Das Spannungsverhältnis zwischen dt. Einheit und europäischer Integration
Das Grundgesetz (GG) der BRD setzte zwei – sich im Ost-West-Konflikt, ausschließende – politische Zielvorstellungen, nämlich die Vollendung der dt. Einheit und die europäische Einigung. In der Präambel des GG wurde als Verfassungsauftrag formuliert, „die nationale und staatliche Einheit zu bewahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen“. Art. 24 GG sieht die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen vor, wobei der Bund in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen kann, „die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern“. Auch in den außenpolitischen Grundsatzverträgen der BRD wie z. B. dem Deutschlandvertrag von 1955 wurde sowohl die europäische Dimension als auch die Einheitsdimension verankert. Die enge Einbindung Ds in den europäischen Integrationsprozess dient nicht nur den eigenen außenpolitischen Interessen, sondern beruhigt gleichzeitig latente bzw. immer wieder auch offen auftretende Befürchtungen über eine zu starke Rolle der Deutschen in der Europäischen Union (EU). D ist nicht mehr Konsument, sondern Mitgestalter der politischen Ordnung in Europa.
Europäische Gemeinschaft und dt. Einheit
Mit der dt. Einigung veränderten sich auch die demographischen, ökonomischen und politischen Parameter der Europäischen Gemeinschaft (EG). D stellte mit 82 Mio. Einwohnern (22 %) fast ein Viertel aller EU-Bürger, verfügte nun über fast 25 % des Bruttosozialprodukts der EU-Staaten und hatte sein Haupthandicap, die Teilung, überwunden. Somit stellte sich auch das Problem der Repräsentanz der neuen Länder in der EG. Im Europäischen Parlament (EP) von 1991–94 sind die östlichen Länder mit 18 Abgeordneten vertreten, die seit den 4. Direktwahlen 1994 die gleichen Rechte wie die übrigen Mitglieder des EP haben. In den anderen Organen hatte sich an der Zusammensetzung durch die Mitgliedstaaten keine Änderung ergeben.
Die Politik der EG, vertreten insbesondere durch den damaligen EG-Kommissionspräsidenten Delors, zielte auf eine enge Einbindung Ds. Gegenüber dem größer gewordenen D gab es unterschiedliche Befürchtungen: einmal, dass das vereinte D nicht mehr solch ein Interesse an der EG zeigen könnte wie die BRD und sich nach Mittel-/Osteuropa wenden könnte, zum anderen, dass das neue D die EG zu sehr dominieren könnte und schließlich zum dritten, dass durch die Kosten der dt. Einheit Gefahren für die EG als Organisation entstehen könnten. Auch das vereinte D hat ein fundamentales Interesse an einer stabilen und funktionsfähigen EG/EU. Durch die Mitgliedschaft erreicht D eine gegenseitige Bindung in einer multilateralen Sicherheits- und Wertegemeinschaft, kann die weitere Entwicklung der EU entscheidend mit beeinflussen und profitiert darüber hinaus von dem 1993 in Kraft getretenen Binnenmarkt außerordentlich. Bereits auf dem Europäischen Rat in Straßburg im Dezember 1989 begrüßten die Staats- und Regierungschefs der EG das Streben der Deutschen, die Einheit und Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit zu erreichen, erklärten aber gleichzeitig auch, dass der dt. Einigungsprozess in den europäischen Integrationsprozess eingebettet sein sollte. Die Konzeption der Bundesregierung zielte auf eine Verbindung von europäischer Integration und dt. Einheit.
