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Bundestag | bpb.de

Bundestag

Heinrich Oberreuter

Der Bundestag im parlamentarischen Regierungssystem

Da dem Bundestag einerseits durch das Grundgesetz die Funktion zugeschrieben ist, die → Regierung zu bilden, und er andererseits immensen Einfluss auf ihren Fortbestand hat, gehört er typologisch dem parlamentarischen Regierungssystem an, in dem Legislative und Exekutive miteinander verschmelzen. Die regierende Mehrheit bildet eine (keineswegs spannungsfreie) Funktionseinheit, ihr Führungspersonal besetzt die Kabinettsposten, und ihr im Koalitionsvertrag fixiertes Programm ist Basis der Regierungsarbeit. Das Gesamtparlament als politische Handlungseinheit wird zur Fiktion. An seiner Stelle übernimmt die Funktion der Machthemmung zur Sicherung eines gouvernement modéré im Sinne Montesquieus im Wesentlichen die → Opposition. Machtausgleich schafft außerdem der offene politische Willensbildungsprozess sowie die vertikale Gewaltenteilung zwischen Bundestag und → Bundesrat. Daraus entstehen komplexe Beziehungen zwischen Kabinett, regierender Mehrheit und Opposition. In diesem System geht es nicht so sehr um nachherige Kontrolle, sondern um Mitsteuerung durch Kommunikation. Parlamentarisches Regierungssystem heißt im Wesentlichen parlamentarische Parteiregierung, deren angemessene Funktionsweise unter dem Aspekt demokratischer Legitimation gewährleistet sein muss. Da nach dem Grundgesetz Regierung und Verwaltung autonome demokratische Legitimation vorenthalten bleibt und es der Systematik der Verfassung widerspräche, ihnen Legitimität kraft Amtsautorität oder Sachkompetenz zuzubilligen, wird die Durchlässigkeit der Willensbildung zwischen Kabinett und Parlamentsmehrheit zur Sicherung der Identität der politischen Intentionen beider ebenso dringendes Postulat wie die Durchsetzung der Leitungsfunktion des Kabinetts gegenüber der Verwaltung. Parlamentsentrückte Regierung und sich selbst führende Verwaltung lösten die Legitimationsbindungen des parlamentarischen Regierungssystems auf.

In der Realität der politischen Willensbildung treten im Bundestag drei Kraftpole und entsprechende Kraftfelder zutage: Regierung, Mehrheitsfraktion(en) und Opposition. Denn die Übereinstimmung innerhalb der regierenden Mehrheit ist als ständiger Interaktionsprozess zu verstehen, der stets auch interne Kontrollprozesse freisetzt. Dafür sind weniger konstitutionelle Relikte verantwortlich als sozialpsychologische und gruppendynamische Tatbestände, die auf jedes Gefolgschaftsverhältnis zutreffen. Speziell die Notwendigkeit, publizitätsträchtige oppositionelle Attacken einzukalkulieren, veranlasst die Regierungsmitglieder, sich an die parlamentarische Basis rückzubinden. Ziel dieser internen Entfaltung wirksamen parlamentarischen Einflusses ist die ständige Sicherung der politischen Übereinstimmung innerhalb der Funktionseinheit regierende Mehrheit, die durch divergierende Interessen von Koalitionspartnern ohnehin erheblich herausgefordert sein kann. Umgekehrt kann die Opposition als Minderheit unter der Herrschaft des Prinzips parlamentarischer Parteiregierung in der Regel keine direkte Effizienz erzielen, zumal fraktionelle Zersplitterung ihre Aktionskonsistenz negativ beeinflusst. Ihre Aktionen zielen auf die Beeinflussung der politischen Öffentlichkeit nicht nur durch Kritik, sondern zunehmend auch durch die Thematisierung alternativer und innovativer Politik- und Problemfelder. Wirksame Entfaltung von Alternativen gelingt jedoch eher publizitätsentrückt im Schoße innerparlamentarischer Willensbildung. Insofern charakterisiert ihre Strategie in aller Regel eine durch gleichzeitige Akzentuierung kooperativer wie konkurrenzorientierter Verhaltensweisen geprägte Ambivalenz.

Unbeschadet solcher Differenzierungen strukturiert der Dualismus zwischen regierender Mehrheit und Opposition den politischen Prozess. Diese Alternativstruktur wurde insbesondere auch durch den Konzentrationsprozess des → Parteiensystems ermöglicht – eine Folge des typologischen Wandels der Großparteien von Weltanschauungs- und Interessenparteien zu Volksparteien, die eine Regierung bilden wollen und insofern Regierungskonzepte zur Wahl stellen. Die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems hängt damit eng zusammen. Erosion der Volksparteien und Pluralisierung des Parteiensystems im 21. Jahrhundert begründen allerdings neue Herausforderungen dieses Leitbildes.

Stellung des Bundestages im Verfassungssystem

Kompetenzen nach der Verfassung

Als Vertretung des deutschen Volkes ist der Bundestag autonomes oberstes Staatsorgan, das keiner Aufsicht unterliegt, an keine Weisungen gebunden werden kann und seine eigenen Angelegenheiten selbst regelt. Zur Wahrung seiner Funktionen schützen ihn besondere Parlamentsrechte wie die Immunität und Indemnität seiner Mitglieder sowie die eigene Kompetenz zur Wahlprüfung.

Neben der Gesetzgebung und der Feststellung des Bundeshaushalts hat der Bundestag vor allem die Aufgabe, die Bundesregierung zu bestellen und sie einschließlich der ihr unterstellten Verwaltung zu kontrollieren. Er ist ferner zuständig für die Wahl von Mitgliedern anderer oberster Staatsorgane, wie z. B. der Verfassungsrichter. Er wirkt bei der Wahl des → Bundespräsidenten mit und hat das Recht der Präsidentenanklage vor dem → Bundesverfassungsgericht. Er stellt Spannungs- und Verteidigungsfall fest und entsendet zwei Drittel der Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses von Bundestag und Bundesrat, der im Notstand eine Vielzahl der legislativen Befugnisse übernimmt.

