Begriff und Relevanz
Weder in der Öffentlichkeit noch in den Sozialwissenschaften besteht Einvernehmen darüber, was unter E. zu verstehen ist. Der Begriff geht auf das lateinische Wort „eligere“ zurück, das „auswählen“ oder „auslesen“ bedeutet. Im Einklang damit bedeutet die Zugehörigkeit zu E. immer das Herausgehobensein aus einer größeren sozialen Gemeinschaft unabhängig davon, auf welchen Kriterien die Auswahl beruht und mit welchen Privilegien sie verbunden ist. Zum allgemein anerkannten Bedeutungsgehalt der E. gehört darüber hinaus ihr dauerhafter Einfluss auf Entscheidungen, die für eine größere Personengruppe relevant sind. Welche Ressourcen diesen Einfluss begründen, etwa durch Wahlen legitimierte Macht, Gewalt oder Kapital, variiert im Zeitverlauf, im Vergleich der Kulturen und auch zwischen einzelnen E.sektoren. Die Besonderheit der politischen E. ergibt sich daraus, dass die von ihnen getroffenen Entscheidungen für die gesamte →Gesellschaft verbindlich sind.
Die Relevanz von E. ergibt sich v. a. daraus, dass ihre Zusammensetzung, ihr Status und ihr Austausch Auskunft über die Struktur, die soziale Mobilität und die Machtverteilung in einer Gesellschaft geben. Üblicherweise werden E. im Hinblick auf die Kategorien Macht, Funktion, Position oder Werte definiert. Der Begriff der Wertelite bestimmt die E. danach, wie sehr sie Grundwerte der Gesellschaft verkörpern bzw. diese in ihrem Reden und Handeln zum Ausdruck bringen. Dieser stark normativ unterlegte E.begriff ist in der Öffentlichkeit weit verbreitet. In den Sozialwissenschaften haben sich hingegen der Funktions- und der Positionsansatz durchgesetzt. Danach bestimmt sich die Zugehörigkeit zu E. nach der Wahrnehmung für die Gesellschaft wesentlicher Leitungsfunktionen bzw. nach der Einnahme bestimmter mit Entscheidungskompetenzen ausgestatteter Führungspositionen. Im Kontext der jüngeren Debatten um Bildungsreformen hat zudem der Begriff der Leistungs-E. eine Wiederbelebung erfahren. Der Zugang zu den E. wird nach dieser Lesart durch herausragende Leistungen und besondere Verdienste erworben.
Wer dem Kreis der E. zugerechnet wird, hängt vom zugrunde liegenden E.verständnis wie auch vom betrachteten Sektor ab. Anforderungsprofile und Rekrutierungsmechanismen sind bei politischen Spitzenpositionen andere als beim Führungspersonal der Wirtschaft, der Medien (→Massenmedien) oder der Verbände (→Interessengruppen). Zu unterscheiden sind in allen Sektoren die E. im engeren Sinne (in D. etwa die Bundesminister und die Vorstandsvorsitzenden der DAX-Unternehmen) und die sogenannten Subeliten (in D etwa Bundestagsabgeordnete ohne Führungsaufgaben oder die Vorstände mittelgroßer Unternehmen).
Elitentheorie und Elitenforschung
Das Nachdenken über die Auswahl geeigneten Führungspersonals lässt sich ideengeschichtlich bis in die Antike zurückverfolgen. Von einer E.forschung im engeren Sinne kann jedoch erst seit Ende des 19. Jhdts. gesprochen werden. Die in dieser Zeit entstandene elitistische Schule, der insbesondere Mosca, Pareto und Michels zugerechnet werden, zeichnet sich v. a. durch drei Annahmen aus: Erstens versteht sie E. als ein universelles, für Gesellschaften grundlegendes Phänomen. Damit verknüpft geht sie zweitens von einem Gegensatz zwischen E. und Masse aus. Die E. steuern demnach die gesellschaftlichen Prozesse und organisieren sozialen Wandel, wofür sie sich ggf. der Mobilisierung größerer Bevölkerungsgruppen („Massen“) bedienen. Drittens wird von einer E.zirkulation ausgegangen, die sich entweder evolutionär oder durch schlagartige Regimewechsel vollziehen kann. Sie führt notwendig zur Herausbildung neuer, auf die Verfolgung eigener Interessen bedachter und insoweit der Bevölkerung entfremdeter E. (das eherne Gesetz der Oligarchie nach Michels).
