrenz mit dem Reichshofrat des Kaisers. Angesichts der Schwäche der kaiserlichen Zentralgewalt wurde die Rechtsprechung faktisch jedoch weitgehend durch die Territorialherren organisiert.

Nach dem Ende des alten Reiches erfolgte von der napoleonischen Neuordnung bis zur Mitte des 19. Jh.s die Einführung der Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Verhandlungen sowie die Bildung von Schwurgerichten. Zentrale Forderung im Sinne der Montesquieu’schen klassisch-horizontalen Gewaltenteilungslehre war die Trennung der Gerichtsbarkeit von der Verwaltung. Eine solche gewaltenteilige Ordnung wurde nur für Zivil- und Strafgerichte realisiert, die hierdurch zur „ordentlichen Gerichtsbarkeit“ wurden. Das „Bundes-Oberhandelsgericht“ (1869) des Norddeutschen Bundes wurde für das Deutsche Reich zum Vorgänger des Reichsgerichts (Grundlage: Gerichtsverfassungsgesetz von 1877). Hierdurch entstand erneut eine Differenzierung zwischen gesamt- und einzelstaatlichen Rechtsprechungsorganen. Verwaltungsstreitverfahren blieben unter der Hoheit der Einzelstaaten. Unter der Weimarer Verfassung setzte sich die spartenbezogene Entwicklung der Justiz insbesondere mit der Einführung eines Staatsgerichtshofes für das Deutsche Reich (Art. 108 WRV) und dem Aufbau der Arbeitsgerichtsbarkeit (1926) fort.

Aufbau

Stellte die institutionelle Verselbständigung der Judikative und die Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit einen langwierigen Prozess dar, so besteht unter dem → Grundgesetz als Ergebnis der Entwicklung eine fachlich und föderal differenzierte Gerichtsbarkeit, die entgegen dem ursprünglichen Wortlaut der Verfassung (Art. 95 (a.F.) GG) nicht durch einen allkompetenten Gerichtshof integriert worden ist. Hinzugekommen sind Gerichte auf supra- und internationaler Ebene.

Gerichte der EU, des Europarates und der VN

Als Dauereinrichtungen bestehen im Rahmen des Systems der Vereinten Nationen der Internationale Gerichtshof (Den Haag) und der Internationale Seegerichtshof (Hamburg). Daneben existiert seit 2002 als subsidiäre Einrichtung der Internationale Strafgerichtshof (Den Haag). Während die Tätigkeit des Internationalen Gerichtshofes von 1947 bis Mitte 2018 172 Vorgänge umfasst, hat der Seegerichtshof seit 1997 25 Fälle bearbeitet; der Strafgerichtshof befasste sich bislang mit 26 Fällen.

Der Europarat unterhält den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, Straßburg) in der heutigen Form seit 1998. Von 1959 bis 2018 sind 21.651 Urteile des EGMR ergangen, davon 380 Entscheidungen zu D.

Die Europäische Union verfügt über den Europäischen Gerichtshof (EuGH) und seit 1987 über das erstinstanzliche Europäische G. (EuG), beide in Luxemburg. Das 2005 eingerichtete G. für den öffentlichen Dienst der EU ist 2016 wieder aufgelöst worden. Die Spruchtätigkeit von EuGH (bis Ende 2018 12.250 Fälle erledigt) und EuG (13.875 Fälle) ist umfangreich. Allein 2527 mal ist der EuGH durch deutsche G.e angerufen worden. Dadurch können tiefe Eingriffe in die nationale Rechtsordnung erfolgen (z. B. kirchliches Arbeitsrecht 2018).

Gerichte des Bundes und der Länder

Innerstaatlich zeigt die föderale Gewaltenteilung zwischen Bund und Ländern den markanten Befund: Die Masse der Fälle (2015: 99,5 % der 3.980.625 erledigten Verfahren) wird von den G.en der Länder entschieden; die wichtigsten Grundsatzentscheidungen werden von G.en des Bundes getroffen. Da die G.e der Länder nicht nur Landes-, sondern – weit dominierend – auch Bundesrecht auslegen, benötigt der Bund nur eine minimale eigene Instanzgerichtsbarkeit (Disziplinar- und Patentwesen). Soweit nicht Landesrecht betroffen ist, besteht für Berufungen und Revisionen ein durchgehender Instanzenzug von den G.en der Länder zu den Obersten Bundesgerichten. Faktisch kann die Rechtsprechung zu Bundesgesetzen hierdurch in ganz D relativ einheitlich gestaltet werden.