Verfassungspolitische Aspekte

Aufgaben und Bedeutung des Bundestages im Regierungssystem lassen sich aber nicht allein durch die im Grundgesetz umschriebenen Kompetenzen bestimmen. Ihm wird auch weder die Rechtfertigung aus den angeblich geistesgeschichtlichen Wurzeln Diskussion und Öffentlichkeit, noch die Funktionsbestimmung als Legislative – ein fälschlich noch immer gebrauchter Begriff – gerecht; denn ihm obliegt die Mitgestaltung der inneren und äußeren Politik insgesamt, die nicht nur durch Gesetzgebung, sondern auch in der Formulierung alternativer Konzepte, in der Entwicklung eigener politischer Initiativen sowie in stetiger Beeinflussung der Bundesregierung zum Ausdruck kommt. Er ist daher letztlich das zentrale Organ „politischer Führung“ (F. Schäfer) und „demokratischer Gesamtleitung“ (K. Hesse). Der Bundestag stellt auch die Verbindung zwischen institutionalisierten und nicht-institutionalisierten Formen des politischen Lebens und der politischen Willensbildung her, indem er Stellung zu den Grundfragen der → Nation bezieht und politische Ziele und Entscheidungen öffentlich zur Diskussion stellt, um die sich in Anregungen, Zustimmung oder Kritik äußernde Mitbeteiligung der Bürger zu gewährleisten. Als „Repräsentant des Gemeinwesens in seiner politischen Auseinandersetzung“ (H.-J. Varain) hat er die Aufgabe, den auch in einer pluralistischen Gesellschaft notwendigen Grad an Integration zu bewirken.

Funktionen des Bundestages

Die klassischen Funktionskataloge für Parlamente, wie sie etwa W. Bagehot und J. St. Mill im 19. Jh. entwickelt haben, erweisen sich trotz allen verfassungspolitischen Wandels von erstaunlicher Flexibilität. Im Grunde entfalten sie ihre Wirksamkeit erst im 20. Jh., bedürfen jedoch moderner Interpretation, die sich am Wandel zur Massendemokratie und am Funktionsgewinn des Parlaments orientiert, welches die Fesseln des monarchischen Konstitutionalismus abgestreift hat. Ihre Wahrnehmung wird besonders durch den Dualismus zwischen regierender Mehrheit und Opposition strukturiert. Diese Funktionskataloge stellen noch immer angemessene Differenzierungen der Gesamtaufgabe des Parlaments dar. Insofern lehnt sich auch die neuere Literatur im Wesentlichen an sie an (z. B. Marschall 32018; Patzelt 2003).

Regierungsbildung

Die Kompetenz des Bundestages, den → Bundeskanzler zu wählen und durch ein konstruktives Misstrauensvotum abzuberufen, sowie das komplementäre Recht des Kanzlers, dem → Bundespräsidenten die Auflösung des Parlaments vorzuschlagen, falls keine Mehrheit für einen Vertrauensantrag zustande kommt, ordnen den Bundestag dem Typus des parlamentarischen Regierungssystems zu. Im Gegensatz zu traditionellen Vorstellungen tritt der Bundestag nicht als Gesamtheit der → Bundesregierung gegenüber. Der daraus entstehende Wandel des Parlamentsstils ist eine Konsequenz der vordringlichen Aufgabe der Regierungsbildung, die der Bundestag trotz des üblichen Zwangs zu → Koalitionen seit 1949 (Ausnahme 2017/18) vorbildlich erfüllt hat, selbst wenn dazu ursprünglich unkonventionelle Koalitionskonstellationen erforderlich waren (Große Koalition 1966, 2005, 2013, 2018, sozial-liberale 1969, rot-grüne 1998).

Der Bundestag hat sich als fähig erwiesen, Kanzler in Führungskrisen auszuwechseln (Adenauer 1963; Erhard 1966; Brandt 1974; Schmidt 1982) und sich selbst im parlamentarischen Patt von 1972, das in Misstrauensvotum und Parlamentsauflösung kulminierte, politisch wie rechtlich zurechtgefunden, ebenso beim Koalitionswechsel inmitten der Legislaturperiode (konstruktives Misstrauensvotum gegen Schmidt 1982) mit der Strategie, im Anschluss daran die neue Mehrheit durch das Volk legitimieren zu lassen. Das komplizierte System der Art. 63–68 GG mit seinen Fristen, Überlegungspausen und Initiativchancen sowie seinem Drängen auf positive Mehrheitsbildung, fand gerade in diesen Krisen politische und verfassungsrechtliche Bestätigung, wenn es auch, wie 1983 und 2005 beim Umweg über die Vertrauensfrage, umstritten blieb.

Die formale Kanzlerinvestitur – bei der den Bundestag heute Wählerentscheide weithin binden – ist nur der äußere Abschluss des Prozesses der Mehrheitsfindung und Kabinettsbildung.

Darüber hinaus gehört zu dieser Aufgabe die Funktion des Parlaments als Rekrutierungsreservoir für Kabinettsämter, die in aller Regel ohne parlamentarische Sozialisation unerreichbar bleiben. Aus der grundgesetzlichen Normenkonstellation ergibt sich für das Parlament über die Kanzlerinvestitur hinaus der klare Verfassungsauftrag zur Sicherstellung der Regierungsfähigkeit möglichst während der gesamten Legislaturperiode. Insoweit übt zu Recht auch die Regierung als politische Führung „Kontrolle“ ihrer parlamentarischen Basis aus. Aus beidem erwächst ein Zwang zu kontinuierlicher Solidarität in der Funktionseinheit „regierende Mehrheit“. Ihre Parlamentsfraktionen schirmen in der Regel die von ihnen getragene Regierung ab und stützen sie, während die Opposition die in der Theorie des liberalen Parlamentarismus dem gesamten Parlament zugeschriebenen Aufgaben öffentlicher Kritik und Kontrolle weitgehend übernommen hat, es sei denn, es artikulieren sich risikobereite „Abweichler“ mit Druckpotenzial, oder unter dem Dach einer Großen Koalition etablieren sich die Konflikte einer „Bereichsopposition“ zwischen den Partnern entlang der Parteiinteressen. Ihr beständiger Einfluss auf die Regierung sichert der Parlamentsmehrheit ungleich größere politische Gestaltungsmöglichkeiten als der Opposition, die zur Effektivierung eigener Zielvorstellungen als Minderheit auf Kooperation mit der Mehrheit angewiesen ist. Solche Kooperation erfolgt aber immer aus politischen Alternativpositionen und stößt von daher auf natürliche Grenzen.

