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Freie Wähler | bpb.de

Freie Wähler

Jens Walther Michael Angenendt

Definition und historische Entwicklung

Wählergemeinschaften der Freien Wähler entstanden als Zusammenschluss von Bürgerinnen und Bürgern auf kommunaler Ebene mit dem Ziel, als Alternative zu den →Parteien die Politik vor Ort mitzubestimmen. Augenscheinlich fallen sie daher in die bunte Gruppe der Kommunalen Wählergemeinschaften (siehe hierzu Reiser et al. 2008, S. 124 f.). Kommunale Wählergemeinschaften zeichnen sich jedoch vor allem durch ein gemeinsames Bestimmungskriterium aus: die alleinige Teilnahme an Wahlen auf kommunaler Ebene. Da Freie Wähler seit Gründung der BRD allerdings auch an Landtagswahlen teilnehmen (Morlok et al. 2012, S. 11), sind Freie Wähler somit mehr als Kommunale Wählergemeinschaften. Bei den Freien Wählern handelt es sich um einen überaus heterogenen Untersuchungsgegenstand, dessen Vielfalt vor allem durch drei Faktoren hervorgerufen wird: Erstens liegt das Recht, den Namen „Freie Wähler“ zu führen, „nach wie vor in einer nicht abschließend geklärten namensrechtlichen Grauzone“ (Richter 2013, S. 107; vgl. Walther und Angenendt 2018, S. 329–330). Zweitens treten Kommunale Wählergemeinschaften, die sich den Freien Wählern zwar verbandlich oder kognitiv zugehörig fühlen, unter der Bezeichnung „Bürgerliste“, „Bürgervereinigung“, „Bürgergemeinschaft“, „Bürgerbündnis“, „Freie Bürger“ oder „Unabhängige Wählergemeinschaft“ zu Wahlen an.

Drittens gibt es eine klare organisatorische Trennung zwischen Freien Wählern, die auf kommunaler Ebene kandidieren, und Freien Wählern, die auf überregionaler Ebene zu Wahlen antreten. So existieren heute auf der einen Seite der seit 1965 als Verein eingetragene Bundesverband Freie Wähler Deutschland e.V. und auf der anderen Seite sein elektoraler Arm, die Bundesvereinigung Freie Wähler. Jede vierte in einem Landesverband organisierte Kommunale Wählergemeinschaft weist namentlich keinen Bezug zu den Freien Wählern auf, während jede sechste nicht verbandlich organisierte Kommunale Wählergemeinschaft in ihrer Selbstbezeichnung auf die Freien Wähler rekurriert (Walther und Angenendt 2018, S. 339).

Regionale Schwerpunkte

Ausgangspunkt der politischen Tätigkeit der Freien Wähler ist die kommunale Ebene. Mit der Gründung der BRD und der Entwicklung des →Parteiensystems begannen sich die Freien Wähler als Wählergemeinschaften zu organisieren und bei Wahlen auf kommunaler Ebene zu kandidieren. Weitaus seltener nahmen Freie Wähler an Landtagswahlen teil. Diese überregionalen Kandidaturen erleben seit Mitte der 1990er-Jahre einen kontinuierlichen Anstieg (vgl. Morlok et al. 2012). Auf kommunaler Ebene können Freie Wähler vor allem in BW und BY von jeher große Erfolge aufweisen. Hier gewinnen sie regelmäßig bei Kommunalwahlen einen erheblichen Anteil der Mandate. Aber auch in den neuen →Bundesländern gelang es den Freien Wählern, sich nach der Wiedervereinigung zu etablieren und sich zu einem wirklichen Konkurrenten der etablierten Parteien zu entwickeln. Heute treten die Freien Wähler in allen Bundesländern flächendeckend bei Kommunalwahlen an.

Die Freien Wähler setzen dabei vor allem auf Bekanntheit und Ansehen ihrer Kandidaten. Somit ähnelt ihre Strategie der der Honoratiorenparteien im Deutschen Kaiserreich. Jüngeren Ergebnissen zufolge sind die Mitglieder überwiegend Beamte und Angestellte in der Privatwirtschaft oder dem →öffentlichen Dienst und verorten sich in der mittleren Mittelschicht (vgl. Walther und Angenendt 2018). Der mittelständischen Prägung ihrer Kandidaten entspricht auch ein Großteil ihrer Wählerschaft. Darunter sind vor allem Angestellte, Selbstständige und Beamte überproportional vorzufinden. Bezogen auf das politische Spektrum sind ihre Wähler am ehesten dem bürgerlichen Lager zuzuordnen (vgl. Walther und Angenendt 2018).