Die mit der europäischen Integration zunehmend wichtig gewordene Koordination der Entscheidungen zum europäischen Gemeinschaftsrecht mit den nationalen Rechtsordnungen vollzieht sich dagegen in hohem Maße über gerichtliche Vorlagebeschlüsse an den EuGH, dessen sogenannte „Vorabentscheidungen“ für alle G.e der Mitgliedsstaaten verbindlich sind.

Fachgerichtsbarkeiten

Spartenmäßig bestehen in D traditionell fünf Fachgerichtsbarkeiten: ordentliche G.e (74,9 % der 2015 erledigten Fälle) für Zivil- (56,4 %) und Strafrecht (18,5 %) mit besonderen Spruchkörpern für Handels- und Familiensachen sowie der Patentgerichtsbarkeit (unter 0,1 %), die allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit (4,1 %), die Sozial- (10,1 %) und die Finanzgerichtsbarkeit (1,0 %) für spezielle Verwaltungsmaterien sowie die Arbeitsgerichtsbarkeit (9,8 %). Von diesen ist die ordentliche Gerichtsbarkeit vierstufig, die Finanzgerichtsbarkeit zweistufig, die übrigen sind dreistufig organisiert.

Anders als für das → Bundesverfassungsgericht liegt die administrative Zuständigkeit für die personelle, finanzielle und sachliche Ausstattung der Fachgerichte bei einem Ministerium. Dabei ist die Zuordnung in den Bundesländern uneinheitlich. Nur in einem Teil der Länder, darunter mit Ausnahme Brandenburgs die Neuen → Bundesländer, sind die Justizministerien zu umfassend zuständigen „Rechtspflegeministerien“ ausgebaut worden.

Nicht-staatliche Gerichte

Auch außerhalb der staatlichen Organisation existieren Spruchkörper. So hat sich im Bereich des internationalen Waren- und Dienstleistungsverkehrs eine private Schiedsgerichtsbarkeit etabliert. Besonders umstritten waren Schiedsgerichte in den Verhandlungen über transatlantische Freihandelsabkommen.

Im Bereich des Sports bestehen Verbandsgerichte. Ähnlich wirken Berufsgerichte, z. B. Ehrengerichte der Rechtsanwaltskammern. Die → Kirchen unterhalten eigene G.e für ihre Angelegenheiten (z. B. Dienstrecht, Ehen). Auch Parteien haben G.e für Fragen der innerparteilichen Ordnung.

Aspekte einer Reform

Unter dem Stichwort „Große Justizreform“ ist im ersten Jahrzehnt des 21. Jh.s eine Änderung der Gerichtsstruktur diskutiert worden. Vorschläge zielten auf eine Entlastung der G.e, eine Reduzierung der Fachgerichtsbarkeiten, eine Straffung des Instanzenzuges sowie die Einführung eines Qualitätsmanagements. Angesichts des ausgelösten Widerspruchs aus der Richterschaft ist letztlich keine grundlegende Umgestaltung der Justiz erfolgt.

Richter

Berufsrichter

Von den 26.820 Berufsrichterstellen (Vollzeitäquivalent) in D (2016) sind 26.280 bei den Ländern, 540 beim Bund angesiedelt. Für die Berufung der Richter an den Obersten Bundesgerichten legt Art. 95 Abs. 2 GG ein Zusammenwirken des zuständigen Bundesministers mit dem Richterwahlausschuss fest. Dieser besteht aus den zuständigen Landesministern und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die durch den → Bundestag zu wählen sind. Vor allem im Anschluss an die Wahl von Wolfgang Nešković zum Bundesrichter (2001) ist das Verfahren kritisiert worden. Es sucht fachliche Qualifikation und demokratische Legitimation der Richter sicherzustellen, kann aber Aspekte parteipolitischer Opportunität nicht wirksam ausschließen.