Kontrolle

Die Verfassung geht zwar davon aus, dass alles staatliche Handeln der Kontrolle (dem Einfluss) des Parlaments unterliegt. Dennoch normiert sie nur wenige formelle Kontrollrechte, wie z. B. die Mitglieder der Bundesregierung zu zitieren, → Untersuchungsausschüsse einzusetzen, oder das Budgetrecht, nach dem der Bundestag Einnahmen und Ausgaben des Staates im Haushaltsgesetz feststellt und der Finanzminister jährlich Rechnung zu legen hat, sowie – ultimativ – das Recht zur Abberufung der Regierung durch konstruktives Misstrauensvotum. Diese knappen grundgesetzlichen Normierungen weisen der rechtlichen Kontrolle nur sekundäre Bedeutung zu. Im Interesse unabhängiger und unparteiischer Rechtsauslegung ist hier ohnehin die justizförmige Überprüfung der Rechtmäßigkeit einzelner Regierungsakte vorzuziehen, wenngleich auch der Bundestag durch Untersuchungsausschüsse, die nach der Strafprozessordnung verfahren, unmittelbar tätig werden kann.

Primär übt der Bundestag politische Kontrolle aus. Die Verantwortlichkeit der Regierung ihm gegenüber bildet dafür die verfassungsrechtliche Basis. Der Primat politischer Kontrolle ergibt sich bereits aus der Lokalisierung der Kontrollrechte im Geschäftsordnungsrecht. Es handelt sich also um parlamentarische, nicht – vom Untersuchungsausschuss abgesehen – um justizförmige Verfahrensweisen.

Die ausgeprägten Befugnisse im Verteidigungsbereich nehmen eine Sonderstellung ein: Hier beruft der Bundestag alle fünf Jahre als sein Hilfsorgan einen Wehrbeauftragten (→ Bundeswehr/Wehrbeauftragter). Zudem kann der Verteidigungsausschuss sich jederzeit als Untersuchungsausschuss konstituieren. Außerdem dürfen die Streitkräfte nur dann außerhalb des NATO-Gebietes eingesetzt werden, wenn das Parlament einem entsprechenden Kabinettsbeschluss zustimmt.

Diese Verfahrensmittel geben durchaus die Möglichkeit, Kontrollprozesse bis zur Konsequenz von Sanktionen durchzuziehen: von der Informationserhebung (Enqueterecht) über den Versuch, die Regierung zur Stellungnahme zu zwingen (Interpellationsrecht; im Einzelnen: Große Anfrage, Kleine Anfrage, Mündliche Anfrage = Fragestunde, Aktuelle Stunde, Regierungsbefragung), bis zu ihrem Sturz durch Misstrauensvotum (das jedoch ausschließlich dem Bundeskanzler und nur in der Form ausgesprochen werden kann, dass der Bundestag zugleich seinen Nachfolger wählt). In der Praxis besitzt jedes dieser Instrumente einen eigenen Stellenwert; denn auch politische Kontrolle richtet sich in der Regel auf begrenzte Ziele. Zumindest ist sie differenziert, und in stabilen Systemen bleibt – wie im Bundestag – die letzte Stufe eine wenig relevante Ausnahme.

Als primär politisches Instrument unterliegt die Kontrolle auch aktuellem politischen Gestaltwandel. Die dynamisch fortschreitende Entwicklung zum aktiv gestaltenden Staat führt zum Widerstreit des im Exekutivbereich akkumulierten Sachverstandes mit der sich im Parlament artikulierenden politischen Intention. Dem Sachverstand der Verwaltung kann das Parlament nicht ständig und umfassend Paroli bieten. Gegenüber der Fülle des Handelns der Leistungsverwaltung kann es nur punktuell effektive Kontrolle leisten, allerdings potenziell bleibt jeder Verwaltungsvorgang seinem Zugriff ausgeliefert. Solange der Bundestag frei ist, über die Aktualisierung dieser Zugriffsmöglichkeit zu entscheiden, ist die Kontrollfunktion nicht grundsätzlich in Frage gestellt.

Die tiefgreifendste politische Modifizierung erfährt die Kontrolle durch die Strukturprinzipien des parlamentarischen Regierungssystems, welche die parlamentarischen Interessen gegenüber der Regierung in gouvernementale und oppositionelle differenzieren. Im Bundestag zeigt sich jedoch immer wieder, dass der Gewinn gouvernementalen Charakters für die Mehrheit nicht unabdingbar zum vollständigen Verlust ihres parlamentarischen führt.

Kontrollprozesse finden auch in der regierenden Mehrheit statt. Sie werden jedoch in der Regel öffentlich nicht sichtbar. Die Modifizierung der Beziehungen von Parlament und Regierung erlaubt im Vergleich zum konstitutionellen Dualismus partiell sogar eine Verschärfung der Kontrollfunktion, weil die Mehrheit leichteren Zugriff auf Kabinett und Verwaltung gewinnt. Öffentlich vollzieht sich Kontrolle wenigstens an zwei Fronten: zwischen Politik und Verwaltung, wo sie in der Tat gelegentlich noch gesamtparlamentarisch in Erscheinung tritt, und zwischen regierender Mehrheit und Opposition. Die institutionellen Kontrollmittel werden eindeutig vornehmlich von der Opposition benutzt, um die Regierung zur Begründung und Verteidigung ihrer Politik zu zwingen. Die Wirksamkeit dieser Kontrolle ist begrenzt. Sie liegt in Evidenz und Plausibilität, die sie zu erzielen vermag. Erfolgreich im Sinne der Abberufung der Regierung kann sie nur sein, wenn die Regierungsmehrheit sich spaltet und eine neue parteipolitische Konstellation sichtbar wird. Die Mehrheitsfraktionen wandeln die ursprüngliche Bedeutung parlamentarischer Kontrollmittel ihrerseits ab, indem sie durch Anfragen o. ä. der Regierung Gelegenheit zur öffentlichkeitswirksamen Darstellung ihrer Politik bieten.

