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Bundesverfassungsgericht | bpb.de

Bundesverfassungsgericht

Jürgen Plöhn

Dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG), dem höchsten deutschen Gericht, kommt die Stellung eines der fünf obersten Staatsorgane Ds zu. Es hat ebenso höchstes Lob wie schärfste Kritik erhalten: Sehen die einen im Verfassungsgericht die Krönung des → Rechtsstaates, meinen andere eine Einengung der → Demokratie zu erkennen. Für die breite Öffentlichkeit stellt es – weit vor Parlament und Regierung – einen der Hauptträger ihres Institutionenvertrauens dar.

Theoretische Voraussetzungen

Grundlegend für das Verständnis einer Verfassungsgerichtsbarkeit ist die auf Abbé E. J. Sieyes zurückgehende Unterscheidung zwischen verfassungsgebender und verfasster Gewalt: Die auf der → Volkssouveränität beruhende Verfassung begründet eine Kompetenzordnung, für deren Überwachung bereits Sieyes ein Verfassungsgericht vorgesehen hatte. Wirksam werden kann dieses nur, wenn die Verfassung als fundamentales Gesetz Anerkennung findet (normative Verfassung).

Richterliche Normenkontrolle setzt darüber hinaus eine Normenhierarchie voraus, so bereits der US Supreme Court in Marbury v. Madison (1803). Diese bedarf einer institutionellen Absicherung durch eine erschwerte Abänderbarkeit (Rigidität) der Verfassung.

Historische Entwicklung in Deutschland

Die Verfassung des Kaiserreiches sah keine → Grundrechte vor und bestimmte für staatsrechtliche Konfliktfälle den Bundesrat als Schiedsstelle (Art. 76 RV). Die Weimarer Republik kannte einen Staatsgerichtshof beim Reichsgericht in Leipzig (Art. 108 WRV) und ein Wahlprüfungsgericht beim Reichstag (Art. 31 WRV). Der Staatsgerichtshof versagte beim „Preußenschlag“ Papens (1932) kläglich. Nach den Erfahrungen mit dem NS-Staat sollte sodann das BVerfG die Rechtsordnung unter einen umfassenden Gerichtsschutz stellen.

Organisation des Bundesverfassungsgerichts

Da das BVerfG zu seinem Tätigwerden eines speziellen Gesetzes bedurfte (Art. 94 Abs. 2 GG), ist es erst 1951 – nach Verabschiedung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) – funktionsfähig geworden. Seither besteht das Gericht aus zwei, seit 1963 mit acht Richtern besetzten Senaten, die beide nach außen als „das Bundesverfassungsgericht“ auftreten; Plenarentscheidungen zu anhängigen Fällen bilden seltene Ausnahmen.

Die beiden Spruchkörper haben je eigene Zuständigkeitsbereiche, abgegrenzt nach Antragsarten und -gegenständen. Da das Fallaufkommen zu den einzelnen Antragsarten bei Gründung des Gerichts nicht korrekt eingeschätzt worden war und sich nachfolgend verändert hat, musste die Geschäftsverteilung wiederholt angepasst werden. Betrugen die Eingänge 1951–1955 im Ersten Senat 3378 und 34 im Zweiten, 1956–1960 4480 zu 982, lagen sie 2014–2018 bei 15.880 zu 14.517. Gleichwohl sind die meisten Verfahrensarten dem Zweiten Senat zugewiesen. Der Erste Senat ist für einen Teil der Verfassungsbeschwerden und Normenkontrollen zuständig. Allein der Zweite Senat fungiert als „Staatsrechtssenat“, tritt heute aber neben dem Ersten auch als „Grundrechtssenat“ in Erscheinung.

Als oberstes Verfassungsorgan stellt das Gericht den Entwurf für seinen Haushalt selbst auf (2018: 30,8 Mio. €). Bis hin zur Geschäftsverteilung (§ 14 Abs. 4 BVerfGG) regelt es auch seine innere Organisation weitgehend eigenständig. Über seine Mitarbeiter (2018: 178 Mitarbeiterstellen) hat es die Personalhoheit. Mit anderen Staatsorganen verkehrt es auf direktem Wege.

Präsident und Vizepräsident des Gerichts müssen unterschiedlichen Senaten angehören und führen dort den Vorsitz (§ 9 Abs. 1, § 15 Abs. 1 BVerfGG). Zur Erledigung von Verfassungsbeschwerden und (seit 1993) Richtervorlagen haben die beiden Senate je drei „Kammern“ mit jeweils drei Mitgliedern gebildet, die der Vorprüfung dienen und die Masse der Eingänge abarbeiten.

