Innenpolitische Grundlegung
Die Entstehung der BRD ist geprägt von der politisch-moralischen und materiellen Katastrophe des nationalsozialistischen Deutschlands und der Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Kommunismus. Dem „antifaschistischen“ Konsens der unmittelbaren Nachkriegszeit entstammen wesentliche Strukturprinzipien der Parteien- und Verbändelandschaft: die Einheitsgewerkschaft, der einheitliche Bauernverband, die überkonfessionelle →CDU/CSU, die Öffnung der →SPD gegenüber neuen Schichten und die Vereinigung der nationalliberalen und linksliberalen Traditionslinien in der →FDP.
Während der Blockade Berlins durch die Sowjetunion 1948/1949 kam ein antikommunistischer Konsens hinzu. Auf dieser Grundlage gingen die Ministerpräsidenten der westdeutschen →Länder auf das Angebot der Westmächte ein, einen Staat aus den Westzonen zu errichten – als „Transitorium“ (Th. Heuss) bis zu einer gesamtdeutschen Lösung. Die BRD sollte nach der von dem ersten SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher formulierten „Magnet-Theorie“ so attraktiv gemacht werden, dass die Sowjets ihre Zone allein mit militärischer Macht nicht halten könnten.
Die breite sozialistische Grundstimmung der Nachkriegszeit bis weit in die CDU hinein wich in den 50er-Jahren der Sozialen Marktwirtschaft, die von Wirtschaftsminister Erhard vertreten wurde. Sie wurde mit dem „Wirtschaftswunder“ assoziiert, das breiten Schichten die Möglichkeit eröffnete, sich einen nie gekannten Wohlstand zu erarbeiten. Nach drei Jahrzehnten Krieg und Krisen brachte die neue Ordnung zum ersten Mal wieder ein Gefühl der Sicherheit und Normalität. Der 1949 mit nur einer Stimme Mehrheit gewählte Bundeskanzler Adenauer gewann 1953 klar die Wahlen, 1957 sogar die absolute Mehrheit für die CDU/CSU. Die Koalitionspartner FDP (1949–1956), DP (1949–1961) und BHE (1953–1955) wurden marginalisiert.
Eine weitgreifende Sozialpolitik integrierte das Land, brachte Wahlstimmen und immunisierte gegen den Kommunismus. Wenige Monate vor der Bundestagswahl 1957 wurden die Altersrenten „dynamisiert“ und an die Lohnentwicklung gebunden. Die zwölf Mio. Ostvertriebenen erhielten einen „Lastenausgleich“. Mit staatlicher Hilfe errichteten gewerkschaftliche und kirchliche Träger Millionen Mietwohnungen (sozialer Wohnungsbau), Steuererleichterungen förderten den Eigenheimbau. Kriegsopfer und Hinterbliebene wurden mit Renten versorgt. bedürftige Studenten mit Stipendien („Honnefer Modell“). Im ständigen Wettbewerb zwischen CDU/CSU und SPD bildeten sich stabile Muster des Sozial- und Verteilungsstaates aus. Neben dem Stolz auf die eigene ökonomische Leistung, dem Wirtschaftspatriotismus, entwickelte sich Vertrauen in den Sozialstaat und die sozialen Sicherungssysteme. Die →Gewerkschaften konnten Lohnsteigerungen, verbesserte Absicherungen im Krankheitsfall und erste Schritte in Richtung 40-Stunden-Woche durchsetzen.
Einbindung in westeuropäisch-atlantische Strukturen
Adenauer wollte die BRD fest in westeuropäischen und atlantischen Zusammenhängen verankern. Schon vor der Gründung der BRD waren die westlichen Besatzungszonen in den Marshall-Plan und die auf ihm fußenden europäischen Handelsstrukturen einbezogen worden. Im Petersberger Abkommen 1949 erreichte Adenauer das Ende der westlichen Demontagen. Die BRD trat in die Ruhrbehörde ein und akzeptierte die bestehende Sonderkontrolle der deutschen Schwerindustrie. Abgelöst wurde die Ruhrbehörde 1952 durch die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die erste supranationale europäische Struktur, in der die BRD mit Frankreich, Italien und den Benelux-Staaten zusammenwirkte. 1955 wurde sie Mitglied der Westeuropäischen Union und der NATO. Sie verzichtete auf atomare, biologische und chemische Waffen und erlangte die Souveränität – vorbehaltlich der Viermächte-Zuständigkeiten für Berlin und Gesamtdeutschland. Bestandteil des Vertragspakets war ein Abkommen mit Frankreich über die Abtrennung des →Saarlandes(SL), das mit einem „europäischen Statut“ unter französischem Einfluss bleiben sollte. Als das saarländische Volk dieses Modell mit Zweidrittelmehrheit ablehnte, kehrte das SL 1957 zur BRD zurück. Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957/1958 gab Westeuropa einen stabilen ökonomischen Unterbau, öffnete Unternehmen ebenso wie Konsumenten einen großen Markt und wurde seitdem schrittweise erweitert und vertieft.