Mit der Differenzierung der Methoden und Intentionen der Kontrolle aus dem Parlament (nicht mehr: des Parlaments) hat sich auch der Kontrollbegriff selbst gewandelt. Kontrolle ist nicht mehr nur „Aufsicht über fremde Amtsführung“ im überkommenen Verständnis kritischen Negierens; Kontrolle ergibt sich vielmehr aus dem „Zusammenwirken verschiedener Instanzen auf ein gemeinsames Ziel“ (R. Bäumlin) – und dies aus zwei Gründen: einerseits aus verfassungspolitischen aufgrund des im Vergleich zum Konstitutionalismus gänzlich andersartigen Legitimationskontexts der Regierung, anderseits aus Gründen ständig zunehmender Komplexität der Staatsaufgaben, der gegenüber nachträgliche Intervention angesichts geschaffener Tatsachen oft ohne Effekt bliebe. Insbesondere die Bundestagsausschüsse nehmen daher heute weniger „kontrollierend“ (im Nachhinein) als vielmehr „regulierend“, d. h. richtungsweisend, auf die Regierungsarbeit Einfluss. Gerade im Bundestag hat sich ein kooperativer und präventiver Kontrollbegriff durchgesetzt, den der Begriff „parlamentarische Mitregierung“ (W. Kewenig) – natürlich akzentuiert nach Mehrheits- oder Oppositionsposition – am zutreffendsten umschreibt.

Gesetzgebung

Insofern Kontrolle im Bundestag als zukunftsgestaltendes Handeln begriffen wird, gehört die parlamentarische Teilhabe an der Gesetzgebung als rechtsstaatliches Mittel sozialer Steuerung im Selbstverständnis der Abgeordneten in hohem Maße der Kontrollfunktion zu. Wie diese ist sie dem Wandel unterworfen, und zwar aus den gleichen Ursachen.

Institutionell ist der Bundestag das wichtigste Organ im Gesetzgebungsverfahren. Ohne seine Beschlussfassung kommt kein Gesetz zustande. Er hat neben der Bundesregierung und dem Bundesrat das Recht der Gesetzesinitiative, legt in seinen Beratungen den Gesetzestext fest und erteilt ihm in der Schlussabstimmung den Gesetzesbefehl. Der Bundestag wirkt gleichfalls entscheidend am Erlass von Rechtsverordnungen mit, zu denen er die Ermächtigung erteilt und deren Aufhebung er jederzeit verlangen kann.

Faktisch ist auch hier zu differenzieren. Die Entwicklung vom liberalen Nachtwächterstaat zum daseinsvorsorgenden und leistungsgewährenden → Sozialstaat hat den klassischen Gesetzesbegriff zurückgedrängt. Der Gesetzgeber befindet nicht mehr nur über generelle Normen im Sinne abstrakter Grundsätze, sondern inzwischen gleich stark oder sogar überwiegend über Maßnahme- und Einzelfallgesetze, die deutlich wandlungsunterworfen sind. Der Bundestag sieht sich durch die erheblichen quantitativen Folgen dieser qualitativen Änderung des Gesetzes herausgefordert: durch den Zwang zur Vollständigkeit, dem die Gesetzgebung im Sozialstaat unterliegt, und durch den Zeitdruck, den die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels und des technischen Fortschritts angesichts der immensen Ausdehnung der Staatsaufgaben ausübt. Die Allzuständigkeit des Bundestags und des → Abgeordneten wird dadurch zur Fiktion. Die Verwaltung nimmt in der Gesetzesvorbereitung eine Schlüsselstellung ein, unterliegt aber ihrerseits der politischen Leitungsfunktion. Legitimatorisch kritisch ist folglich die Durchsetzungsfähigkeit dieser politischen Führung.

Eine realistische Positionsbestimmung des Bundestags in diesem Prozess muss dem Wandel des Gesetzesbegriffes folgen. Sie muss dessen Einheit, an der eine empirieferne Literatur noch immer festhält, aufbrechen und nach den zu regelnden Materien differenzieren: Von Selbstläufern, die aus formalen Gründen der Gesetzesform bedürfen, abgesehen, lassen sich zwei Kategorien bilden: 1. die mehr nachvollziehende Anpassungsgesetzgebung und 2. die Gestaltungsgesetzgebung, die sich auf Grundfragen der politischen, sozialen und rechtsstaatlichen Ordnung erstreckt. Für die erste Kategorie lässt sich ein deutlicher Wandel der Gesetzgebungsfunktion im Bundestag feststellen: Sie reduziert sich wegen der Gesetzesvorbereitung im Schoße der Verwaltung überwiegend auf politische Richtungskontrolle – angesichts der Materien eine angemessene und arbeitsökonomisch unumgängliche Reduktion. Bei der zweiten Kategorie tritt der Bundestag darüber hinaus auch in eine Kontrolle der Details ein, oder er wird ganz in konventionellem Sinne als Gesetzgeber tätig: innovativ und initiativ, datenerhebend, konfliktausgleichend, beratend, formulierend und äußerst eigenständig entscheidend. Experten der Mehrheitsfraktion(en) sind längst ins Vorstadium von Gesetzesprojekten eingeschaltet (Oberreuter in: Hill 1989) und bilden mit den Experten der Ministerien vorbereitende informelle Arbeitseinheiten (Fachbruderschaften).