Vor den kollegialen Letztentscheidungen bearbeitet jeder Richter ein durch Senatsbeschluss sachbezogen abgegrenztes „Dezernat“. Dadurch dominiert das „Fachrichtertum“.

Während in den „Kammern“ bei Verhinderungen von Richtern senatsinterne Vertretungsregelungen gelten, findet bei Befangenheit eines Richters oder Beschlussunfähigkeit eines Senats in einer dringlichen Angelegenheit eine Vertretung durch Richter des jeweils anderen Senates nach Losentscheid statt (§ 38 GO BVerfG). Hierdurch können sich die Mehrheitsverhältnisse in unvorhersehbarer Weise ändern.

Die Richter des Bundesverfassungsgerichts

Alle Richter am Bundesverfassungsgericht müssen über die Befähigung zum Richteramt verfügen (§ 3 Abs. 2 BVerfGG). Für drei der Richter jedes Senates ist weiterhin vorgeschrieben, dass diese zum Zeitpunkt ihrer Wahl an einem der obersten Bundesgerichte amtieren – in der Regel seit mindestens drei Jahren (§ 2 Abs. 3 BVerfGG). Die Amtszeit beträgt heute für sämtliche Verfassungsrichter zwölf Jahre, sofern diese nicht durch Rücktritt, Vollendung ihres 68. Lebensjahres (§ 4 BVerfGG) oder Tod vorzeitig aus dem Amt scheiden.

Die formalen Wahlvorschriften sind durch die Differenzierung hinsichtlich je zweier Wahlorgane, Gerichtssenate und Richterkategorien recht kompliziert: Jeweils zur Hälfte werden die Mitglieder beider Senate vom → Bundesrat und → Bundestag gewählt. Dabei ist der Bundestag an die mit acht Stimmen zu fassenden Vorschläge seines zwölfköpfigen Wahlausschusses gebunden, wählt aber seit 2015 im Plenum mit einer Zweidrittelmehrheit der Anwesenden, der Bundesrat konstant mit Zweidrittelmehrheit seiner Stimmen (§§ 5–7 BVerfGG). Das Bundesjustizministerium führt Listen mit den Namen der hinreichend lange tätigen Bundesrichter und vorgeschlagenen Kandidaten. Über Vorschlagsrechte verfügen alle Bundestagsfraktionen, die → Bundesregierung und Landesregierungen sowie – im Falle von Wahlverzögerungen – hilfsweise das Bundesverfassungsgericht selbst (§§ 7a, 8 BVerfGG). Gegenzeichnungspflichtig ernannt und vereidigt werden die Richter durch den Bundespräsidenten.

Die Besetzung eines obersten Staatsorgans stellt indes eine bedeutsame politische Machtfrage dar. Aus diesem Grunde wird der formale Prozess in prägender Weise überlagert durch Kontakte zwischen hochrangigen Exponenten der → Parteien aus beiden Gesetzgebungsorganen. Die realen Abläufe sind dadurch konsensdemokratisch geprägt, aber weitgehend intransparent.

Die erforderliche Zweidrittelmehrheit hat in den 70er-Jahren zur Anerkennung differenzierter Zugriffsrechte der Parteien geführt. Dabei hatten Unionsparteien und → SPD wechselseitig ein Vorschlagsrecht der anderen Seite in Bezug auf vier Richterstellen in jedem der beiden Senate mit der Maßgabe akzeptiert, dass je eine Richterstelle pro Partei und Senat mit einer parteipolitisch ungebundenen – nicht unbedingt „neutralen“ – Person besetzt wird. Die Wünsche der → CSU waren aus dem Kontingent der Union, diejenigen der → FDP und seit 2001 auch die der Grünen (→ Bündnis90/Die Grünen) waren bei „kleinen“ Koalitionen aus demjenigen des Koalitionspartners zu bedienen. „Personalpakete“ zwischen den Parteien haben bei Präsidentenwechseln sogar künftige Entscheidungen des jeweils anderen Wahlorgans einbezogen. Die nicht zum Zuge kommende Seite hat sich jeweils eine Zumutbarkeitsprüfung der Nominierten vorbehalten und gelegentlich ausgeübt. Die Schwäche der Volksparteien hat Veränderungen dieses Arrangements in Richtung auf einen Parteienproporz unter den Richtern nötig gemacht.