Europapolitik nach 1991 – Gemeinschaftsziele und nationale Interessendurchsetzung
Auch nach der Vereinigung bestand und besteht kein Zweifel daran, dass sich die Außenpolitik Ds primär am politischen Gravitationszentrum EG/EU ausrichtet. Im neuen Art. 23 GG bekennt sich D faktisch zur im Maastrichter Vertrag niedergelegten Europäischen Union, wenn es dort heißt: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen …“
Außer den Normen des GG und der ökonomischen Interdependenz als Lebensgrundlage zukünftigen Wohlstands sowie der Tatsache, dass D seine Produkte vor allem in Länder liefert, die durch politische Stabilität, Rechtssicherheit, gute Infrastruktur, qualifizierte Arbeitskräfte, anhaltende Produktivitätssteigerungen und nachfragestarke Binnenmärkte sowie hohe Investitionseffizienz gekennzeichnet sind, spricht auch die Logik des Multilateralismus für die Fortsetzung der Integrationspolitik im nationalen Interesse. Die EG war und die EU ist nicht nur eine, sondern die einzige Stabilitätsgemeinschaft in Europa, auf die große Hoffnungen nicht nur von ihren Mitgliedern, sondern vor allem von den beitrittswilligen Staaten in Mittel- und Osteuropa gesetzt wurden. In einem internationalen System, das immer mehr durch Regionalismus und Multipolarität gekennzeichnet ist, wäre es auch für einen Staat wie das vereinte D allein nicht länger möglich, seine Interessen erfolgreich wahrzunehmen. Dies kann nur durch Kooperation bzw. Integration erfolgen. Aber nicht nur die ökonomische Interdependenz mit der Gemeinschaft lässt die weitere Mitarbeit in dieser auf der Welt einmaligen supranationalen Organisation als geraten erscheinen, sondern vor allem auch die politischen Vorteile, die die BRD aus der Mitgliedschaft in der EG zog, wie auch D sie heute erwirbt. Die Mitgliedschaft in der EG stützte den Aufbauprozess der liberalen Demokratie in der BRD, führte zur Gleichberechtigung des neuen westdt. Teilstaates und ermöglichte schließlich der BRD das starke weltpolitische Gewicht. Die EG hat eine Friedensordnung hervorgebracht, die unter ihren Mitgliedern verlässlich Gewalt als Mittel der Politik ausschließt und hierin D voll einbindet. Durch die EG ist die Demokratie glaubhaft zur fest verwurzelten Regierungsform Westeuropas und natürlich auch der BRD geworden. Schließlich hat die EG einen sehr großen und attraktiven gemeinsamen Markt mit blühender Wirtschaft und großer Anziehungskraft auf Ost- und Westeuropa geschaffen. Der beabsichtigte Austritt des Vereinten Königreichs aus der EU ändert an dieser Aussage nichts. Das bedeutet, dass auch in Zukunft die EU dem dt. Ziel der Wahrnehmung nationaler Interessen durch Multilateralisierung und Integrationsbereitschaft entspricht. Somit bindet die EU D auch weiterhin als mögliche Führungsmacht ein, bietet ihm aber auch den Rahmen zu optimaler Verfolgung bzw. Verwirklichung seiner außenpolitischen Grundinteressen. D muss seine vermeintlich hegemoniale Position in europäische Strukturen einbringen, um mit Hilfe der EU seine Interessen gemeinsam mit den anderen Mitgliedstaaten zu verfolgen.
Die enge Bindung Ds an die europäischen Institutionen ist nach der dt. Einheit nicht in Frage gestellt worden. Alle Parteien im Bundestag – Ausnahme AfD, die Linke mit Abstrichen – begrüßen die erfolgreiche Politik der Integration, des Multilateralismus und der Selbsteinbindung. Bereits in seinem Zehn-Punkte-Programm vom 28. November 1989 über die deutsch-deutsche Konföderation machte Bundeskanzler Kohl deutlich, dass der Platz eines zukünftigen Ds in der EG ist. Im April 1990 wurde von Kohl und Frankreichs Präsident Mitterrand der Weg zu einer weiteren Vertiefung der EG eingeschlagen. Die beiden Politiker initiierten einen Plan zur Beschleunigung der Politischen Union sowie die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion. Im Oktober 1991 brachten Bundeskanzler Kohl und Präsident Mitterrand die gemeinsame Initiative für ein europäisches Verteidigungskorps ein, was nicht zuletzt auf eine noch größere sicherheitspolitische Einbindung der Deutschen zielt. Ein Höhepunkt dieser Einbindung Ds nunmehr in die EU war die Unterzeichnung des Maastrichter Vertrages 1991/92, der nicht nur die Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion bis spätestens 1999 vorsah, sondern auch eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie eine Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik anstrebte. Die Einbeziehung der Westeuropäischen Union (WEU) als sicherheitspolitisches Standbein der EU wurde durch den Maastrichter Vertrag vorprogrammiert. Bei der Realisierung des Maastrichter Vertrages hatte das dt.