Daneben wirkt sich auch auf die Gesetzgebung die politische Positionsverteilung im parlamentarischen Regierungssystem aus. Daher lässt sich aus der Statistik, welche die quantitative Überlegenheit der Regierung in der Gesetzesinitiative sowie erheblich höhere Erfolgsquoten ihrer Vorlagen nachweist, keineswegs, wie in der Literatur üblich, die Entmachtung oder gar das „Elend des Gesetzgebers“ folgern. Denn aus der politischen Identität der regierenden Mehrheit ergibt sich grundsätzlich die Identität ihrer gesetzgeberischen Intentionen: Regierungsvorlagen sind politisch Mehrheitsvorlagen, gescheiterte Vorlagen „aus der Mitte des Bundestages“ sind Oppositionsvorlagen. Durchschnittlich drei Viertel der verabschiedeten Gesetze stammen von der Regierung; sie erfahren aber in der Regel im Ausschussstadium starke Veränderungen. Angemessene Interpretation der statistischen Daten muss im parlamentarischen Regierungssystem von der legislatorischen Interessenkongruenz von Regierung und Bundestagsmehrheit ausgehen. Daraus ergibt sich für die Mehrheit im historischen Vergleich erheblicher Machtgewinn, für die Opposition kein zusätzlicher Machtverlust.

Tatsächlich vermochte der Bundestag sich in der Gesetzgebung mächtiger als alle anderen Parlamente zu behaupten, vom amerikanischen Kongress abgesehen: zum einen, weil im Selbstverständnis der Abgeordneten Gesetzespolitik und Arbeit am Gesetz gegebenenfalls Autonomieansprüche gegenüber der Verwaltung freisetzen, die wenigstens in der Alltagsroutine die Verhaltensdispositionen des parlamentarischen Regierungssystems zu flankieren vermögen; zum anderen, weil der Trend zur Spezialisierung auch vor dem Bundestag nicht halt gemacht und einen neuen, vom Honoratioren gründlich unterschiedenen, fachlich spezialisierten Abgeordnetentyp sowie arbeitsteilige Arbeitsorganisation und zunehmend auch technisch-wissenschaftliche Arbeitshilfen hervorgebracht hat.

Repräsentation

Unter der Repräsentationsfunktion des Bundestages ist seine umfassende Aufgabe ständiger Sicherung der Legitimität staatlichen Handelns insbesondere unter kommunikativen Aspekten zu verstehen. Diese Aufgabe ist deswegen von besonderer Bedeutung, da das Parlament im Regierungssystem Ds als einziges Staatsorgan auf unmittelbare demokratische Legitimation zurückgreifen kann. Als Kommunikationsprozess lässt sich Repräsentation analytisch nach zwei Richtungen entfalten: Die Aufgabe, durch Diskussion und Formulierung politischer Aussagen (mögen es unverbindliche Positionen oder Gesetze sein) der Öffentlichkeit Informationen zu vermitteln, Begründungen und Verantwortungen zu verdeutlichen und ihr dadurch Partizipation zu ermöglichen, kann als Willensbildungsfunktion bezeichnet werden. Umgekehrt lässt sich die Aufgabe, den Willen der Bevölkerung auszudrücken bzw. kommunikative Eingaben aufzunehmen, zu prüfen und zu verarbeiten, als Artikulationsfunktion ( „Responsivität“) verstehen.

Die Repräsentationsfunktion wird gelegentlich dahingehend missverstanden, das Parlament hätte spiegelbildlich die Sozialstruktur der Bevölkerung wiederzugeben. Die Diskrepanz der Sozialprofile von Parlament und Bevölkerung – z. B. sind Mittel- und Oberschichten überrepräsentiert, Frauen unterrepräsentiert – ist gegenüber dem qualitativen Problem einer vom Bundestag zu leistenden – und bislang von ihm auch geleisteten – gemeinwohlorientierten Politik sekundär. Die Artikulationsleistung erweist sich vielmehr am Grad der erzielten sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Friedens. Funktionsfähigkeit des Bundestags unter dem Leistungsdruck der modernen hochkomplexen Gesellschaft verdeutlicht im Gegenteil den Zusammenhang von Repräsentation und Qualifikation und unterstreicht die Notwendigkeit der Einbindung der wichtigsten sozialen Interessenträger. Freilich zeigt die Diskussion um die gerechte Berücksichtigung von Interessen, auch solchen, die kaum organisations- und konfliktfähig sind, die Notwendigkeit, die politische Führungsrolle des Bundestages zur Optimierung des Interessenausgleichs wieder stärker zu akzentuieren. Knappe Ressourcen zwingen von sich aus zu politischer Prioritätensetzung.

Die Willensbildungsfunktion wird dagegen vom Strukturwandel der Parlamentsarbeit beeinträchtigt, der den parlamentarischen Prozess aus dem allein generell öffentlichen Plenarsaal in die Ausschüsse verdrängt, um dessen Effizienz zu sichern. Darüber hinaus bestehen Tendenzen zur kommunikativen Selbstbeschränkung, weil politische Opportunität offenbar zur Tabuisierung politischer Streitfragen anstatt zu ihrer öffentlichen Debatte veranlasst. Der Einzug konfliktbereiter Kleinparteien brachte Korrekturen. Das Parlament steht in Konkurrenz um Anteile an der politischen Kommunikation. Auch als institutionell wichtigster Ort politischer Diskussion kann es in einem freien und offenen Prozess keine Exklusivansprüche geltend machen. Andererseits steht es in der Pflicht fortgesetzter Legitimation politischen und staatlichen Handelns: Dem müssten Verfahrensstrukturen und Debattenstil mehr entsprechen, wenn das Parlament seine Forumsfunktion nicht noch mehr an etablierte wie neue Medien verlieren will. Immer mehr werden die sozialen Medien eine Herausforderung in Präsenz und Konkurrenz und die Verbreitung der Parlamentsdebatte im Livestream zu einer wichtigen Reaktion.