Im Ergebnis gelangen neben Bundesrichtern insbesondere Juraprofessoren, hohe Beamte, Landesrichter und Politiker mit Regierungserfahrung in Bund oder Land auf die Richterbank. Das Bestellungsverfahren hat eher „Ausgewogenheit“ der Besetzung des Gerichts als „Distanz“ der Richter von den politischen Parteien erreicht.

Zuständigkeiten und Verfahren

Von den 24 statistisch erfassten Verfahrensarten sind zwei schon im ersten Jahrzehnt der Existenz des BVerfGs wieder entfallen, eine durch Zeitablauf obsolet geworden, eine läuft seit der Errichtung eines schleswig-holsteinischen Verfassungsgerichts (2008) leer; andere sind verändert oder später hinzugefügt worden. Zu sechs Kategorien (Richter- und Präsidentenanklagen, Amtsenthebungen von Verfassungsrichtern sowie drei neuen Verfahrensarten) gibt es bislang keine Eingänge.

Mit einem Anteil von 96,6 % (1951–2018: 229.899 von 238.048) der verfahrensbezogenen Eingänge sind die Verfassungsbeschwerden (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a-4b GG) für den Geschäftsanfall des Gerichts absolut dominant. Seit 1956 ist für Verfassungsbeschwerden ein Annahmeverfahren vorgeschrieben, in dem die „Kammern“ der beiden Senate unzulässige und inhaltlich aussichtslose Beschwerden zurückweisen, seit 1986 auch offenkundig begründeten Anträgen stattgeben können (§§ 93a-93d BVerfGG). Abgesehen von den „kommunalen Verfassungsbeschwerden“ können diese als individuelle Beschwerden von „jedermann“ erhoben werden, wenn die Verletzung eigener Grundrechte oder „grundrechtsgleicher“ Rechte geltend gemacht wird und der Rechtsweg erschöpft ist. Individuelle Verfassungsbeschwerden gehen daher typischerweise als „Urteilsverfassungsbeschwerden“ ein und begehren faktisch die Revision einer letztinstanzlichen Gerichtsentscheidung. Weit seltener kann ein Beschwerdeführer die Verletzung eigener Rechte unmittelbar durch ein Gesetz geltend machen (z. B. Unternehmen durch das Mitbestimmungsgesetz).

Nach der Anzahl der Eingänge (1951–2018: 3678) an zweiter Stelle stehen konkrete Normenkontrollanträge, die jedes deutsche Gericht zu stellen hat, wenn es „ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt“, mit dem Grundgesetz für unvereinbar hält (Art. 100 Abs. 1 GG). Aufgrund von Begründungsmängeln zahlreicher Richtervorlagen werden diese seit 1993 ebenfalls einer Vorprüfung durch die Kammern unterzogen. Von 2009 bis 2018 sind die Entscheidungen zu den von Richtern behaupteten Verfassungswidrigkeiten zu 52,9% (74 von 140) von Verfassungsrichtern bereits im Vorverfahren als offenkundig unbegründet erlassen worden.

Von 0,6 % (bis 1990) auf 2,1 % der Verfahren (insgesamt: 3309, 2009–2018:1322) stark zugenommen haben die – unselbständigen – einstweiligen Anordnungen (§ 32 BVerfGG). Zyklisch schwankend folgen die gleichfalls zunehmenden Verfahren zur Prüfung von Wahlen und Mandaten (Art. 41 Abs. 2 GG, 1951–2018: 365).

Die abstrakten Normenkontrollverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, 1951–2018: 183) sind zwar prozessrechtlich ohne konkrete Streitparteien allein auf den Schutz der Rechtsordnung ausgerichtet, können aber seitens der Antragsteller zur Austragung rechtspolitischer Kontroversen verwendet werden (z. B. Abtreibung, Juniorprofessur). Antragsbefugt sind die → Bundesregierung, ein Viertel (ehemals ein Drittel) der Bundestagsabgeordneten sowie die einzelnen Landesregierungen. Anträge der letztgenannten überwiegen diejenigen aus dem Bundestag deutlich. Da jeder Antragsteller die Überprüfung sowohl von Bundes- als auch von Landesrecht beantragen kann, sind in beiden Richtungen Überprüfungen möglich, welche sich auf die jeweils andere Ebene des föderativen Systems beziehen (z. B. Rundfunkgesetze, 1986, 1991; Bundeswahlgesetz, 1997).

Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, 1951–2018: 231) markieren häufig hochpolitische Konflikte über status- und verfahrensbezogene Normen des politischen Prozesses und gelten der Sicherung seiner Fairness. Antragsberechtigt sind die obersten Bundesorgane oder andere Beteiligte, die durch Grundgesetz oder die Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind (wie Abgeordnete und Fraktionen des Bundestages sowie politische Parteien). Beispiele bilden die Anfechtungen der Bundestagsauflösungen von 1983 und 2005, die Konflikte um Auslandseinsätze der → Bundeswehr oder die Auseinandersetzung im 15. Deutschen Bundestag um die Zusammensetzung des → Vermittlungsausschusses. Die nur subsidiäre Zuständigkeit für andere öffentlich-rechtliche Streitigkeiten (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG, 1951–2018: 74) ist in den letzten zehn Jahren nicht mehr genutzt worden.

Die Häufigkeit von Bund-Länder-Streitigkeiten administrativer Art (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3, Art. 84 Abs. 4 Satz 2 GG, 1951–2018: 46) liegt konstant auf niedrigem Niveau. Bund-Länder-Konflikte mit Bezug zur Gesetzgebung werden hingegen mittels abstrakter Normenkontrollanträge ausgetragen (z. B. Finanzzuweisungen des Bundes, 2006).

Ungeachtet spektakulärer Einzelfälle (z. B. Verbot von SRP und KPD), haben die übrigen real praktizierten Verfahrensarten wie Anträge auf Verwirkung von Grundrechten (1992) und auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit politischer Parteien (1993: FAP, Nationale Liste; 2001 und 2013: NPD) sowie (neu) auf Ausschluss von der staatlichen Parteienfinanzierung (2018: NPD) quantitativ nur eine sehr geringe Bedeutung für die Spruchpraxis.

Die Instrumente zur Überprüfung der Grenzen der Gesetzgebung des Bundes (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a und Abs. 2 GG) im deutschen Föderalismus haben bislang noch ebensowenig eine Rolle gespielt wie das untersuchungsrechtliche Organstreitverfahren (§ 36 PUAG) oder die Anerkennungsbeschwerde von Parteien (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c).

Formale Aspekte der Verfahren und Entscheidungen

De jure ist für das BVerfG als Regelfall eine Entscheidung aufgrund einer mündlichen Verhandlung vorgesehen (§ 25 BVerfGG). Bei der Durchführung seiner Verfahren darf es eigene Sachverhaltsaufklärung betreiben (§ 26 BVerfGG); über die Masse der Verfassungsbeschwerden wird jedoch nach Aktenlage entschieden (§ 93d BVerfGG).

Als Verfassungsorgan hat das BVerfG das Verlangen nach Medienöffentlichkeit seit 1998 weitergehend als andere deutsche Gerichte berücksichtigt. 2017 sind zusätzliche Möglichkeiten zur Berichterstattung eingeräumt worden (§ 17a BVerfGG).

Sofern ein Fall mündlich verhandelt worden ist, bestimmt die Soll-Vorschrift in § 30 Abs. 2 Satz 5 BVerfGG eine – verlängerbare – Frist von drei Monaten bis zur Verkündung der Entscheidung. Die Gesamtverfahrensdauer hat bei Verfassungsbeschwerden zwischen 2009 und 2018 für 62,9 % bei einem Jahr, für 23,9 % bei ein bis zwei Jahren und für 13,2 % bei längeren Zeiträumen gelegen.

Die Entscheidung eines Falles wird in der Regel mit der Mehrheit der mitwirkenden Richter getroffen. Für einige prozessuale Beschlüsse sowie für „Verurteilungen“ bei Parteiverboten, Grundrechtsverwirkungen, Richter- und Präsidentenanklagen sind Zweidrittelmehrheiten der Senatsmitglieder vorgeschrieben. So ist der erste NPD-Verbotsantrag 2003 an einer Sperrminorität gescheitert. Im Falle eines Stimmengleichstands bleibt eine angegriffene Entscheidung oder Regelung in Kraft, da kein Grundgesetzverstoß festgestellt werden kann (§ 15 Abs. 4 BVerfGG).