Kalter Krieg und verfestigte Teilung Deutschlands
So konstruktiv und kompromissbereit Adenauer seine Politik nach Westen gestaltete, so inflexibel trat er gegenüber dem Osten auf. Kompromisse mit der Sowjetunion oder der → DDR galten als unmoralisch, Befürworter von Verhandlungen wurden kommunistischer Sympathien bezichtigt. Dies traf auf Befürchtungen und Sicherheitsängste der Bevölkerung. „Sicherheit“ und „Keine Experimente“ waren zentrale Slogans der Regierung in den Wahlkämpfen.
Die SPD stimmte der militärischen Westintegration nicht zu, da sie eine endgültige Spaltung Ds befürchtete. Als die UdSSR 1952 und nochmals 1955 das Angebot einer Wiedervereinigung mit freien Wahlen unter der Bedingung der Neutralität Ds machte, spitzte sich die Debatte um die Außenpolitik zu. Nicht nur die SPD, sondern auch FDP-Politiker und J. Kaiser (CDU), der Minister für gesamtdeutsche Fragen, wollten das sowjetische Angebot ausloten. Die Wiederbewaffnung und das Streben nach Atomwaffen 1958/59 riefen Kriegsängste hervor. Adenauer kündigte immer wieder an, die wachsende Überlegenheit des Westens werde die Wiedervereinigung bringen („Politik der Stärke“). In der Praxis war die Wiedervereinigung aber für die Regierung Adenauer „im besten Fall eine sekundäre Angelegenheit“, entscheidend blieb immer „der sacro egoismo des Weststaates“ (Besson 1970, S. 129, 152). Die Demonstrationswellen gegen die Wiederbewaffnung 1950/1953 und gegen die Atomrüstung 1958/1959 konnten die Aufrüstung im Herzen Europas nicht aufhalten. Zwar erhielt die BRD keine Atomwaffen, wie Strauß es geplant hatte. Stattdessen stützte sich die →Bundeswehr auf amerikanische Atomwaffen.
In den folgenden Jahren schien jedoch nicht der Westen, sondern der Osten stärker zu werden. Die Sowjetunion startete 1957 spektakulär den „Sputnik“ und bewies damit einen Vorsprung in der Raketentechnik. Mit der nuklearen Hochrüstung entwickelte sich ein „Gleichgewicht des Schreckens“, der einen Nuklearkrieg zum allseitigen Selbstmord gemacht hätte. Unter der dynamischen Führung Chruschtschows versuchte die UdSSR, die Westmächte aus Berlin zu verdrängen. Als der amerikanische Präsident Kennedy daraufhin nur die Sicherheit Westberlins und der freien Zugänge dorthin als „essentials“ definierte, baute die DDR die Berliner Mauer und vollendete die Teilung Ds.
D war gespalten, aber in der BRD waren die Grundlagen für ein stabiles demokratisches Gemeinwesen gelegt. Das deutsche Nationalgefühl wurde europäisch überformt, Staat und →Gesellschaft durch die Einbindung in europäische und atlantische Zusammenhänge neu orientiert. Ein moralisch-politischer Meilenstein war das Abkommen mit Israel über deutsche Zahlungen zur „Wiedergutmachung“ 1952. Es wurde nicht mit der Mehrheit der Regierungsparteien, sondern mit den Stimmen der SPD und eines Teils der CDU ratifiziert.
Entspannungspolitik und Friedensbereitschaft 1962–1989
Auch nach dem Bau der Mauer hielt die →Bundesregierung am Alleinvertretungsanspruch für D fest. Zwei deutsche Botschaften gab es nur in Moskau. Wenn andere Staaten Botschafter mit der DDR austauschten, reagierte die BRD mit dem Abbruch der Beziehungen (Hallstein-Doktrin). Nach Waffenlieferungen an Israel führte diese selbst gesetzte Erpressbarkeit 1965 zu dem Fiasko, dass die BRD in der arabischen Welt kaum mehr vertreten war. Im Westen drohte ebenfalls zunehmend Isolation, weil Adenauer die amerikanische Entspannungspolitik kritisch sah. Auflockerungsversuche von Außenminister Schröder (CDU) in Richtung Ostblockstaaten unter Umgehung der DDR scheiterten 1964. Auch die weitergehenden Versuche der Großen → Koalition 1966–1969 waren nicht erfolgreich, die CDU/CSU blockierte auch die Unterzeichnung des Atomsperrvertrages.