Legitimation durch Kommunikation: Die Gesamtaufgabe des Bundestages

Legitimität in der modernen parlamentarischen Demokratie beruht zum einen auf der Befriedigung sozialstaatlicher Leistungsansprüche, zum andern auf der funktionierenden Kommunikation zwischen Parlament und Öffentlichkeit. Unschwer ergibt sich, dass, idealtypisch betrachtet, ein Teil der dem Bundestag zugeschriebenen Funktionen auf Evidenz, ein anderer auf Effizienz abzielt. Verfassungshistorischer Fortschritt und aktuelles verfassungspolitisches Postulat liegen jedoch in der Kompetenz des Parlaments zu multidimensionaler Funktionserfüllung. Das bedeutet für die Verfahrensstruktur, dass sachrationale Abstriche an totaler Transparenzerwartungen angebracht sind; mehr aber noch bedeutet es den Zwang zur Organisation parlamentarischer Willensbildung unter dem Aspekt ständiger demokratischer Legitimation.

Als Gesamtaufgabe des Bundestages lässt sich bestimmen: Legitimation durch Kommunikation und Effizienz. Da aber auch die parlamentarische Leistungsfähigkeit der kommunikativen Vermittlung im politischen Prozess bedarf, erscheint ohne Widerspruch zum Postulat multidimensionaler Optimierung eine weitere Zuspitzung erlaubt: Legitimation durch Kommunikation.

Wahl und Zusammensetzung

Der sich seit 2002 grundsätzlich aus 598 Abgeordneten (zuzügl. evt. Überhang- und Ausgleichsmandate: 111 nach der Wahl 2017) zusammensetzende Bundestag wird in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl nach einem personalisierten Verhältniswahlrecht gewählt. Ihm gehören je zur Hälfte in Wahlkreisen und über Listen gewählte Abgeordnete an. Sitze gewinnen nur die Parteien, die mindestens 5 % der Stimmen oder drei Direktmandate (so die PDS 1994) erzielen. Diese Klausel galt aufgrund verfassungsgerichtlicher Entscheidung bei der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990 getrennt für die Wahlgebiete der ehemaligen DDR und des restlichen Bundesgebietes, um spezifisch ostdeutschen Gruppierungen eine faire Chance auf parlamentarische Vertretung einzuräumen (→ Wahlsystem).

Die Zahl der Parteien im Parlament und die Chancen extremer oder ausschließlich interessengebundener (z. B. die Flüchtlingspartei BHE) Kräfte haben zunächst stetig abgenommen. Gehörten dem 1. Bundestag noch elf Parteien an, so gelang der Einzug seit 1961 nur noch CDU/CSU, SPD und FDP. Erst seit 1983 sowie seit der Wiedervereinigung waren Kleinparteien (Grüne und PDS/Die Linke) wieder erfolgreich, 2017 auch die AfD.

Gegenwärtig ist der Konzentrationsprozess gebrochen. 1949 betrug der Stimmanteil der drei klassischen Bundestagsparteien 72 %. Bei gleichzeitigem Anstieg der Wahlbeteiligung stabilisierte sich dieser Anteil zwischen 1972 und 1980 bei 98 bis 99 %. Seither ist er kontinuierlich auf 64,2 % für Union und SPD 53,5 % (2017) zurückgegangen. Die Wahlbeteiligung erreichte 2009 mit 70,8 % ihren tiefsten Stand (1949: 78,5 %; 1972: 91,1 %; 1994: 79,0 %; 1998: 82,2 %; 2002: 79,1 %; 2005: 77,0 %). 76, 2 % 2017 bedeuten eine gewissen Erholung, bedingt durch das Antreten der AfD, die Unzufriedene an die Urne brachte.

Die großen „Volksparteien“ verlieren an Bindekraft. Umgekehrt gewinnen Kleinparteien neue Chancen. Vertrauensverlust, politischer Protest und die neue Attraktivität spezifischer Themen, Interessen und Lebensstile sind dafür ursächlich. Die Wähler erweitern das Parteiensystem zunehmend mit wachsender Tendenz zur Fragmentierung. Für die Koalitionsbildung 2017/18 ergaben sich daraus außergewöhnliche Erschwernisse.

Organisation und Arbeitsweise

Abgeordneter und Fraktion

Dem Abgeordneten ist laut Verfassung Unabhängigkeit, Immunität und Indemnität garantiert. Er ist jedoch Mitglied einer Partei, deren Ziele er teilt und mitbestimmt, die ihn als Kandidaten nominiert hat und der er Loyalität entgegenbringt. Mitglieder der gleichen Partei bilden eine → Fraktion, die gemeinsame Grundlinien ihrer Politik herausarbeitet und intern Interessen ausgleicht. Die Aktionsfreiheit des einzelnen Abgeordneten entfaltet sich vorwiegend in diesem internen, in Arbeitsgruppen und Arbeitskreisen bereits vielfältig differenzierten Willensbildungsprozess (Schöne 2010). Die Fraktionen sind die eigentlichen politischen Handlungseinheiten des Bundestages. Ihre präformierende Willensbildung ermöglicht weithin dessen Handlungs- und Funktionsfreiheit.

Plenum

Dem Plenum obliegen grundsätzlich alle Akte, für die gesetzlich „der Bundestag“ zuständig ist. Es ist der Ort politischer Debatten, Beschlüsse und Entscheidungen, die allerdings weithin in vorbereitenden Gremien festgelegt werden. Es ist daher – und war es realiter in der Geschichte auch nie – nicht so sehr der Ort, an dem in freier Rede und Gegenrede mit dem Ziel argumentiert wird, den politischen Gegner zu überzeugen und zu gewinnen, sondern vielmehr die Stätte, an der Motive und Begründungen für politische Positionen und Entscheidungen gegenüber der Öffentlichkeit dokumentiert werden. Am Ende der Debatte steht zumeist der bindende Beschluss, der, falls das Grundgesetz keine qualifizierte Mehrheit verlangt, mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen gefasst wird, wobei es verschiedene Formen der Abstimmung gibt. Die Beschlussfähigkeit des Plenums wird in der Regel unterstellt.

Organe

Verfahren und Organisation des Bundestages regelt die Geschäftsordnung. Sie ist autonomes Parlamentsrecht. Als wichtigste Organe kennt sie den Bundestagspräsidenten, den Ältestenrat und die Ausschüsse.