Resultate und Konsequenzen der Entscheidungen

Die Erfolgsaussichten von Verfassungsbeschwerden sind traditionell sehr gering: Trotz einer Sondersituation Anfang der 90er-Jahre (Asylrecht) beträgt die seit 1987 ermittelbare Quote stattgebender Entscheidungen bis 2018 insgesamt nur 2,76 % mit Extremwerten von 17,09 % (1990) und 0,97 % (1997).

Die Entscheidungen des BVerfGs sind generell nicht nur für die Streitparteien, sondern darüber hinaus für „die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden“ verbindlich. Unabhängig von der Antragsart kommt der Entscheidung in sämtlichen auf eine Normenkontrolle gerichteten Verfahren Gesetzeskraft zu. Im Falle einer Normverwerfung ist diese im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen (§ 31 BVerfGG).

Aufgrund der Verfassungsbeschwerden sind Überprüfungen höchstrichterlicher Entscheidungen häufiger als Normenkontrollverfahren. So sind zwischen 1991 und 2018 3381 letztinstanzliche Entscheidungen verfassungsgerichtlich aufgehoben worden. Bis Ende 2018 hat das BVerfG 502 Bundes- und 273 Landesgesetze oder Verordnungen ganz oder teilweise verworfen.

Zur Normbeurteilung war ursprünglich nur die Bestätigung oder die Nichtigerklärung vorgesehen. Das BVerfG hat als weitere Variante entwickelt, ein Gesetz als „unvereinbar“ mit dem Grundgesetz zu deklarieren, sofern den Richtern die Konsequenzen des Fortfalls einer Norm von Anfang an als unangemessen erscheinen (seit 1970: §§ 31 Abs. 2, 79 Abs. 1 BVerfGG). Darüber hinaus nutzt das Gericht die sogenannte Appellentscheidung, mit der dem Gesetzgeber für „noch verfassungsmäßige“ Normen eine künftige Änderung aufgetragen wird. Schließlich kennt das BVerfG das Instrument der „verfassungskonformen Auslegung“, durch die eine Norm auf eine einzige Variante verengt wird, in dieser aber aufrecht erhalten bleibt.

Der 2002 vom BVerfG zum brandenburgischen LER-Unterricht verwendete „verfassungsgerichtliche Vergleich“ (BVerfGE 106 Nr. 8, S. 210 ff.) hat nicht Schule gemacht.

Sondervoten

Überstimmte Richter können seit 1971 ihre Meinungen als sogenannte „Sondervoten“ zu der autoritativen Entscheidung des Falles veröffentlichen (§ 30 Abs. 2 BVerfGG). Angesichts von 167 Entscheidungen mit Sondervotum (7,4 %) an 2264 Entscheidungen (1971–2017) ist die Bekanntgabe abweichender Ansichten weiterhin eine Ausnahme. Auch die Mitteilung des Abstimmungsverhältnisses ist optional. Unausweichlich bekannt wird ein Dissens nur bei Stimmengleichstand.

Entgegen der Befürchtung, das Verfassungsgericht könne durch Minderheitsvoten an Autorität verlieren, sind eher die von den Befürwortern erwartete integrierende Wirkung, markante Profilierungen einzelner Richterpersönlichkeiten und rechtspolitisch relevante Ansatzpunkte für künftige Entscheidungen erkennbar geworden. Bedenklich wirkt hingegen, wenn Richter zu scharfen rechtspolitischen Kontroversen in gleicher Weise geteilter Meinung sind wie die Parteien, die sie nominiert haben.

Umsetzung von Entscheidungen

Bei Gerichtsentscheidungen gegen den demokratisch legitimierten Gesetzgeber sind auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen für deren vollinhaltliche Umsetzung zu berücksichtigen. So wird gelegentlich eine rein formale Beachtung von Auflagen oder Ignorierung von Beobachtungsgeboten moniert (z. B. Kruzifixbeschluss BVerfGE 93 Nr. 1, S. 1 ff.; Schwangerschaftsabbruch BVerfGE 88 Nr. 21, S. 203 ff., 309).

Ausführungen, welche über die zur Entscheidung eines Falles notwendige Begründung hinausgehen, sind im Rechtssinne unverbindliche „obiter dicta“. Dazu zählen Hinweise auf eine von einer aktuellen Richtermehrheit als verfassungskonform angesehene Neuregelung. Werden derartige Äußerungen gleichwohl in der Gesetzgebung aufgegriffen, kann dies der Entlastung der politischen Entscheidungsträger dienen, steht aber in deren Verantwortung.

