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Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik | bpb.de

Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik

Florian Spohr

Begriff

Die Instrumente zur Steuerung der Beschäftigungsentwicklung eines Landes können definitorisch in Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik unterschieden werden.

Arbeitsmarktpolitik soll das Angebot an und die Nachfrage nach Arbeit in selektiver Weise (bezüglich bestimmter Personengruppen und Sachbezüge) regulieren und kann in passiv, aktiv und aktivierend untergliedert werden. Passive Arbeitsmarktpolitik beschränkt sich auf die Festlegung von Bezugsbedingungen, Höhe und Dauer von Geld- und Sachleistungen für Arbeitslose. Aktive Arbeitsmarktpolitik versucht mittels Arbeits- und Ausbildungsvermittlung, Qualifizierung, Mobilitätsförderung und Existenzgründungshilfe die Beschäftigungschancen Arbeitsloser zu verbessern und Anstellungsanreize für Arbeitgeber durch Lohnkosten- und Einstellungszuschüsse zu setzen. Zudem zielt die Schaffung eines zweiten Arbeitsmarktes mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) auf eine Entlastung des ersten Arbeitsmarktes ab. Aktivierende Arbeitsmarktpolitik ist entlang des Leitmotivs „Fördern und Fordern“ stärker als aktive Arbeitsmarktpolitik auf die Vermittlung von Arbeitslosen und damit deren Reintegration in den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet. Der Staat sorgt zudem für die Möglichkeit lebenslangen Lernens um die Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitssuchenden und Arbeitslosen zu fördern und setzt durch Änderungen des Steuer-, Sozialleistungs- und Ausbildungssystems stärkere Anreize, Arbeit zu suchen und aufzunehmen. Die Gewährung von staatlichen Leistungen ist dabei von Gegenleistungen der Arbeitslosen und Arbeitssuchenden abhängig, welche sich regelmäßig bewerben, an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen und Stellenangebote akzeptieren müssen (Mohr 2007).

Beschäftigungspolitik als Arbeitsmarktpolitik im weiteren Sinne reguliert auf gesamtwirtschaftlicher Ebene Arbeitskräfteangebot und -nachfrage mittels Finanz-, Geld-, Lohn-, Struktur- und Bildungspolitik. Eine nachfrageorientierte, keynesianische Beschäftigungspolitik versucht über die Stimulierung der Konjunktur die Arbeitsnachfrage der Unternehmen zu erhöhen und so die Arbeitslosenquote zu senken. Staatliche Ausgabenprogramme schaffen eine zusätzliche Nachfrage nach Gütern und Leistungen, während Währungsabwertungen die Exportchancen der Wirtschaft verbessern. Zudem können konjunkturelle Schwankungen der Arbeitskräftenachfrage durch die Ausweitung der staatlichen Beschäftigung abgefedert werden. Eine angebotsorientierte Beschäftigungspolitik zielt darauf ab, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die Fähigkeit der Volkswirtschaften zur Anpassung an neue Herausforderungen zu verbessern, um Unternehmen zu Investitionen und Neueinstellungen zu bewegen. Entsprechende Maßnahmen sind die Senkung der Lohnnebenkosten, eine Investitionsanreize setzende Steuerpolitik, sowie Entbürokratisierung und Deregulierung des Arbeitsmarktes, etwa durch Flexibilisierung von Arbeitszeiten und Lockerung des Kündigungsschutzes (Zohlnhöfer 2007).

Die bundesdeutsche Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik

Charakteristika und Ursprünge

Aus der Arbeiterfrage als Leitmotiv des deutschen Wohlfahrtsstaates (Kaufmann 2003) resultierte eine Erwerbsarbeitszentrierung der deutschen Arbeitsmarktpolitik, die über die beitragsabhängige Bestimmung der Höhe von Sozialversicherungsleistungen institutionalisiert ist. Hieraus folgt die Lebensstandardsicherung oder Statusorientierung als dominantes Strukturmerkmal der Arbeitsmarktpolitik. Dadurch, dass die Marktabhängigkeit des einzelnen durch rechtlich formierte Statuspositionen gebrochen wurde, unterschied sich die Entwicklung in Deutschland von den liberalen Wohlfahrtsstaaten der angelsächsischen Welt (Heinelt und Weck 1998). Im Gegensatz zu den universalistischen, sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten Skandinaviens sind Ansprüche nicht an die Staatsbürgerschaft gebunden, sondern werden im Erwerbsleben erworben. So hat das befristete, sozialversicherungsfinanzierte Arbeitslosengeld eher den Charakter eines Lohnersatzes als einer Grundsicherung. Ein Rechtsanspruch auf Arbeitslosenunterstützung schuf 1927 das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, was den im europäischen Vergleich späten Beginn einer Arbeitslosenversicherung in Deutschland darstellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte die bundesdeutsche Arbeitsmarktpolitik pfadabhängig hieran an.