Neben diesen personellen Faktoren basiert der Erfolg der Freien Wähler auch auf bestimmten institutionellen sowie sozialstrukturellen Gegebenheiten. So werden Freie Wähler besonders durch ein stark personalisiertes Wahlsystem begünstigt, wie es vor allem in Süddeutschland Tradition hat. Als ebenso vorteilhaft erweisen sich kleine Gemeinden für den Stimmenerfolg der Freien Wähler. Kaack fasst diesen Sachverhalt folgendermaßen zusammen: „Je kleiner die Gemeinde, desto stärker ist also die Orientierung an der Einzelpersönlichkeit“ (Kaack 1972, S. 145). Ob die Gemeindegröße wirklich diese Wirkung entfaltet oder ob der Erfolg vielmehr durch den schwachen Organisationsgrad der Parteien in kleinen Gemeinden verursacht wird, ist nicht eindeutig zu beantworten (siehe hierzu Reiser et al. 2008, S. 129 f.). Der Erfolg der Freien Wähler auf kommunaler Ebene lässt sich vielleicht am besten damit begründen, dass Freie Wähler einfach zur Kommunalpolitik passen. Mit ihrem Anspruch, sachbezogen, unabhängig, bürgernah zu sein, versprechen sie eine pragmatische Lösung der lokalen Probleme und entsprechen so dem Wunsch der Bürger nach einer sachorientierten und nicht parteipolitisch polarisierten Politik vor Ort.

Organisation

Nachdem sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Freien Wähler auf kommunaler Ebene konstituierten, erfolgte in den frühen 1950er-Jahren eine erste Gründungsphase von Landesverbänden der Freien Wähler. Während die Landesverbände BW und HE schon 1956 gegründet wurden, konstituierte sich der Landesverband in BY erst 1977 und in SH erst im Jahr 2008. Der Erfolg der Freien Wähler in den 1950er- und 1960er-Jahren führte 1965 zur Gründung einer bundesweiten Dachorganisation, dem Bundesverband der Freien Wähler. Der Landesverband BW trat im Jahr 2009 aus dem Bundesverband aus, während die Landesverbände HB und Bb ebenfalls im Jahr 2009 vom Bundesvorstand ausgeschlossen wurden.

Nach eigenen Angaben gehören dem Bundesverband über die Orts- bzw. Landesverbände derzeit 280.000 Mitglieder an. Das sind mehr Mitglieder als →FDP, →Die Grünen und →Die Linke zusammen aufweisen können, wobei berücksichtigt werden muss, dass die Freien Wähler hier nicht den strengen Berichtspflichten des Parteiengesetzes unterliegen.

Bundesverband wie Landesverbände sind jeweils die Dachorganisation der ihnen angeschlossenen territorialen Verbände. Ein solcher Dachverband der Freien Wähler ist in der Regel ein reiner Verbändeverband, der in Kreis- und Ortsverbände untergliedert ist. Im Unterschied zu den bekannten Parteistrukturen wird den Mitgliedern der Freien Wähler ein erhebliches Maß an Entscheidungsfreiheit zugebilligt. So sind die Mitglieder einer Wählergemeinschaft der Freien Wähler autark in der Entscheidung, ob sie auch Mitglied in einer Landesvereinigung werden. Es gibt folglich keinen Automatismus der Eingliederung. Freie Wähler können somit entweder Mitglied einer Wählergemeinschaft sein, welche dem entsprechenden Landesverband beigetreten ist (Abb. 1: Mitgliedschaftstypen A, B, F und G), oder einer Wählergemeinschaft angehören, die in keinem Verband eingegliedert ist, sich jedoch den Freien Wählern zugehörig fühlt (Abb. 1: Mitgliedschaftstypen C und D). Sie können aber auch nur Mitglied in einer Landesvereinigung bzw. der Bundesvereinigung sein (Abb. 1: Mitgliedschaftstyp E)