In seiner Ursprungsform wird der elitistische Ansatz wegen der Entkopplung der E.bildung von demokratischen Verfahren und der einseitigen Fokussierung auf das E.handeln kaum noch verfolgt. Im Laufe der bdt. Geschichte ist es zu einer Vermittlung von E.konzept und Demokratie gekommen, indem die E.bildung an soziale Referenzgruppen gekoppelt wird. Die E. gehen demnach – einer berühmten Formulierung Stammers zufolge – aus gesellschaftlichen „Muttergruppen“ hervor, denen sie verpflichtet sind. Eine weitere „Demokratisierung“ der E.theorie ist durch den E.pluralismus erfolgt. Dieser stellt auf die Rekrutierung der E. aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und Bereichen sowie auf den gleichberechtigten Zugang zu Führungspositionen ab. Empirisch konnten jedoch für alle Elitensektoren unterschiedliche Zugangschancen je nach Schichtzugehörigkeit, Bildung, Herkunft und Geschlecht nachgewiesen werden. Die heutige E.forschung widmet sich neben der Untersuchung von Rekrutierung und Zirkulation verstärkt Fragen der E.integration. So gelten pluralistische, zugleich aber strukturell wie normativ integrierte und über Sektoren hinweg vernetzte (konsensuell geeinte) E. als wesentliche Voraussetzung für die Konsolidierung junger Demokratien.
Eliten in Deutschland
Nachkriegsdeutschland
Die Wahrnehmung eines für den Niedergang der Weimarer Republik verantwortlichen E.versagens und der Missbrauch des E.begriffs durch die Nationalsozialisten prägten in doppelter Weise die Geschichte der BRD: Zum einen blieb der E.begriff für lange Zeit diskreditiert und war als Selbstzuschreibung untauglich geworden. Erst etwa seit den 2000er-Jahren wird er im öffentlichen Sprachgebrauch wieder regelmäßig verwendet, allerdings in der Regel ohne positive Konnotationen, wie sie traditionell in den USA und Frankreich üblich sind. Insbesondere das politische Führungspersonal der jungen deutschen Demokratie war entsprechend bemüht, jeglichen elitären Habitus zu vermeiden, um sich keiner gesellschaftlichen Kritik auszusetzen. Ralf Dahrendorf charakterisierte diese Haltung der Nachkriegseliten als ein „Kartell der Angst“. Zum anderen erfolgte die demokratische Neugründung in scharfer Abgrenzung zum NS-System, die sich auch in der Zusammensetzung des Führungspersonals spiegeln sollte. Faktisch blieb der E.austausch jedoch auf die Politik und wenige weitere gesellschaftliche Bereiche begrenzt und erfolgte selbst dort unvollständig. In Verwaltungsapparat und Justiz hingegen bestanden nach dem Ende des nationalsozialistischen Ds bemerkenswerte personelle Kontinuitäten.
Dessen ungeachtet hat sich in der BRD über gesellschaftliche Sektoren hinweg eine konsensuell geeinte Elite herausgebildet. Diese zeichnet sich einerseits durch kommunikative Vernetzung, andererseits durch gemeinsame demokratische Grundüberzeugungen aus. Zugleich hat sich die bereits in der Weimarer Rep. einsetzende soziale Öffnung des Zugangs zu E. (z. B. für Frauen) teils fortgesetzt. Für die westdeutschen E. vor der dt. Vereinigung sind daher eine pluralistische Zusammensetzung und eine relativ erfolgreiche (horizontale und vertikale) Integration festzustellen. Die horizontale E.integration, d. i. die Integration der verschiedenen Sektoreliten, ist dabei durch korporatistische Tendenzen im →politischen System und den kooperativen Föderalismus begünstigt worden.
Die E.rekrutierung in der →DDR folgte grundlegend anderen Mustern: der zentralistischen, von der SED gesteuerten Kaderauswahl. Die Führungsfunktionen in Staat und Partei wurden primär nach politischer Loyalität vergeben, während etwa im Bereich der Wirtschaft fachliche Qualifikationen eine größere Rolle spielten. Nach einer anfänglich gezielten Förderung von Kandidaten aus der Arbeiterschaft erfolgte mit fortschreitender Zeit die Selbstrekrutierung aus der Funktionärsschicht. In der Endphase der DDR fand ein E.austausch kaum mehr statt mit der Konsequenz einer massiven Überalterung der Staats- und Parteiführung.
Die Eliten im vereinten Deutschland
Während die E.struktur Westdeutschlands durch die →deutsche Einheit zunächst kaum tangiert wurde, vollzog sich in den ostdt. Ländern ein rasanter E.wandel. Der Austausch der E. fiel dabei so umfassend aus wie in keiner anderen postkommunistischen Gesellschaft. Diese Besonderheit war v. a. dem E.transfer im Gefolge der deutschen Einheit geschuldet, als Führungspositionen u. a. in Exekutive und Justiz überwiegend mit westdeutschem Personal besetzt wurden. Im Unterschied zu den politischen E. ergibt sich für andere E.sektoren ein differenziertes Bild. So ist es in der Wirtschaft zu einer weit größeren E.reproduktion gekommen als in der Politik. Eine stärkere personelle Kontinuität über den Regimewechsel hinweg kennzeichnet Teilbereiche der Kultur und der Wissenschaft, v. a. die Ingenieurs- und Naturwissenschaften.