Den Ländern gibt Art. 98 Abs. 3–5 GG nur einen Rahmen für ihre eigenen Regelungen vor. In föderativer Vielfalt unterscheiden sich danach die konkreten Ernennungsverfahren hinsichtlich der Kompetenzen der zuständigen Minister, der Einrichtung und Zusammensetzung von Wahlausschüssen oder des Vorliegens einer Parlamentswahl. Bei der rein exekutiven Variante, wie sie etwa in Großbritannien besteht, kann die politische Verantwortung für die Ernennungsentscheidung eindeutig zugeordnet werden. Diese bleibt jedoch intransparent. Beim Vorschlag deutscher Mitglieder für inter- und supranationale G.e, welcher der Bundesregierung zusteht, ist die Transparenz durch eine öffentliche Ausschreibung des deutschen Sitzes am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 2010 erstmals erhöht worden.

Angesichts der Bedeutung des Richterrechts einerseits, faktischer Unabsetzbarkeit der nur theoretisch einem Amtsenthebungsverfahren (Art. 98 Abs. 2 GG) unterliegenden Richter andererseits ist die Auswahl von qualifizierten und charakterlich geeigneten Richtern eine auch rechtspolitisch bedeutsame Frage.

Die Anforderungen an die Person der Richter sind indes unscharf: Nur in dienstlicher Hinsicht unterliegen sie – komplementär zum freien Mandat der Abgeordneten – einer strikten Rechtsbindung. Eine Pflicht zu parteipolitischer Neutralität besteht nicht.

Ehrenamtliche Richter

Ehrenamtliche Richter gibt es als Beisitzer in allen Fachgerichtsbarkeiten, allerdings nicht in jeder Instanz und nicht bei allen Spruchkörpern. Das hierfür häufig verwendete Argument einer „Demokratisierung“ der Rechtsprechung zielt auf soziale Repräsentativität, Sicherung von Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsprechung und Einbringung nichtjuristischer Wertungen im Sinne einer Plausibilitätskontrolle der Entscheidungen. In der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit kommt durch ein Vorschlagsrecht der Tarifparteien ein Moment der Konfliktmoderation hinzu, nicht notwendig im Sinne gesamtgesellschaftlicher Interessen. In den Kammern für Handelssachen sollen ehrenamtliche Richter hingegen spezifische kaufmännische Kenntnisse einbringen. Derartige fachlich-interessengebundene Aspekte für das ehrenamtliche Element haben sich langfristig verstärkt, die generelle Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement geht hingegen zurück.

Chancen vor Gericht

Entgegen dem Verdacht, die deutsche Justiz richte mit sozial unterschiedlichen Maßstäben, haben empirische Studien zur Richtersoziologie keine belastbaren Belege für eine „Klassenjustiz“ hervorgebracht. Ein konkreter Zusammenhang zwischen der Herkunft des Richters und seiner Spruchpraxis ist nicht belegt. Für Zivilprozesse erscheinen die Erfolgschancen grundsätzlich gleich verteilt, allerdings haben Vielprozessierer (wie institutionelle Streitparteien) bessere Chancen als Gerichtsneulinge (Rehbinder 2014, S. 138).

Im strafrechtlichen Bereich werden vier von fünf Angeklagten letztlich verurteilt, wobei die Quoten zwischen den Bundesländern variieren.

Gerichte und Öffentlichkeit

Spektakuläre Prozesse erobern immer wieder die Überschriften der Tagespresse. Typischerweise handelt es sich jedoch nur um eine kurzfristige Aufmerksamkeit. Anders als im angelsächsischen Rechtskreis bleiben Prozessparteien wie auch Richter weitgehend anonym. Die Beschränkung von Sondervoten auf die Verfassungsgerichtsbarkeit ist indes ebensowenig gerichtsnotwendig wie die Unterdrückung der Namen der Streitparteien.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Jürgen Plöhn

Fussnoten