Erst die sozialliberale Koalition 1969–1982 brachte den Mut auf, die existierenden Grenzen anzuerkennen, um sie durchlässiger zu machen und auf dieser Grundlage ein neues, friedliches Verhältnis zu Osteuropa zu suchen. Im Gegenzug konnten in Viermächteverhandlungen die Beilegung des ständig schwelenden Berlin-Konflikts und die Sicherung West-Berlins erreicht werden. Die harten Auseinandersetzungen um die Ostpolitik und die Übertritte einiger → Abgeordneter zur CDU/CSU führten 1972 zum erfolglosen Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Brandt und zu Neuwahlen, in denen Regierung und Entspannungspolitik bestätigt wurde. Zum ersten Mal wurde die SPD stärkste Fraktion im →Bundestag. Die CDU/CSU arrangierte sich mit dieser Grundorientierung, als sie 1982 wieder an die Regierung kam. Mit der Vermittlung eines „Milliardenkredits“ an die DDR 1983 sprang auch der CSU-Vorsitzende Strauß, der sich jahrzehntelang in der West-Ost-Konfrontation profiliert hatte, auf den Entspannungszug auf.
Innenpolitisch unkontrovers waren die Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft. In Brandts Kanzlerzeit gelang der Beitritt Großbritanniens. Sein Nachfolger H. Schmidt aktivierte das deutsch-französische Sonderverhältnis als Antriebskern europäischer Entscheidungen. Da die USA den Dollar-Gold-Standard aufgegeben hatten, wurde eine europäische Währungszone mit der DM als Ankerwährung gebildet. Da die deutschen Exportinteressen weit über die EU hinausgehen, tritt die BRD für eine offene Handelspolitik ein. Für ihr Selbstverständnis sind Weltoffenheit und Friedensbereitschaft konstitutiv geworden, sie wird deswegen als Handelsstaat charakterisiert (Rosecrance 1987).
Die USA blieben der Sicherheitsgarant, vor allem in Bezug auf West-Berlin. Die BRD wurde andererseits wegen der konventionellen Stärke der Bundeswehr als Alliierter wichtiger. Als Reaktion auf die sowjetische Raketenrüstung Ende der 70er-Jahre kündigte die NATO eigene Raketen an, falls die sowjetische Hochrüstung nicht eingestellt werde („Doppelbeschluss“). Zusätzliche Besorgnis löste der sowjetische Einmarsch in Afghanistan Weihnachten 1979 aus, der zur Wahl Reagans als US-Präsident und seinem harten Konfrontationskurs beitrug – einem Nachwinter des Kalten Krieges. Die Raketenaufstellung rief in der BRD leidenschaftliche Reaktionen hervor („Friedensbewegung“), die das pazifistische Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft sichtbar machten.
Jedoch bemühten sich beide deutsche Staaten während des neuen Ost-West-Konflikts um Begrenzung der Spannungen, statt wie früher die Konfrontation zu schüren. „Von deutschem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen“ wurde ein gesamtdeutsches Leitwort. Die Ereignisse machten dem sowjetischen Führungspersonal einerseits klar, dass der Westen reaktionsfähig blieb, andererseits aber, dass in D der Wunsch nach Frieden tief verankert war. Im Frühjahr 1989 wurde dies noch einmal deutlich, als D angesichts der sowjetischen Abrüstung unter Gorbatschow die Stationierung neuer amerikanischer Kurzstreckenraketen verweigerte und diese Haltung in den USA als „Genscherismus“ kritisiert wurde.
Wirtschaftswachstum und Internationalisierung 1962–1989
Auch als 1960 die Vollbeschäftigung erreicht, die Kriegszerstörungen weitgehend beseitigt, der Vorkriegs-Lebensstandard überschritten und die Nachholbedürfnisse befriedigt waren, ging das epochale Wirtschaftswachstum weiter. D hatte nach dem Krieg mit einem niedrigen Lebensstandard begonnen. Aufgrund niedrigerer Löhne und der Unterbewertung der DM auf dem Weltmarkt bis 1969 war es konkurrenzfähig, die Kapitalbildung hoch. Süddeutschland profitierte von der Zuwanderung von Großunternehmen wie Siemens.