Erwerbsprinzip und Statusorientierung schlugen sich zudem bis zu den Hartz-Reformen in der Doppelstruktur der steuerfinanzierten Sicherungsleistungen für Langzeitarbeitslose nieder. Erwerbslose, die zuvor in einem regulären Beschäftigungsverhältnis waren, bezogen auch nach dem Auslaufen des sozialversicherungsfinanzierten Arbeitslosengeldes die 1957 eingeführte, bedarfsgeprüfte und steuerfinanzierte Arbeitslosenhilfe, welche sich am früheren Arbeitsentgelt orientierte.

Demgegenüber richtete sich die 1961 eingeführte, ebenfalls bedarfsgeprüfte und steuerfinanzierte, in ihrer Bezugshöhe jedoch einheitliche, Sozialhilfe an Personen, die im Arbeitsleben keine Ansprüche erworben hatten. Entsprechend des Erwerbsprinzips trafen in den 1980er-Jahren vorgenommene Einschränkungen und Kürzungen vor allem Gruppen, deren Status am Arbeitsmarkt (und damit auch innerhalb des Versicherungssystems) ohnehin prekär war. Erwerbslose mit kontinuierlicher Erwerbsbiografie und langen Beitragszeiten wurden dagegen privilegiert (Mohr 2007). Die Kehrseite des hohen Sicherungsstandards bestand in der Segmentierung des Beschäftigungssystems, in dem nicht regulär und kontinuierlich beschäftigte Personen tendenziell marginalisiert wurden. Die selektive Strategie der sozialen Sicherung äußerte sich auch darin, dass Arbeitsförderung und Arbeitslosenversicherung auf die (männliche) qualifizierte Facharbeiterschaft ausgerichtet waren (Bothfeld et al. 2012, S. 341). Der Vollbeschäftigungskonsens in Deutschland fokussierte sich entlang eines patriarchalischen familienzentrierten Leitbildes auf den vollzeitbeschäftigten Mann als Familienernährer.

Die im internationalen Vergleich starke, wenngleich in den letzten zwei Jahrzehnten abnehmende, Ausprägung des deutschen Wohlfahrtssystems als Alleinernährermodell spiegelte sich in einer geringen Frauenerwerbstätigkeit wider. Sowohl die sozialdemokratisch geführten Regierungen der Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt als auch die christlich-liberale Koalition unter Helmut Kohl (CDU) richteten die Beschäftigungspolitik auf die quantitative Senkung des Arbeitskräfteangebotes aus, um den „Angebotsüberhang“ am Arbeitsmarkt zu reduzieren. Zur Stützung des Alleinernährermodells wurde die Arbeitslosenquote dadurch gesenkt, dass Ältere mittels Frühverrentung und Frauen durch Anreize zur Hausarbeit aus dem Erwerbsleben ausgegliedert wurden (Heinze 2006, S. 53). Gemäß des Prinzips der Statusorientierung wurde eher ein Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt gefördert als die Aufnahme einer gering entlohnten Tätigkeit. Eine Integration in den Arbeitsmarkt war dem gegenüber nachrangig.

Insgesamt folgte der Weg in die Vollbeschäftigung bis Mitte der 1960er-Jahre jedoch keiner konsistenten Beschäftigungspolitik, sondern einer „pragmatischen Politik des Durchwurstelns“ (Schmid 2006, S. 185). Erst ab der Rezession 1966/67 kam es unter der Großen Koalition und den sozialliberalen Regierungen Brandts und Schmidts zu Ansätzen einer koordinierten, keynesianischen Beschäftigungspolitik. Begleitend wurden 1969 mit dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) erstmals umfassende aktive Arbeitsmarktinstrumente geschaffen, deren Kern die berufliche Aus- und Fortbildung zur präventiven Vermeidung von Arbeitslosigkeit war. Als Nachfolger des Arbeitsförderungsgesetzes regelt seit 1998 das Dritte Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) das Arbeitsförderungsrecht.