-französische Tandem eine herausragende Rolle gespielt. Wenn dieser Vertrag auch nicht unbedingt die vollkommene Harmonie zwischen dem vereinten D und dem durch die dt. Vereinigung in seinem internationalen Status verringerten Frankreich widerspiegelt, so zeugt er doch von der Handlungsfähigkeit des dt.-französischen Tandems und einem Erfolg dt. Europapolitik. Zunehmend wurde auch das dt. Interesse an einer Osterweiterung der EU zum europäischen Gesamtinteresse. Die Stabilisierung der mittel- und osteuropäischen Nachbarn stand seit Mitte 90er-Jahre als Hauptpunkt auf der Agenda. Die Bundesregierung machte immer wieder ihr Interesse an einer Vertiefung der politischen Union deutlich, die zur ökonomischen Vertiefung parallel verlaufen sollte. So hatte D bei der Realisierung des Amsterdamer Vertrags 1997 zusammen mit Frankreich weitere Fortschritte im Integrationsprozess erreichen können. Daher wurde in der zweiten Säule GASP die Außenvertretung der EU verbessert. Die Einsetzung eines Hohen Vertreters (Mr. GASP) sowie die ihm zuarbeitende Strategieplanungs- und Frühwarneinheit sollten die Position der EU in der internationalen Politik verbessern helfen. Von 1999 bis 2009 bekleidete dieses Amt der ehemalige NATO-Generalsekretär Javier Solana, der von Lady Ashton abgelöst wurde, die durch den Lisabonner Vertrag neben dem Rat auch die EU-Kommission als Vizepräsidentin repräsentierte. Seit 2014 nimmt die frühere italienische Außenministerin Federica Mogherini dieses Amt wahr. Die politische Verantwortung für die Entscheidungen verblieben beim Rat, der diese mehrheitlich fassen kann. Ausnahmen von der Mehrheitsentscheidung sollte es nur wenige geben. Aus der dritten Säule wurden, nicht zuletzt auf dt.-französische Initiative, Maßnahmen zur Gewährleistung des freien Personenverkehrs, zur Kontrolle der Außengrenzen, zu Visavorschriften, Flüchtlingsfragen und Asylrecht sowie zur Einwanderung auf die erste Säule übertragen und damit vergemeinschaftet. Es wurde aber bereits in der Spätphase der Kanzlerschaft Helmut Kohls eine stärkere dt. Interessenvertretung in der EU erkennbar.
Auch die Regierung Schröder setzte die Integrationspolitik inhaltlich ohne Bruch fort. Sie strebte die Vertiefung der EU, insbesondere zu einer Sozial- und Umweltunion, an, wobei sie die EU bürgernäher und demokratischer zu gestalten suchte. So hatte die Regierung Schröder in den allermeisten der in ihrer ersten Amtszeit sehr zahlreich anfallenden Entscheidungen und Weichenstellungen für die EU (u. a. Agenda 2000, Fortentwicklung von GASP und ESVP, Vertrag von Nizza, Osterweiterung) einen integrationsfreundlichen, die Belange der Partner berücksichtigenden Beitrag geleistet. Doch unterschied sich der Politikstil Schröders von dem seiner Vorgänger. Schröder betonte in einer bisher nicht gekannten Form dt. Interessen. So setzte die Regierung eine siebenjährige Übergangszeit für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus den Beitrittsländern durch, die erst im Mai 2011 endete. Auch bei der Änderung der Agrarpolitik hatte sich die Regierung Schröder sehr restriktiv gezeigt, als sie mit dem französischen Präsidenten Chirac zum Kompromiss der Ausgabenbegrenzung in der Agrarfinanzierung ab 2007 gelangte. 2003 hatte Kanzler Schröder die Regeln des Stabilitätspakts gebrochen, als D mehr Schulden gemacht hatte, als es der europäische Stabilitätspakt erlaubt. Schröder weigerte sich, die Staatsausgaben zu kürzen, um das Haushaltsdefizit zu verringern.
Nicht zuletzt leitete D durch europapolitische Vorschläge von Außenminister Fischer (Rede in der Humboldt-Universität Berlin im Mai 2000), Bundespräsident Rau und Bundeskanzler Schröder eine Debatte über die politische Finalität der EU ein, die in der Beauftragung eines Konvents durch den Europäischen Rat in Laeken im Dezember 2001 ihr positives Resultat fand. Doch der vom Konvent Mitte 2003 vorgelegte Verfassungsvertrag scheiterte durch die Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Frühsommer 2005.