Als 1961 der Arbeitsmarkt ausgeschöpft und der Zustrom aus der
Dank der Vollbeschäftigung und der Gewerkschaften entwickelten sich die Einkommen günstig, auch die unteren. Alle Schichten wuchsen immer mehr in die Konsumgesellschaft hinein, die über ihr standardisiertes Angebot nivellierend wirkte. Die großen Bevölkerungsumschichtungen verstärkten diesen Prozess, regionale und konfessionelle Unterschiede verloren an Relevanz. Es kam zu einer Homogenisierung der Lebensstile. Immer mehr Menschen arbeiteten als abhängig Beschäftigte. Der Anteil der Landwirte in den alten → Bundesländern sank zwischen 1950 und 1997 von 24,6 % auf 2,5 %, ihr Anteil an der Wertschöpfung auf 1,1 %. Die Zahl der mithelfenden Familienangehörigen und Hausangestellten ging zurück, kommerzielle und administrative Dienstleistungen nahmen zu.
Während die Lebenserfahrung 1914–1945 in extremer Weise nationalstaatlich eingeschnürt worden war, wurde die BRD von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ein offeneres Land. Jahr für Jahr reisten mehr Menschen als Touristen ans Mittelmeer, seit den 80er-Jahren auch nach Asien und Amerika. Die kommerzielle Unterhaltungskultur prägte eine Generation nach der anderen. Im Film setzten sich amerikanische Genres vom Western bis zu den soap operas durch. Auch die Hochkultur gewann ihre Internationalität zurück. Wirtschaft und Wissenschaft wurden internationaler, Englisch zur dominierenden Sprache.
Solange die Wirtschaft wuchs, konnte immer mehr verteilt werden. Insbesondere wuchsen die Infrastrukturausgaben. Straßen, Autobahnen und Kanäle, Wasser- und Abwassersysteme, Gas- und Ölleitungen wurden modernisiert. Die Renten stiegen mit dem Rhythmus des Wachstums. Allerdings konzentrierte sich der Sozialstaat auf Leistungen für die Alten. Kindergeld und Kinderfreibeträge blieben bis 1998 bescheiden. Die Rentenformel benachteiligte die Mütter, früher als in anderen Ländern gingen die Kinderzahlen zurück. Seit 1970 sind die nachwachsenden Jahrgänge um ein Drittel schwächer als die Eltern-Generation.
Reformen, Ölschocks und Parteienkonfrontation
Nach all den Katastrophen erfuhren die Bundesdeutschen in den ersten Jahrzehnten der BRD die Demokratie als stabile politische Ordnung. Dies kam zunächst der CDU/CSU zugute, die mit ihren Führungspersönlichkeiten Adenauer und Erhard Sicherheit und Wohlstand verkörperte. Erst als der Kanzler selbst in der Krise um seine Nachfolge 1959–1963 diesen Mythos zerstörte, schlug die Stunde der Opposition.
In der Berlin-Krise seit 1959 und besonders angesichts des Mauerbaus 1961 entstand vielfach der Eindruck, Adenauer reagiere hilflos. In der Bundestagswahl 1961 verlor die CDU/CSU ihre absolute Mehrheit. Die Spiegel-Affäre 1962 führte zu einer kritischen Wendung der Öffentlichkeit. Es wurde aufgedeckt, dass Verteidigungsminister Franz Josef Strauß die Beschlagnahme des Spiegels und die Verhaftung seiner Redakteure organisiert hatte. Strauß musste zurücktreten, Adenauer sein Ausscheiden für 1963 ankündigen.
Mit Erhard als Kanzler feierte die CDU 1965 noch einmal einen glanzvollen Wahlsieg, aber schon ein Jahr später verlor Erhard sein Renommee. Überhitzung der Wirtschaft hatte die Bundesbank zu Diskonterhöhungen veranlasst, die durchschlugen und schließlich im Feb. 1967 zu 637.572 Arbeitslosen führten – eine Zahl, die damals erschütternd wirkte.
