Die verfassungspolitische wie die institutionelle Konzeption des → Grundgesetzes waren stark von der Reflexion auf die Defekte und Versäumnisse der Vergangenheit geprägt. Das Grundgesetz trägt unübersehbar Züge einer „Anti-Verfassung“ (F. K. Fromme) sowohl gegenüber der Weimarer Republik als auch gegenüber der NS-Diktatur. Beide Negativerfahrungen einer gerade überwundenen Vergangenheit wirkten nach, und wider beide Gefährdungen wollten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates Vorsorge treffen. So standen an der Wiege des „Bonner Grundgesetzes“ zwei Arten von Besorgnis Pate: zum einen die Angst um den Staat, um seine institutionelle Stabilität und Funktionsfähigkeit, und zum anderen die Angst vor seiner rechtlich und institutionell nicht gebändigten und kontrollierten totalitären Allmacht.
Einer der markanten Punkte, an welchem sich der Unterschied zwischen der Weimarer Verfassung und dem Grundgesetz besonders deutlich zeigt, ist die Stellung des Kanzlers. Die Position der Weimarer Reichskanzler – und nicht erst jener der „Präsidialregierungen“ nach 1930 – ist mit der der Bonner und Berliner Bundeskanzler (Bk) auch nicht annähernd zu vergleichen. Die Weimarer Republik war noch kein – im vollen Sinne der Bezeichnung – „parlamentarisches Regierungssystem“. Das Parlament übte zwar wichtige Kontrollfunktionen aus, war aber noch nicht das uneingeschränkte „Kreationsorgan“ der Regierung. Die Reichsregierung war zwar in Gestalt jedes einzelnen Ministers vom Vertrauen des Parlaments abhängig, sie konnte jedoch im Konfliktfall über das Notverordnungsrecht des Artikels 48 vom mächtigen, auf sieben Jahre direkt vom Volk gewählten Reichspräsidenten auch gegen das Parlamentsvotum im Amt gehalten werden. Zwischen einem übermächtigen Präsidenten auf der einen und einem immer verantwortungsscheueren, eskapistischeren Parlament auf der anderen Seite konnten Kanzler und Kabinett nie ihren eigenen Standort finden.
Vom Makel solcher Beeinträchtigungen und legitimatorischen Defizite sind Bk. und → Bundesregierung völlig frei. Anders als die verfassungsmäßig von Präsident und Parlament gleichermaßen abhängige Weimarer Reichsregierung konnte sich die Bundesregierung mit dem Bk. an der Spitze zum stärksten Verfassungsorgan entwickeln. Hier wurde erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte jenes enge, für das parlamentarische Regierungssystem typische Zusammenspiel zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit möglich, welches sich nicht zuletzt auch darin ausdrückt, dass der Regierungschef in der Regel zugleich auch Parteivorsitzender der Regierungspartei ist.
Das Grundgesetz übernimmt in Art. 65, Abs. 1 nahezu wörtlich die Bestimmung des Art. 56 WRV: „Der Bk. bestimmt die Richtlinien der Politik“. Doch erst unter den institutionenpolitischen Rahmenbedingungen des Grundgesetzes kommt die Richtlinienkompetenz zum Tragen: Erst hier ist das politische Schicksal jedes einzelnen Bundesministers unmittelbar und ausschließlich vom Regierungschef abhängig. Art. 64 GG regelt kurz und bündig: „Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bk. vom → Bundespräsidenten ernannt und entlassen.“ Nur der Bk. selbst steht gegenüber dem → Bundestag in der unmittelbaren Verantwortung. In letzter Instanz hängt prinzipiell jeder Bundesminister vom Vertrauen des Bk. ab. Dies verbürgt seine herausragende Stellung gegenüber den Kabinettskollegen. Er ist nicht nur primus inter pares, sondern hat eine prädominante Position inne. Nicht zu Unrecht hatte man schon in den 50er-Jahren mit Blick auf die Kanzlerschaft Adenauers von der Bonner „Kanzlerdemokratie“ gesprochen. Wenn hier auch zunächst ein negativer Unterton mitschwang, so herrscht inzwischen unter den Kommentatoren doch weitestgehender Konsens, dass die Lehren, die die Verfassungsväter und -mütter aus dem Scheitern des ersten deutschen Demokratieversuchs von Weimar zogen, richtig waren: dass die starke Position des Kanzlers wesentlich zur Stabilität der Regierung beiträgt und dass diese wiederum die unabdingbare Voraussetzung für erfolgreiches Regieren überhaupt darstellt.