Bundeskanzlerin Merkel, zunächst in der großen Koalition mit der SPD (2005–2009), ab 2009 in einer Koalition mit den Liberalen, ab 2013 weiterhin in einer CDU/CSU und SPD-Koalition, machte mit ihren ersten Reisen unmittelbar nach der Wahl zur Bundeskanzlerin nach Paris und Brüssel einerseits Kontinuität deutlich, andererseits zeigte sie auch die Wertschätzung gegenüber den sogenannten Kleinen, die unter Kanzler Schröder verloren gegangen schien. Auch ihre schnelle Reise nach Polen zeigte einen Wandel im Stil, hatte doch Bundeskanzler Schröders bilaterales Ostsee-Gaspipeline-Projekt mit Russland zu Unmutsäußerungen in Polen geführt. Ziel der Europapolitik Merkels ist die Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses. Bereits zu Beginn ihrer Amtszeit konnte Angela Merkel einen europapolitischen Erfolg einfahren, als es ihr im Dezember 2005 gelang, einen finanzpolitischen Kompromiss zu schmieden. Sie vermittelte im Streit um den Finanzrahmen zwischen 2007 und 2013, der erfolgreich verabschiedet wurde. Dieser Erfolg beruhte auf der Grundlage eines dt., in enger Kooperation mit Frankreich vorbereiteten, Vorschlages, der darüber hinaus mit Großbritannien abgestimmt war, zugleich den Eindruck eines Direktoriums vermied, weil die kleineren EU-Partner, unter ihnen Polen, einbezogen wurden. Während der dt. Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 gelang es der Kanzlerin, den europapolitischen Stillstand zu überwinden. Auf dem Brüsseler Gipfel im Juni 2007 wurde nach schwierigen Verhandlungen ein Reformvertrag verabschiedet, der in den 2009 in Kraft getretenen Lissabonner Vertrag mündete. Die Substanz des Verfassungsvertrags konnte aufrechterhalten werden. Auch konnten unter dt. Präsidentschaft Fortschritte in der Klima- und Energiepolitik erzielt werden. Seit 2010 belastet die Finanzkrise die EU in höchstem Maße. Der dt. Beitrag zeigte sich zunächst in einer Verdrängung der Krise als eine europäische, um dann später, als noch Irland, Portugal, Spanien und Italien in die Krise gerieten, zusammen mit Frankreich die Führung zu übernehmen, ein 750 Mrd. € schweres Rettungspaket zu schnüren und eine Wirtschaftsregierung für die Euro-Zone zu fordern. Ein Zerbrechen der Euro-Zone würde nicht nur der EU, sondern vor allem D enorm schaden. Im Grunde wirkt sich die Finanzkrise der EU bis heute (2019) aus, da die von einzelnen Staaten geforderte Reformpolitik bis heute anhält. Ab 2015 sollte die Flüchtlingskrise die dt. Europapolitik dominieren, als es zu einem deutlichen Anstieg der Flüchtlingszahlen in Europa kam. 2015 und 2016 beantragten jeweils deutlich mehr als eine Mio. Menschen in der EU Asyl. Am 04.09.2015 kam es zur Absprache zwischen Bundeskanzlerin Merkel und ihrem österreichischen Amtskollegen Faymann, vorübergehend Flüchtlinge ohne Registrierung durch Ungarn nach Österreich und Deutschland einreisen zu lassen. Diese Haltung mag sehr humanitär sein, jedoch war es ein weiterer dt. Alleingang in der Europapolitik. Seitdem sucht Merkel eine EU-Lösung zur gerechten Verteilung der Flüchtlinge in Europa, bisher allerdings vergeblich. Die dt. Bundeskanzlerin braucht die Unterstützung der Regierungen in Paris, Athen, Wien, Sofia, Rom und Madrid, um eine wenigstens ansatzweise europäische Lösung im Asylstreit zu bekommen.
2017/18 wird über die Vorschläge des französischen Präsidenten Macron gerungen, ein gemeinsames Budget für die Eurozone aufzustellen und eine gemeinsame Haftung für Spareinlagen vorzunehmen. Mit einem gemeinsamen Budget könnten die Länder der Eurozone gemäß Macron bei Wirtschaftskrisen gegensteuern und Zukunftsinvestitionen finanzieren. Auch soll es mittel- bis langfristig einen Finanzminister für die Eurozone geben. Als Reaktion auf die Finanzkrise wurde 2014 die Europäische Bankenunion beschlossen. Sie sollte drei Pfeiler haben, hat aber erst zwei: eine europäische Bankenaufsicht und ein Mechanismus für die Abwicklung von Pleite-Banken. Der französische Präsident drängt auf die noch fehlende gemeinsame Einlagensicherung, um das Geld europäischer Sparer zu schützen. Die dt. Bundesregierung tut sich mit den Vorschlägen des französischen Präsidenten sehr schwer.