Die CDU verlor 1966 die Wahl in NRW, das sie zwei Jahrzehnte regiert hatte. Bundeskanzler Erhard trat zurück, das bürgerliche Bündnis war zerrüttet. Stattdessen wurde die erste Große Koalition unter Kiesinger (CDU) gebildet. Mit Wirtschaftsminister Karl Schiller stellte für die nächsten Jahre die SPD die ökonomische Identifikationsfigur. Er vermittelte die Vorstellung einer Globalsteuerung der Wirtschaft durch den Staat und der Einbeziehung aller Akteure in der „Konzertierten Aktion“. Der rasche ökonomische Aufschwung, der den Einbruch von 1966/1967 mehr als wettmachte, erbrachte gleichzeitig die Mittel, um die Modernisierungsreformen der nächsten Jahre in Angriff zu nehmen. Die sozialdemokratischen „Gemeinschaftsaufgaben“ wurden nun zum Modernisierungskonsens: Bildungs- und Wissenschaftsförderung, Umweltschutz, Ausbau des Gesundheitswesens, der sozialen Sicherung und der Infrastruktur. Konfessionsschulen fielen der Bildungsreform zum Opfer. Steigende Übergangsquoten zu weiterführenden Schulen, lange mit Unbehagen betrachtet, wurden allgemein anerkanntes Ziel.
Trotz ihrer Stabilitätserfolge und Reformen wurde die Große Koalition wegen ihrer erdrückenden Mehrheit als undemokratisch empfunden. Das Gemeinschaftsdenken, das zu Beginn der BRD noch allgemein verbreitet gewesen war, hatte dem britischen Parlamentarismus-Modell Platz gemacht. Man hatte sich daran gewöhnt, dass der Regierung eine starke Opposition gegenüberstand. Die Befürchtung von Demokratieverlust mischte sich mit anderen Themen. Eines war der Vietnam-Krieg, der die USA entzauberte und kommunistische Befreiungskämpfer faszinierend erscheinen ließ. Ein anderes die nationalsozialistische Vergangenheit, deren Schrecken durch den großen Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965, die Debatten um die Verjährung von NS-Verbrechen und auch durch literarische Auseinandersetzungen wie Hochhuths Drama „Der Stellvertreter“ ins Bewusstsein vieler jüngerer Deutscher getreten war. Obwohl der Prozess und die offene Auseinandersetzung die neue Qualität der deutschen Demokratie zeigten, nährten sie bei vielen einen generellen Verdacht gegenüber staatlicher Macht. Zum Ausdruck kam diese Furcht bei der Debatte um die Notstands-Gesetzgebung, mit der der Katastrophen- und Verteidigungsfall geregelt werden sollte. Ängste vor dem Chaos und kommunistischer Bedrohung auf der einen Seite standen Ängsten vor einem neuen Faschismus auf der anderen gegenüber – eine Ex-post-Bewältigung der Vergangenheit mit falschen Adressaten.
Überhaupt löste die Studentenbewegung eine neue Ideologisierung aus, es entstanden neue Konfliktfronten in Politik und Gesellschaft. Sprach man vorher vom „Ende der Ideologien“, so wurden nun Probleme ideologisch aufgeladen und überfrachtet. Die Bundestagswahl von 1969 ermöglichte eine Regierungsbildung aus SPD und FDP und damit den ersten wirklichen Machtwechsel. Die CDU/CSU war die stärkste Parteiengruppe geblieben. Mit Abwerbungs- und Konfliktstrategien suchte sie die neue Regierung Brandt/Scheel zu stürzen. Erst der eindeutige Sieg der SPD-FDP-Koalition 1972 brachte eine Klärung.
War die Große Koalition eher technokratisch aufgetreten, so strahlte die sozialliberale Koalition Reform-Enthusiasmus aus. Die Themen blieben die gleichen – Bildung, Wissenschaft, Forschung, Infrastruktur, Verkehr und Städtebau, Gesundheit und Sozialpolitik. Reformen lösten Widerstände aus. Vor allem bei Schulen und Hochschulen ergab sich eine brisante Mischung aus Reformwille, Statusängsten und Ideologisierung. Solange es immer mehr zu verteilen gab, ließen sich derlei Diskrepanzen verkraften. 1972 erlebte die Verteilungspolitik einen neuen Höhepunkt, als die CDU/CSU mit einer kurzzeitigen Stimmenmehrheit im Bundestag noch über die Rentenformel hinausging und zusätzliche Erhöhungen durchsetzte.