Der Bundestagspräsident (Feldkamp 2007) wird – wie die Vizepräsidenten – für eine Wahlperiode gewählt und ist unabsetzbar. Er wahrt die Würde und die Rechte des Hauses und vertritt es nach außen. Insbesondere hat er die Arbeit des Bundestages zu fördern und die Sitzungen zu leiten.

Der Ältestenrat ist zentrales Koordinierungs- und Lenkungsorgan der Bundestagsarbeit. Unter starkem Einfluss der Parlamentarischen Geschäftsführer trifft er interfraktionelle Vereinbarungen über den Arbeitsplan, die Tagesordnung und den Ablauf der Plenarsitzungen.

Die Ausschüsse haben die Aufgabe, dem Plenum Beschlüsse zu empfehlen. Ihre überragende Position wird in den offiziellen Verfahrensregeln nicht hinreichend deutlich; allerdings erfuhren sie durch das Recht auf Selbstbefassung, das ihnen erst 1969 gewährt wurde, auch institutionell erhebliche Stärkung. Von Ausnahmen abgesehen, durften sich die Ausschüsse vorher lediglich mit vom Plenum überwiesenen Angelegenheiten befassen. Da die Ausschussarbeit der fachlichen Vorklärung der Detailarbeit an den Gesetzentwürfen dient, regieren in ihnen Sachverstand und Expertentum. Aus dem gleichen Grund sind sie auch wesentliche Adressaten der Interessenvertretungen. Aufgrund des immensen Anwachsens der Staatsaufgaben und der Gesetzgebung hat sich die Ausschussarbeit längst zum Schwerpunkt der Bundestagsarbeit entwickelt. Ihre Qualität bestimmt über Gewicht und Stellenwert des Bundestages im Zusammenspiel zwischen Parlament, Regierung und Ministerialbürokratie. Da die Ausschussverhandlungen in der Regel nicht öffentlich stattfinden, leidet die wichtigste Tätigkeit der Abgeordneten und der gesamte Willensbildungsprozess im Bundestag an mangelnder Transparenz. Lange konnten die Ausschüsse lediglich öffentliche Anhörungen von Sachverständigen und Interessenvertretern zur eigenen wie zur Information der Öffentlichkeit abhalten. Seit 1969 können sie die Öffentlichkeit von Fall zu Fall zulassen, was jedoch zurückhaltend geschieht.

Zur Sicherung seiner Arbeitsfähigkeit angesichts der ständig wachsenden Komplexität der Materien und seiner Wettbewerbsfähigkeit in der Konkurrenz mit den Experten der Bürokratie und der Verbände hat der Bundestag nicht nur seine Willensbildung auf allen Ebenen arbeitsteilig organisiert (von Oertzen 2006), sondern auch nach und nach eine entsprechende technisch-wissenschaftliche Infrastruktur geschaffen. Sie setzt ein beim einzelnen Abgeordneten (Abgeordneten-Assistent), setzt sich auf Fraktionsebene (Assistenten, Referenten, Sachbearbeiter, technisches Personal) fort und mündet in die Informations-, Dokumentations-, Wissenschafts-, Öffentlichkeits- und Fachdienste der Bundestagsverwaltung, die Abgeordneten, Fraktionen und Ausschüssen zur Verfügung stehen. Diese Dienste haben sich pragmatisch und behutsam aus der Bundestagsbibliothek heraus entwickelt. Nach systematischen Reformen sind sie heute unerlässliche Voraussetzungen für Arbeitsfähigkeit und Sachkompetenz von Bundestag und Abgeordneten. Politische Bewertungen können und wollen sie nicht ersetzen.

Der Bundestag als Parlamentstyp

Formelle und informelle Struktur

Der Bundestag trat in zahlreichen normativen Vorschriften das Erbe der deutschen parlamentarischen Tradition an, der gegenüber sich jedoch seine Stellung im Regierungssystem nach dem Grundgesetz erheblich gewandelt hat. Die Frage nach der Vereinbarkeit von historischer Orientierung und verfassungspolitischem Wandel wurde nicht aufgeworfen. So übernahm der Bundestag insbesondere geschäftsordnungsrechtlich die formale Struktur der schwachen Parlamente Preußens, des Kaiserreichs und anfänglich auch Weimars, zugleich aber größere verfassungsmäßige Pflichten als diese. Ebenso blieben Denkschemata und Terminologie über das Parlament historisch orientiert. Sie klammerten die Entwicklung vom Konstitutionalismus zum parlamentarischen Regierungssystem genauso aus wie den Wandel des Parteiensystems. In der Praxis musste die traditionelle formale Struktur zum Teil unterlaufen und durch eine informelle ersetzt werden (Loewenberg 1969; Schwarzmeier 2001), um den Bundestag arbeitsfähig zu erhalten. Sie hat zu einer neuen Machtverteilung zwischen Regierungsmitgliedern, Fraktionsführungen, Parlamentarischen Geschäftsführern und Experten geführt. Damit gelang es zwar, das Erbe den praktischen Erfordernissen der Gegenwart anzupassen. Da aber diese neuen Spielregeln kaum zu Verfahrensnormen fixiert wurden, blieb die neue Struktur vielfach hinter den überkommenen Normen und Institutionen verborgen. Dadurch wurde die Bildung eines adäquaten Parlamentsverständnisses in der Öffentlichkeit und die entsprechende Überprüfung des Selbstverständnisses der Parlamentarier erschwert. Gerade aus der Spannung zwischen faktischer Veränderung und traditioneller Orientierung entstehen der größte Teil der internen und externen Kritik und die dauernde Beschwörung einer Krise (Meinel 2019).