Scharfe Wechsel in den verfassungsgerichtlichen Argumentationen wie zwischen den Abtreibungsurteilen (1975 und 1993), den Entscheidungen zum Nötigungstatbestand des § 240 StGB (1986 und 1995), zu den Bundestagsauflösungen (1983 und 2005) oder zum Wahlrecht zeigen, dass nicht in jedem Fall mit einer langfristigen Konstanz der Rechtsprechung des BVerfGs gerechnet werden kann. Die aus den USA bekannte Selbstbindung des Supreme Court an eigene Präzedenzentscheidungen gilt nicht für deutsche Gerichte. Dies erscheint vor allem für das richterliche Verfassungsrecht (z. B. Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“, Ausgleichsmandate, Anerkennung von „Teilhaberechten“) als problematisch.

Öffentliche Kontroversen

Dem in Umfragen recht kontinuierlich erkennbaren hohen Institutionenvertrauen in das BVerfG liegt dessen Wahrnehmung als idealisierter Hoffnungsträger zugrunde. Sie beruht zentral auf der Verfassungsbeschwerde, die zugleich die chronische Arbeitsüberlastung des Gerichts verursacht.

Angesichts des Geschäftsanfalls könnte eine durchgreifende Entlastung des BVerfGs darin liegen, ihm für Verfassungsbeschwerden ein Selbstaufgriffsrecht zuzugestehen. Während es bislang formal ein „passives“ Staatsorgan darstellt, gäbe ein solches Recht den Richtern Möglichkeiten zum rechtspolitischen „agenda setting“ mittels thematisch gezielter Fallauswahl. Da von den Verfassungsbeschwerden nur noch 2,1 Promille (2009–2018: 119 von 56.525) in die Senate kommen, wäre für die Masse der Beschwerdeführer kein Unterschied erkennbar. Die Auswirkungen auf die öffentliche Wahrnehmung des Gerichts erscheinen allerdings als ungeklärt.

Hingegen stößt der Vorschlag, die Verfahrensart der „abstrakten Normenkontrolle“ abzuschaffen (Landfried 1996) auf ein gegenteiliges Interesse von CDU, CSU und SPD, die, sofern sie im Bund nicht miteinander koalieren, in prinzipiell gleicher Weise, jedoch mit unterschiedlichem Erfolg von dem Antragsrecht Gebrauch gemacht haben (Beispiele: Wehr- und Zivildienstgesetz, 1978; § 116 AFG, 1995).

Seit die Entsprechung von Sperrminorität gegen Verfassungsänderungen und antragsberechtigten Bundestagsabgeordneten 2009 entfallen ist, hat sogar eine kleinere Opposition durch ein abstraktes Normenkontrollverfahren zum Bundesrecht die Möglichkeit zu fragen, ob eine angegriffene Regelung durch die Regierungsmehrheit allein (gegebenenfalls mit Zustimmung einer Bundesratsmehrheit) getroffen werden durfte, oder einer vorherigen Verfassungsänderung bedurft hätte.

Effektiv beruhen die 775 Normverwerfungen bis 2018 nur zu einem kleinen Teil auf den 120 Entscheidungen zu diesen Normenkontrollanträgen (1,4 % der 8547 Senats- oder Plenarentscheidungen 1951–2018). Die Abschaffung dieser Option hätte daher stärker eine Beschneidung des Instrumentariums der parlamentarischen Opposition als eine Beschränkung des Gerichts im Normenkontrollbereich zur Folge.

Ein weiteres Spannungsverhältnis hat sich durch die europäische Integration ergeben. Die Entscheidungskompetenz des BVerfGs endet an den Grenzen des gesamtstaatlichen deutschen Verfassungsrechts. Davon abgeleitet nimmt das BVerfG für sich auch in Anspruch zu überprüfen, ob sich die EU an die ihr übertragenen Kompetenzen hält.

Da der Bundesgesetzgeber über die Kompetenz zur Regelung des Verfassungsprozessrechts verfügt, kann er die Reichweite von Entscheidungen bestimmen. Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat können durch Bestellung des richterlichen Personals und Änderung der Verfassung Einfluss auf Spruchkörper und Entscheidungsmaßstab nehmen. Damit ist auch das BVerfG in den gewaltenteiligen Dialog eingebunden.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Jürgen Plöhn

Fussnoten