Da Landesverbände wie Bundesverband sich mitgliedschaftlich aus juristischen Personen zusammensetzen, können diese nicht bei Landtagswahlen oder einer Bundestagswahl kandidieren. Um an Landtagswahlen teilnehmen zu können, haben Freie Wähler daher schon frühzeitig Landeswählergruppen und – sofern ein Landeswahlgesetz das Recht zur Kandidatur auf Parteien begrenzte – Landesparteien gegründet. Nach dem Wahlerfolg der bayerischen Landeswählergruppe bei der Landtagswahl 2008, als die Freien Wähler mit 10,2 % in den Bayerischen Landtag einzogen, beschlossen die Freien Wähler auch bei der Europawahl 2009 zu kandidieren. Um bei einer Wahl auf Bundesebene jedoch überhaupt antreten zu können, wurde am 24. Januar 2009 die Bundeswählergruppe FW Freie Wähler e.V. gegründet. Mit dieser Bundeswählergruppe schufen die Freien Wähler erstmalig eine länderübergreifende politische Organisation, die im Gegensatz zum Bundesverband bei Wahlen auf Bundesebene um die Stimmen der Wähler werben kann. Am 20. Feb. 2010 wurde dann die Bundeswählergruppe in eine Bundesvereinigung umgewandelt. Die personelle Verschränkung von Bundesverband und Bundesvereinigung wird an der Person Hubert Aiwangers besonders deutlich. Dieser ist sowohl Vorsitzender der Bundesvereinigung als auch Vorsitzender des Bundesverbandes und nach der erfolgreichen Landtagswahl 2018 auch stellvertretender Ministerpräsident von Bayern. Die Bundesvereinigung Freie Wähler besteht ähnlich wie der Bundesverband aus untergliederten Landesvereinigungen, die im Sinne des § 4 Abs. 2 PartG Gebietsverbände der Bundesvereinigung bilden. Dieser elektorale Arm der Freien Wähler umfasst dabei mitgliedschaftlich nur natürliche Personen. Die Mitglieder können sich folglich entscheiden, ob sie sich nur auf kommunaler Ebene bei Wahlen engagieren wollen (Abb. 1: Mitgliedschaftstypen A, D und G), nur auf überregionaler Ebene politisch aktiv sein wollen (Abb. 1: Mitgliedschaftstyp E) oder ob sie auf kommunaler und auf überregionaler Ebene um die Stimmen der Wähler werben wollen (Abb. 1: Mitgliedschaftstypen B, C und F).

Da jedoch in einigen Bundesländern, wie in BY oder SH, Landeswählergruppen oder Landesparteien noch vor der Konstituierung der Bundesvereinigung gegründet wurden, ist es das erklärte Ziel der Bundesvereinigung, dass die bestehenden Landeswählergruppen und -parteien mit den neu gegründeten Landesvereinigungen fusionieren sollen. Die zweigleisige Struktur aus Bundesverband und Bundesvereinigung soll allerdings bestehen bleiben.

Partei oder Nicht-Partei?

In den letzten Jahren ist verstärkt die Frage nach dem „Parteisein“ dieser politischen Akteure in den Fokus der Forschung gerückt (siehe Morlok et al. 2012). Während die Bundesvereinigung schon im Vorfeld der Europawahl 2009 die Parteieigenschaft durch den Bundeswahlausschuss zuerkannt wurde und die Führungsebene der Freien Wähler sich offen gegenüber dem Parteistatus zeigt, ist auf kommunaler Ebene und auch auf Ebene einzelner Landesverbände die ablehnende Haltung der Freien Wähler zum Parteisein noch deutlich existent (vgl. Walther und Angenendt 2018, S. 333).

Nimmt der Bundesvorstand immer mehr die Haltung der Grünen zu Beginn der 1980er-Jahre an, eine „Anti-Parteien-Partei“ zu sein, bleiben viele Mitglieder der Freien Wähler ihrer alten Rolle als Zusammenschluss von unabhängigen Bürgern im Rahmen einer Wählergruppe treu und pflegen ihre scheinbare „Parteifreiheit“ (vgl. Walther und Angenendt 2018, S. 334). So verkünden etwa die aus dem Bundesverband ausgetretenen Freien Wähler BW, dass sie „keine Partei“ sondern „die Alternative zu den Parteien in den Kommunen“ sind, während die Freien Wähler in SH zur Landtagswahl 2009 eine Partei gegründet haben und sich in ihrer Satzung offen zum Parteistatus bekennen. Das Selbstbild der Freien Wähler scheint also nicht einheitlich zu sein. Schnittmenge bildet einzig die ablehnende Haltung hinsichtlich der Parteipolitik der anderen Parteien (vgl. Walther und Angenendt 2018, S. 335).

Aus politikwissenschaftlicher Perspektive gestaltet sich das Bild klarer. Fragt man nach den Funktionen, die Parteien zugeschrieben werden, so werden diese von den Freien Wählern sowohl auf kommunaler also auch auf überregionaler Ebene erfüllt. Sie nehmen an Wahlen teil und sind somit Teil des politischen Wettbewerbs, rekrutieren Führungspersonal, bündeln, artikulieren und integrieren gesellschaftliche Interessen. Auch verfügt die Bundesvereinigung über ein Grundsatzprogramm, in dem die Ziele und Werte der Freien Wähler niedergelegt sind.

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass die Freien Wähler längst den Charakter einer Partei angenommen haben. Damit riskieren sie allerdings mittelfristig ihren Markenkern zu verlieren, eine grundlegende Alternative zu allen anderen Parteien zu sein. Anders als seinerzeit den Grünen fehlt ihnen ein weltanschaulicher Kern, der den Erfolg auch dann zu sichern vermag, wenn sich das „Anderssein“ abgenutzt hat. Die Frage bleibt, ob der Anspruch ausreichen wird, „sachbezogen, unabhängig, bürgernah“ zu sein.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Jens Walther

Fussnoten