Zwischen Rede- und Arbeitsparlament

Entgegen der traditionellen Fixierung auf die Debatte wandte sich der Bundestag von Beginn an stark dem Stil des Arbeitsparlaments zu, um Macht (Patzelt 2005) zu behaupten. Dem Anspruch wie dem Selbstverständnis nach ist er weder Redeparlament (wie das britische Unterhaus), noch Arbeitsparlament (wie der amerikanische Kongress), sondern eine Mischform beider Typen. Gerade die ständigen Reformversuche zur Erhöhung der Attraktivität des Plenums als Gegengewicht zum Arbeitsstil führen den Nachweis solch eigener Standortsuche. Steffani (in: Kluxen 1980) sah den Bundestag im internationalen Vergleich schon frühzeitig auf dem Wege, eine Balance zu finden, „die für den allgemeinen Entwicklungsstand moderner Parlamente schlechthin beispielhaft werden könnte“. Die „Mischform“ erstrebt die gleichzeitige Entfaltung von Evidenz und Effizienz. Sie ist bislang weder theoretisch noch praktisch beispielhaft fixiert. Wahrscheinlich stellt sich die erstrebte Balance als dynamischer, stets offener und anfälliger, zwischen den Extremen oszillierender Prozess dar.

Zwischen Konstitutionalismus und parlamentarischem Regierungssystem

Die Intention zur Arbeit am Detail offenbart Restbestände gesamtparlamentarischer Solidarität. Trotz ihrer gouvernementalen Position streift die regierende Mehrheit ihren parlamentarischen Charakter nicht völlig ab; sie kann dies auch gar nicht, will sie sich nicht – idealtypisch betrachtet – wie in England bedingungslos dem Führungsanspruch des Kabinetts unterwerfen. Insofern gibt es im Bundestag in Verfahrensfragen, Detailproblemen der Gesetzgebung und bei der Leistungskontrolle der Verwaltung einerseits Tendenzen zur Konservierung der konstitutionellen Konfrontation von Parlament und Regierung. Andererseits ergibt sich das Konfrontationsmuster zwischen Mehrheit und Opposition eindeutig bei Formulierung und Kontrolle politischer Zielbestimmungen und äquivalenten Gesetzgebungsprojekten. Dies ist politisch und typologisch ausschlaggebend – denn hier entscheidet sich letztlich die Machtverteilung im Regierungssystem.

Die dualistische Konfrontation von Regierung und Parlament entzöge letzterem fast jeden Einfluss auf Formulierung und Auswahl politischer Ziele und verwiese es auf überwiegend reaktive Aufgaben in Gesetzgebung und Kontrolle in sachbezogener Arbeit. Dagegen stellt die Fusionierung der regierenden Mehrheit zur politischen Funktionseinheit den Versuch dar, politische Zielbestimmung letztlich im Parlament zu verankern.

Herausforderungen

Aktuelle Herausforderungen stellen aber gerade den Bundestag als Zentrum der politischen Willensbildung in Frage. Bei der Entscheidungsvorbereitung hat sich zunehmend ein vorgelagertes, exekutivisch beherrschtes Verhandlungssystem zwischen Staat und Privaten etabliert, dessen Teil auch die immer zahlreicher gewordenen Kommissionen sind. Dieses System berührt die Repräsentativität der Willensbildung und schafft über seine Zugangsregelungen eine neue Privilegienstruktur. Vor allem aber erwarten seine Akteure Ergebnisakzeptanz ohne Rücksicht auf die institutionellen Verfahren, wodurch nicht nur parlamentarische Partizipation und Transparenz berührt werden, sondern der Bundestag auch in die Situation gebracht werden kann, andernorts getroffene Vereinbarungen zu ratifizieren.

Einschränkungen der Entscheidungskompetenz ergeben sich zudem durch die vertraglichen und partiell auch selbstläufigen Kompetenzerweiterungen und -ergreifungen der EU. Inzwischen unterliegen große Teile der Gesetzgebung, durch Gemeinschaftsrecht festgelegt, der Europäisierung, ohne dass dem Bundestag effektive Mitgestaltungs- und Kontrollrechte gegenüber der auf supranationaler Ebene initiativ handelnden Bundesregierung zukämen. In den Bereichen Wirtschaft, Umwelt, Landwirtschaft und Finanzen ist inzwischen die Hälfte europäisiert (Töller 2014). Das Bundesverfassungsgericht sah sich in seinen Urteilen zu den Verträgen von Maastricht (1993) und Lissabon (2009) veranlasst, Kernbereiche parlamentarischer Zuständigkeiten zu begründen und zu verteidigen. In seinem Urteil zum Euro-Rettungsschirm (2011) hat es künftige Finanzhilfen verpflichtend der Zustimmung des Bundestags unterworfen, um Legitimität zu gewährleisten. Auf subnationaler Ebene gerät der Bundestag unter der Voraussetzung divergierender Mehrheiten im Bundesrat zusätzlich aufgrund der weitgehenden Einspruchs- und Zustimmungsrechte der Länder unter Druck, so dass sich Verfahrensstrukturen einer informellen Großen Koalition oder gar einer Konsensdemokratie herausbilden und der intransparente Vermittlungsausschuss als Entscheidungsinstanz Bedeutung gewinnt. Komplexe Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat korrigieren dann Entscheidungsprozesse des Bundestags – weniger gemäß den Gegensätzen zwischen Bundes- und Länderinteressen, sondern gemäß parteipolitischen Motiven. Diese konkordanten Verfahren verwischen mit Transparenz und Verantwortlichkeit auch die dualistische Struktur des parlamentarischen Regierungssystems.

Dessen innere legitimatorische Substanz wird durch zwei Entwicklungen ausgehöhlt, die entgegen parlamentarischer Interessen ein Top-down-Modell der Willensbildung fördern: In der verfestigten Parteiendemokratie bleiben Abgeordnete und Fraktionen angesichts der koordinierenden und präformierenden Funktion von Koalitionsausschüssen und engeren Führungsrunden immer geringere eigene Entscheidungsspielräume zugunsten immer stärkerer Ratifikationszwänge. Zugleich bringt die sich stetig verstärkende Entwicklung zur Mediendemokratie samt der mit ihr verbundenen Personalisierung eine Tendenz zur Präsidialisierung des Kanzleramtes auf Kosten parlamentarischer Mitbestimmungsansprüche mit sich.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Heinrich Oberreuter

Fussnoten