So hoffnungsvoll Merkel in ihrer Europapolitik 2007 mit dem Entwurf für den Lissabonner Vertrag gestartet war, so enttäuschend verliefen die nachfolgenden Jahre mit den zahlreichen Krisen in Europa. Merkel hat(te) keine weiteren Reformvorstellungen für die EU entwickelt und keinen Willen gezeigt, die EU zu verändern. Für sie hat das Funktionieren der EU Priorität. Das wurde auch im Wahlkampf 2017 deutlich: Sie möchte eine strengere Kontrolle der EU-Außengrenzen, eine bessere Umsetzung der gemeinsamen Asylpolitik. Sie will, dass der Euro und der Wettbewerb eine problemlose Basis des Binnenmarkts bilden. Angela Merkel hat sich nur in den ersten Jahren als Reformerin Europas gezeigt. Spätestens seit dem Ausbruch der Finanzkrise etablierte sie sich als Bewahrerin, die eisern am Status quo festhielt. Sie verteidigte die erreichten Vorteile des Binnenmarkts und stand/steht einer eventuellen Vertragsänderung sehr skeptisch gegenüber. Große europäische Pläne oder gar Visionen hat sie nicht initiert.
Die Europäisierung des politischen Systems Ds
Der europäische Integrationsprozess hat die politischen Prozesse und Institutionen Ds nachhaltig verändert. So bedeutet dt. Europapolitik nicht nur die von Kanzleramt und Außenministerium praktizierte Politik gegenüber „Brüssel“, sondern nationale und europäische Ebene sind miteinander verknüpft und wirken wechselseitig auf die jeweiligen Entscheidungsträger ein. Da der Binnenmarkt mit der Euro-Zone den Kern EU-Europas bildet, wirkt die EU mithilfe von Richtlinien, Verordnungen und Empfehlungen in die Nationalstaaten. So werden vor allem die Wettbewerbs-, Währungs- und Agrarpolitik sehr stark von „Brüssel“ bestimmt, gefolgt von der Umwelt- und Regionalpolitik. So hat nationale Politik europäischen Vorgaben z. B. gemäß dem Maastrichter Vertrag in Bezug auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik zu folgen, wenn die Gesamtverschuldung maximal 60 % des Bruttoinlandprodukts (BIP) und die Neuverschuldung eines Haushalts maximal 3 % des BIP übersteigen. Auch ist von einer quantitativen Dominanz der europäischen Gesetzgebung im Deutschen Bundestag auszugehen. Wenn auch nicht die vom ehemaligen Kommissionspräsident Delors genannte Zahl von 80% der Entscheidungen in den Mitgliedstaaten europabasiert sind, so lässt sich eine Dominanz der europäischen Gesetzgebung im Deutschen Bundestag feststellen. Welcher europäischen Gesetzgebung D folgt, es muss immer die europäischen Vorgaben beachten, die in unterschiedlicher Konkretion auszufüllen sind. Auch wenn es das europäische Mehrebenensystem gibt, in dem supranationale und nationale Entscheidungen ineinandergreifen, so hat sich inzwischen ein Dualismus zwischen nationalen Regierungsvertretern und EU-Institutionen entwickelt. Formal ist die Kompetenz von Bundestag und Bundesrat gestärkt worden, wenn der Bundestag durch Art. 45 GG einen Europaausschuss und der Bundesrat durch Art. 52 GG eine Europakammer erhalten haben. Für die tägliche Politik bedeutsamer sind das seit 2007 bestehende Verbindungsbüro des Deutschen Bundestages in Brüssel und die Vertretungen der Länder in Brüssel. Diese Institutionen sind bedeutsam bei der Beschaffung von Informationen im Kontext der Informationsflut, die aus Brüssel kommt. Besonders seit dem Lissabonner Vertrag sind die Informations- und Mitwirkungsrechte von Bundestag und Bundesrat in der Europapolitik deutlich gestärkt worden. Aber auch umgekehrt hat sich eine starke Einflussnahme der EU auf die nationale Politik ausgewirkt. Im Koalitionsvertrag 2017 steht die Europapolitik an erster Stelle, womit ihre Bedeutung unterstrichen wird. Somit hat eine Akzentverschiebung der Europapolitik vom autonomen zum vernetzten Akteur stattgefunden, was zeigt, dass durch den Integrationsfortschritt dt. Regierungshandeln sich nicht mehr ausschließlich an vermeintlich nationalen Interessen ausrichten kann.
Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Wichard Woyke