Es liegt in der Konsequenz dieser Einsicht, dass das GG das Kanzlerprinzip gegenüber dem Kabinetts- und dem Ressortprinzip als das entscheidende Prinzip exponiert. Die Richtlinien der Politik entscheidet der Kanzler „und trägt dafür die Verantwortung“ (Art. 65). „Innerhalb dieser Richtlinien“ – das besagt das „Ressortprinzip“ – „leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung“ (Art. 65). Die Alleinverantwortlichkeit des Bk. verdrängt und überlagert also keineswegs vollständig die individuelle Ministerverantwortlichkeit gegenüber dem Parlament. Und auch das traditionelle Prinzip kollegialer Kabinettsentscheidung ist nicht völlig verschwunden: „Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet die Bundesregierung“ (Art. 65) – dies der knappe Hinweis im Grundgesetz auf die Koordinierungs- und Regelungsfunktion des vom Bk. geleiteten Bundeskabinetts. Dennoch ist das Kanzlerprinzip in diesem eng verzahnten System konkurrierender Prinzipien das entscheidende, weil es allein mit verfassungsmäßiger Sanktionsmacht (Ministerentlassung) bewehrt ist.
Entscheidend aber für die starke Stellung des Bk. im Parallelogramm der konstitutionellen Kräfte ist die verfassungspolitische Innovation des Artikels 67: das „konstruktive Misstrauensvotum“, welches eine nur negative, destabilisierende Macht des Parlaments schon im Ansatz deutlich begrenzt. Es legt die → Abgeordneten, die → Fraktionen und die beteiligten → Parteien auf eine „konstruktive“ Rolle bei der Wahl des Regierungschefs fest, indem es jene unechten Mehrheiten verhindert, die sich allenfalls zum Sturz einer Regierung, nicht aber zur Bestellung einer neuen und regierungsfähigen zusammenfinden könnten: Nur indem der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen neuen Bk. wählt, kann er dem alten sein „Misstrauen“ aussprechen. Die parlamentarische Ablösung eines Bk. innerhalb der Legislaturperiode wird damit so sehr erschwert, dass sie eigentlich nur noch durch einen förmlichen Wechsel in der Koalitionspräferenz einer der regierungstragenden Parteien möglich ist.
Allerdings hat sich der Parlamentarische Rat bei seinem Bemühen, die Stellung des Bk. zu stärken, die letzte Konsequenz wohlweislich versagt: Anders als der englische Premier hat der deutsche Bk. nicht die unmittelbare Möglichkeit der Parlamentsauflösung und damit der direkten Beeinflussung des Wahltermins. Findet sein eigener Vertrauensantrag im Parlament keine Mehrheit, dann kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bk. binnen 21 Tagen den Bundestag auflösen, sofern dieser nicht zwischenzeitlich einen anderen Bk. wählt (Art. 68,1). Mangels einer effektiven Möglichkeit der Parlamentsauflösung durch den Regierungschef lag die Versuchung einer inzwischen wohl überwiegend als missbräuchlich bewerteten Inanspruchnahme des Art. 68,1 durch die „unechte → Vertrauensfrage“ nahe, bei der Teile der eigenen parlamentarischen Mehrheit dem Bk. – mit dem Kalkül der gewollten Herbeiführung von Neuwahlen – das Vertrauen versagen.
Der nicht selten kritisierten governmentalen „Schlagseite“ des Grundgesetztes zum Trotz, ist mit der Verweigerung des Rechts auf Parlamentsauflösung dem Parlament ein wichtiges Stück Unabhängigkeit gesichert worden, welche es vor der Gefahr einer noch weitergehenden Entmachtung zugunsten der Exekutive wirkungsvoll zu bewahren scheint. So hinderlich die restriktiven Möglichkeiten der Parlamentsauflösung im politischen Prozess zum einen oder anderen Zeitpunkt auch gewirkt haben mögen, so waren doch wohl gerade sie ein entscheidendes Gegengewicht gegen eine – aus historisch begründeter Krisenangst – zu weit getriebene Governmentalisierung der Verfassung, welche die Bundesregierung – und an ihrer Spitze den Bk. – von vornherein zum dominanten Verfassungsorgan aufgewertet hätte.