Die Ölpreiskrise von 1973/1974 setzte diesem Typus von Verteilungspolitik ein Ende, die Verwerfungen in der Weltwirtschaft schlugen auch auf die BRD durch. Es ist seither nicht mehr gelungen, die Vollbeschäftigung wiederherzustellen. H. Schmidt übernahm nach dem Rücktritt W. Brandts 1974 das Kanzleramt und wurde schnell zur Vertrauensfigur der Deutschen in den neuen ökonomisch-politischen Weltkonflikten. Die Bewältigung der Wirtschaftskrise und die produktive Zusammenarbeit der Tarifparteien mit der Regierung ließen Wissenschaftler sogar das Wahlkampfschlagwort „Modell Deutschland“ ernst nehmen.
Der Reformoptimismus aber war beendet. Da es weniger zu verteilen gab, wurden Konflikte bitterer. Die Ideologisierung setzte sich fort, der CSU-Vorsitzende Strauß versuchte das Unbehagen mit einem Kurs der Konfrontation auszunutzen, erreichte aber damit nur die Isolierung der CDU/CSU in der →Opposition und eine Verhärtung der innenpolitischen Lage. Gespenster-Kampagnen über „Systemveränderung“ bestimmten die Bildungspolitik. Auch die ökologische Diskussion wurde ideologisch aufgeladen, beispielsweise durch Kampagnen gegen das Benzin-Blei-Gesetz und die Geschwindigkeitsbegrenzung („freie Fahrt für freie Bürger“). Am konfrontativsten waren die Themen Extremismus und Terrorismus. Die spektakulären Anschläge kleiner Gruppen und die Reaktion des Staates prägten ein Klima des Verdachts und der Angst. Intellektuelle und Politiker wurden als „Sympathisanten“ der RAF verdächtigt. In einer Zitatensammlung verdächtigte CDU-Generalsekretär Geißler sogar den Präsidenten des Bundeskriminalamtes, dem andererseits Kritiker wie Enzensberger vorwarfen, einen „Sonnenstaat“ mit totaler Kontrolle anzustreben. Abgelöst wurde dieses Thema seit 1979 durch Kampagnen gegen „Asylanten“, die 1980–1982 zum ersten Mal auch Gewaltanschläge zur Folge hatten.
Auf den zweiten Ölpreisschub 1979/1980 reagierte die Regierung Schmidt mit Einschnitten in den Staatshaushalt. Der Abschwung wurde dadurch verstärkt. Nur die aggressiv betriebene Kanzler-Kandidatur von F.-J. Strauß sicherte Schmidt 1980 noch einmal eine breite Mehrheit. Die steigende Arbeitslosigkeit belastete die Sozialkassen, was zu Einschnitten führte und innerhalb der SPD Unzufriedenheit weckte. Gleiches galt für den von Schmidt initiierten NATO-Doppelbeschluss über die „Nachrüstung“ angesichts der sowjetischen Raketenstationierungen. Schwere Einbrüche der SPD in Landtagswahlen folgten. Die FDP setzte sich daraufhin von der SPD ab. Sie forderte eine „Wende“ und Einschnitte ins „soziale Netz“. Ihre Taktik der langsamen Demontage des Kanzlers Schmidt wurde von diesem schließlich mit der Entlassung von Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff beantwortet. Mit einem konstruktiven Misstrauensvotum wählten CDU/CSU und FDP daraufhin am 01.10.1982 H. Kohl zum Kanzler.
Angesichts der verbalen Radikalität der politischen Auseinandersetzungen überraschte das Ausmaß der Kontinuität. Die Regierung Kohl machte nur wenige Einschnitte. Die Förderung des sozialen Wohnungsbaus wurde abgeschafft. Das Mutterschaftsgeld wurde gekürzt, 1986 vor der Wahl in Erziehungsgeld umbenannt, auf nicht berufstätige Frauen erweitert und schließlich wieder aufgestockt. Auch die Ankündigungen zur „Ausländerpolitik“ wurden wenig umgesetzt, es ergab sich eine Diskrepanz zwischen der Doktrin, „kein Einwanderungsland“ zu sein und der Realität wachsender Migration. Wahlkampagnen der CSU und von Teilen der süddeutschen CDU gegen „Türken“ und „Asylanten“ belasteten das Zusammenleben. Andererseits nahm auch die CDU/CSU nun das Thema Umweltschutz auf. Dazu trug wesentlich der Wahlerfolg der →Grünen 1983 bei. Als erster Partei seit dreißig Jahren gelang es ihnen, neu in den Bundestag einzuziehen. Entgegen ihrem Image als „Anti-Partei“ hatten sie letztlich eine integrative Funktion. Sie führten viele Gruppen, die sich in der Tradition der Studentenbewegung fundamental-oppositionell verstanden hatten, wieder in den politischen Prozess zurück.
Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Dietrich Thränhardt