Vor dem Hintergrund der nahezu vollständigen Übertragung des westdt. Institutionensystems nach Ostdtld. stellte die E.integration eine bedeutende Aufgabe dar. Empirische Untersuchungen, darunter bereits Mitte der 1990er-Jahre die Potsdamer Elitestudie (Bürklin et al. 1997), belegen ein erhebliches Maß an Annäherung ost- und westdt. E. nicht nur hinsichtlich sozialstruktureller Merkmale, sondern auch in der Rollenwahrnehmung und in Bezug auf (politische) Einstellungen. Mit Blick auf die horizontale E.integration konnte die deutsche Einheit bereits zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall als weitgehend abgeschlossen gelten. Diese Entwicklung findet keine Entsprechung im Verhältnis zwischen E. und Bürgern, d. i. der vertikalen E.integration. Zu konstatieren ist vielmehr eine beträchtliche Distanz und Skepsis der Bürger gegenüber den politischen und wirtschaftlichen E. Die Kluft zwischen E. und Bürgern ist dabei in den neuen →Ländern noch ausgeprägter als in den alten. Zudem ist der gesamtdeutschen E.integration keine Angleichung der →politischen Kultur in Ost- und Westdeutschland gefolgt.
30 Jahre nach der deutschen Einheit besteht weiterhin eine Asymmetrie bei der Herkunft der E. in Ost- und Westdtld.: Während ostdeutsche E. in den westdeutschen Ländern Seltenheitswert haben, kommen noch heute jeder dritte Landesminister und mehr als die Hälfte der Staatssekretäre in den neuen Ländern aus Westdtld. Die Überrepräsentation von in den alten Ländern sozialisierten Führungskräften unter den Eliten in Ostdtld. – in der Politik, aber auch in Wirtschaft und Wissenschaft – ist in den vergangenen Jahren verstärkt kritisiert worden. Darin wird ein Grund für das geringere E.vertrauen in den ostdt. Ländern und das Empfinden mangelnder Selbstbestimmung gesehen.
Mit der kritischen Beobachtung der E. und der Besetzung von E.positionen einher geht der verstärkte Ruf nach E. Im öffentlichen Diskurs richtet sich die Aufmerksamkeit dabei zusehends auf den Bildungssektor. Die Frage nach der E.bildung wird dabei mitunter zur Forderung nach Bildungseliten. Entsprechende Programme wie Exzellenzinitiativen, „Spitzenforschung“ oder E.schulen und -universitäten finden entsprechend größere gesellschaftliche Akzeptanz. Zugleich hat die Selektivität des Bildungswesens im vereinten Dtld. neue Debatten um soziale Schließung und Ausgrenzung bei der E.bildung ausgelöst. Moniert wird u. a. die Tendenz zur Selbstreproduktion in den Führungsetagen der Wirtschaft. Demgegenüber ist der Zugang zu politischen E. offener. Dazu tragen die politischen Parteien bei, die ihr Führungspersonal vorwiegend nach politischer Erfahrung und Loyalität auswählen und nicht nach der sozialen Herkunft.
Elitenkritik und Herausforderungen
Nicht nur in D sehen sich die Eliten am Ende der 2010er-Jahren verschärfter Kritik ausgesetzt. Diese bezieht sich auf ihr Handeln und ihren (mutmaßlichen) Habitus, aber auch auf die soziale Zusammensetzung. Die oftmals pauschalen Vorwürfe reichen von der Selbstbereicherung und „Abgehobenheit“ der E. über die Missachtung von Gemeinwohl- und Bürgerinteressen bis hin zu mangelnder Repräsentativität. Teils werden dabei Argumente benutzt, die bereits in den 1970er-Jahren von Verfechtern partizipativer Demokratiekonzepte vorgebracht worden sind. Verbreiteter ist derzeit jedoch die rechtspopulistische Fundamentalkritik an den E., die als wichtiges Instrument der Mobilisierung gegen „die da oben“ dient. Dieses regelrechte E.-Bashing stellt die dt. E. einmal mehr vor die Aufgabe, die vertikale E.integration z. B. durch Aufgreifen von Handlungsimpulsen und neue Partizipationsangebote zu verbessern – ohne zugleich die Erfolge der horizontalen Integration zu gefährden.
Ohnehin sind die E. in D angesichts der fortschreitenden Globalisierung, von Desintegrationstendenzen sowie einer wachsenden gesellschaftlichen und politischen Polarisierung gewaltigen Herausforderungen ausgesetzt. Gleichzeitig ist ihr Entscheidungsspielraum im Zuge der europäischen Integration gesunken. Dies gilt in besonderem Maße für die politischen E. So ergibt sich die paradoxe Situation, dass die E. ausgerechnet zu einer Zeit Herkulesaufgaben bewältigen und den hohen Erwartungen der Bevölkerung entsprechen sollen, zu der ihnen besonders wenig Vertrauen entgegengebracht wird. Es liegt auf der Hand, dass es dafür entsprechend leistungsfähiger E. bedarf. Gefragt sind daher E, die verbliebene Gestaltungsspielräume ausschöpfen und den solchermaßen untersetzten Anspruch auf (politische) Führung mit der geforderten Transparenz und Responsivität vermitteln können.
Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Michael Edinger