Die Tendenz zur Stärkung der Exekutive oder, noch präziser, der exekutiven Spitze, des Regierungschefs, ist indes kein deutsches Verfassungsspezifikum. Wir finden sie in allen vergleichbaren demokratischen Staaten, vor allem in der Ausprägung des „Prime-Ministerial-Government“ des englischen Regierungssystems, wenngleich dieses nicht so sehr in konkreten Verfassungsregeln begründet ist, sondern sich im politischen Prozess selbst herausgebildet hat. Ursache dafür sind die in der zweiten Hälfte des vergangenen Jh.s gewaltig angewachsenen Staatsaufgaben, die zugleich einen wachsenden Systembedarf an Führung, an Koordination und zentraler Lenkung entstehen ließen.
Es lässt sich leicht feststellen, dass von den bisherigen deutschen Bk. die Richtlinienkompetenz höchst unterschiedlich wahrgenommen wurde. Doch kein Amtsinhaber kann unter Berufung auf seine verfassungsmäßigen Vollmachten mit dem Kopf durch die Wand; auch er (oder sie) hängt ganz selbstverständlich von einer Vielzahl konkreter politischer Machtfaktoren ab. Auch wenn es die Verfassung einer geschickten, politisch kompetenten Persönlichkeit relativ leicht macht, den politischen Prozess zu dominieren, so ist die verfassungsrechtliche Ausgestaltung der Kanzlerposition natürlich keine Garantie für politische Führung. Wie sehr die Tatsache, dass der deutsche Bk. in der Verfassungsrealität stets einer aus Koalitionsparteien gebildeten Regierung vorsteht, seine faktische „Richtlinienkompetenz“ tangiert, zeigt ein beliebiger Blick auf die Koalitionsverhandlungen und -vereinbarungen in jedweder Parteienkonstellation. Inzwischen werden den sog. „Koalitionsverträgen“ fast regelmäßig die höheren Weihen der Ratifizierung durch eigene Parteitage zuteil. Deutlich wie selten vorher oder nachher wurden z. B. aus Anlass des Ministerrücktritts von Außenminister Genscher 1992 der Öffentlichkeit die Grenzen der Richtlinienkompetenz des Bk. vor Augen geführt: Es waren ausschließlich die Partei- und Fraktionsgremien des kleineren Koalitionspartners → FDP, die über die Vergabe der neben dem Kanzleramt wohl wichtigsten Regierungsposition verhandelt und abgestimmt haben. Vergleichbares wiederholte sich 2011 in der CDU/CSU/FDP-Koalition unter der Ägide von Bundeskanzlerin Merkel, als die FDP angesichts dramatischer Wahlniederlagen in einer Nacht- und Nebelaktion den Parteivorsitzenden und – mit Ministerrochaden verbunden – den Vizekanzler austauschte. Und gegenwärtig beeinträchtigt wohl Merkels Amtsausübung in der Spätphase ihrer Kanzlerschaft nichts mehr als die Dauerkrise infolge der Widersetzlichkeit des Innenministers und CSU-Parteivorsitzenden Horst Seehofer, den sie nicht entlassen kann, weil sie die CSU als Koalitionspartner braucht. Dass der Bk. in solchen, für seinen Regierungserfolg so wichtigen Personalentscheidungen wie der Besetzung der Position des Außenministers oder des Amts des Vizekanzlers nur externe Parteibeschlüsse registrieren darf oder einen unberechenbar renitenten Innenminister erdulden muss, trägt nicht gerade zur Steigerung seiner Amtsautorität bei. Oboedientia facit imperantem – auch Amtsvollmachten sind ein prekärer Kredit, wenn sie nicht immer wieder durch eine gewisse Virtuosität von Amtsführung und Regierungstechnik bestätigt und durch Autorität und Überzeugungskraft der Persönlichkeit beglaubigt werden.
Es ist im Übrigen nicht zu übersehen, dass, nach sieben männlichen Regierungschefs (Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl und Schröder), mit Angela Merkel als der ersten Frau im Kanzleramt auch die Wahrnehmung der politischen Führung als integraler Gesamtprozess sowohl in den Medien als auch in der Wissenschaft an Bedeutung gewonnen hat: Erstmals werden die allseits akzeptierten „Patterns of leadership“ zu den „Personality Matters“ des Amtsinhabers in deutliche (und entsprechend kritische!) Beziehung gesetzt – bis hin zu so persönlichen „Eigenschaften“ wie Stimme, Gang, Kleidung, Frisur und Gesichtsausdruck.
Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Bernd Guggenberger