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Deutschlandforschung | bpb.de

Deutschlandforschung

Frank Hoffmann

Deutschlandforschung (Df) lässt sich als multidisziplinärer und komparativer Zugriff auf D und damit als Variante der area studies beschreiben. Damit wird für ein weites Verständnis des Begriffs plädiert, der im globalen Fokus auf Deutschland- und Europastudien zielt. Die Df durchlief infolge methodischer Innovationen und wegen der Veränderungen in D in den Jahren 1989/90 mehrere Entwicklungsstadien, die insgesamt als Emanzipation von der Politikberatung zu interpretieren sind. Verbindlicher Kern bleibt über diese Transformationen hinweg das Bemühen um eine „integrierende Betrachtung“ (Anweiler et al. 1990) vielfältiger D-Aspekte und die Erfahrung von Differenz in D: anfangs im Kontext von deutscher Teilung und deutscher Frage, dann im Transformationsprozess des vereinten Lands ab 1990, nun im vergleichenden europäischen und globalen Horizont. Die Internationalisierung der Df mit Forschungszentren auf drei Kontinenten belegt die Fruchtbarkeit des interdisziplinären Ansatzes im Sinne einer „ganzen Df“ (Wilhelm Bleek).

Df im engeren Sinne konzentrierte sich lange auf die mit der deutschen Teilung und Vereinigung verbundenen Probleme von Deutschlandpolitik und deutscher Frage sowie die Entwicklung der →DDR als totalitäres System sowjetischen Typs. Ab 1950 erwachsen aus der kritischen Analyse von z. T. durch Erfahrungen in der DDR sensibilisierten Sozial- und Politikwissenschaftlern, verknüpfte die DDR-Forschung bald Experten vieler Disziplinen. Oft politiknahe Institutionen (Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands; Gesamtdeutsches Institut) untersuchten, um einer baldigen Wiedervereinigung zuzuarbeiten, die gewaltsame Veränderung aller Lebensbereiche in der DDR und die Machtgrundlagen der SED-Diktatur.

Die Zäsur von 1961 erforderte neue theoretische Ansätze und eine Schärfung des methodischen Bewusstseins. Quellen wie Flüchtlingsbefragungen fielen weg, die interdisziplinäre Verschränkung wurde durch gegenseitige Erhellung von Sachverhalten (Nutzung literarisch-publizistischer Materialien zur Untersuchung gesellschaftliche Prozesse und von Mentalitäten) befördert. Die dominante Richtung der sozial- und politikwissenschaftlichen Df versuchte nun, die Entwicklung in der DDR an ihren selbst gesetzten Maßstäben zu messen, zu beschreiben und zu bewerten. Diese „kritisch-immanente Methode“ (Peter Christian Ludz) stand im Horizont der internationalen Entspannung und der Annahme industriegesellschaftlicher Systemkonvergenz. Man registrierte Strukturveränderungen und Teilerfolge der DDR, blendete aber die diktatorische Machtausübung der SED (u. a. durch den Staatssicherheitsdienst) partiell aus.

Brandts neue Ostpolitik gab Impulse für den Systemvergleich von DDR und BRD (Materialien zur Lage der Nation, ab 1971; DDR-Handbuch, 1975, 1985) und trug zur Funktionalisierung durch →Politikberatung und →politische Bildung wie zur methodischen und politischen Ausdifferenzierung der Df bei. Die 1978 gegründete „Gesellschaft für Deutschlandforschung“ (GfD) plädierte für eine kritischere Bewertung der DDR und betonte das Ziel der nationalen Einheit, das auch in Teilen der Politik infrage gestellt wurde. Erweitert wurde das Spektrum durch Diskussionen um die „deutsche Identität“ und die „Bundesrepublikforschung“.

Nach der allseits unerwarteten Vereinigung infolge der Friedlichen Revolution resultierte die methodisch-politische Divergenz in Kontroversen um das angebliche prognostische Versagen und die unkritische Bewertung der DDR, etwa ihrer Wirtschaftskraft. Zugleich erwachte nun in den Fachdisziplinen ein neues Interesse an Themen der Df durch die zeithistorische Aufarbeitung der SED-Diktatur und die Untersuchung der Transformationsprozesse in Ostdeutschland. Zu dieser Frage entwickelte sich ab 2005, getragen von einem Netzwerk ostdeutscher Forschungsinstitute, als jüngste Variante der Df die „Ostdeutschlandforschung“. Hier wie in anderen Feldern der historisch-politischen Aufarbeitung und der Transformationsforschung wird der Wert interdisziplinärer Kooperation neu betont.

Bei der Internationalisierung der Df als ihrer wichtigsten Entwicklungsrichtung wird Df zunehmend mit Europaforschung verknüpft und damit globalisiert. 20 vom DAAD geförderte Institute in den USA (6) und Kanada (2), in Brasilien, Bulgarien, China, Frankreich, Großbritannien, Israel (2), Japan, den Niederlanden, Polen, Russland und Süd-Korea arbeiten als „Zentren für Deutschland- und Europastudien“ zusammen (jüngste Konferenz im Dezember 2018 in Berlin); allerdings findet auf D. bezogene Forschung und Lehre auch außerhalb dieser Einrichtungen in vielen Ländern in interdisziplinären Formaten statt. Gerade weil, zumal im angloamerikanischen Bereich, der Erfolg der German Studies den Rückgang philologischer Interessen (und des Fachs Germanistik) anzeigt, fordert dieser internationale Trend die Df in D selbst heraus: zur Verbindung von Df mit Deutschland- und Europastudien zu einer D im europäischen Kontext erfassenden praxisorientierten „Landeswissenschaft“ (W. Schmitz). Die Arbeit der beiden 1989 gegründeten Institute für Df in Bochum und HB trägt dieser Aufgabe in differenzierter Form Rechnung.

Dagegen hat sich die Aufarbeitung der DDR-Geschichte rein zeitgeschichtlich fokussiert und muss sich auch daher längst mit dem gleichwohl nicht zutreffenden Eindruck von „Überforschung“ und „Verinselung“ auseinandersetzen (vgl. Mählert 2016). Wie bewegt das Feld der Df ist, zeigen ebenso die Umprofilierung der fachübergreifend konzipierten Zeitschrift Deutschland Archiv (1968 ff., 2011 auch im Internet, seit 2013 nur noch dort, mit einem Jahrbuch als Digest) zu einem Medium historisch-politischer Bildung und die Überführung der GfD als „Forum Df“ unter das Dach der „Deutsche Gesellschaft e. V.“ im Jahre 2018. Gerade vor dem Hintergrund der neuerlich exponierten Selbstreflexionen ostdeutscher Transformationserfahrungen nach 1990 scheint indes die Reintegration von historischer DDR-Forschung und gegenwartsbezogener Df dringend angezeigt.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Frank Hoffmann

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