Mit dem Einsetzen der Beschäftigungskrise in Folge der ersten Ölpreiskrise 1973/74 wurde das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium des AFG im Wesentlichen zum Kürzungsposten öffentlicher Ausgaben (Oschmiansky und Ebach 2012, S. 92–93). Unter der Regierung Kohl wurde die beschäftigungspolitische Koordination aufgegeben und es kam zu einer angebotsorientierten Wende durch eine Flexibilisierung und Deregulierung des Arbeitsrechts. Unterbrochen wurde diese jedoch durch die deutsche Wiedervereinigung 1990, welche über eine massive Ausweitung der aktiven Arbeitsmarktpolitik sozialpolitisch abgesichert wurde. Für eine Übergangszeit kamen Kurzarbeitergeld, Arbeitsbeschaffungs-, Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen in großer Zahl zur Anwendung. Zudem wurde über Frühverrentungen das Arbeitsangebot an die schrumpfende Arbeitsnachfrage in Ostdeutschland angepasst (Heinelt und Weck 1998). Das Ziel, auch strukturwirksam zur Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung beizutragen, wurde jedoch verfehlt.

Prozedural ist die Formulierung der deutschen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik stark korporatistisch geprägt. Da die Sozialpartner über die Tarifautonomie den Lohnfindungsprozess koordinieren und Steuerungsleistungen in der von ihnen verwalteten Bundesagentur für Arbeit (BA) übernehmen, ist die Regierung auf ihre Kooperation angewiesen, um Implementierungsdefizite zu reduzieren. Veränderungen in den arbeitsmarktpolitischen Regeln werden oftmals von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden vorstrukturiert und dann von den Sozialpolitikern der CDU/CSU und der SPD legislativ umgesetzt.

Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik seit den Hartz-Reformen

Auch als Folge fehlender Reformen nahm nach der Wiedervereinigung die Arbeitslosigkeit, insbesondere die Langzeitarbeitslosigkeit, zwischen 1991 und 1997 stark zu. Parallel ließ – verstärkt durch die im Maastrichter Vertrag fixierten Konvergenzkriterien für die Teilnahme an der Europäischen Währungsunion – die „Standortdebatte“ seit Mitte der 1990er-Jahre die Ziele der Haushaltskonsolidierung und Abgabensenkung in den Vordergrund treten (Heinelt und Weck 1998, S. 120–122). Hohe Ausgaben für die passive Arbeitsmarktpolitik ließen die Sozialbeiträge und somit die Lohnnebenkosten steigen, was den Faktor Arbeit und somit die deutsche Wettbewerbsfähigkeit belastete und die Ausweitung der Beschäftigungsmöglichkeiten erschwerte (Heinze 2006).

Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit setzte die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder 1998 das tripartistische, „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ ein – und folgte damit dem korporatistischen Muster der Politikformulierung. Das Bündnis blieb jedoch aufgrund zu großer inhaltlicher Differenzen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern weitgehend ergebnislos. Daher wurde nach dem „Vermittlungsskandal“ an der BA, welcher Anfang 2002 die defizitäre Vermittlung von Arbeitslosen offenlegte, statt des Bündnisses die „Hartz-Kommission“ zur Vorbereitung von arbeitsmarktpolitischen Reformen eingesetzt (Spohr 2015). Die vier Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt („Hartz-Reformen“) folgten einem aktivierenden Leitbild durch vier Änderungen. Erstens wurde, gemäß dem im Vordergrund stehenden Prinzip des „Forderns“, der Sanktionsspielraum der Verwaltung gegenüber den Arbeitslosen durch die Flexibilisierung der Sperrzeiten und der Umkehr der Beweislast bei abgelehnten Jobangeboten vergrößert. Zudem verloren Langzeitarbeitslose durch die Verschärfung der Kriterien für zumutbare Arbeit jeden Statusschutz bei der Vermittlung in neue Arbeit. Zuvor mussten sie sich nur auf ihrer Qualifizierung entsprechende Stellen bewerben; jetzt müssen sie jede nicht „sittenwidrige Beschäftigung“ akzeptieren. Zweitens wurde die aktive Arbeitsmarktpolitik durch Lohnkostenzuschüsse, Ein-Euro-Jobs, Förderung der Selbstständigkeit (Ich-AGs), Deregulierung der Leiharbeit (Personal-Service-Agenturen), Mini- und Midi-Jobs verstärkt auf die Integration in den ersten Arbeitsmarkt neu ausgerichtet. Drittens wurde die Bundesanstalt für Arbeit als Bundesagentur für Arbeit mit einem verstärkten Fokus auf Vermittlung und Betreuung neu organisiert. Und viertens wurde die Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II (ALG II, allgemein bekannt als „Hartz IV“) zusammengelegt. Das ALG II ist im zum Jahresbeginn 2005 in Kraft getretenen SGB II geregelt und orientiert sich nicht länger am vorherigen Einkommen.

Seit den Hartz-Reformen beschränkt sich das Prinzip der Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen sowie das Leitmotiv der Statusorientierung auf das Arbeitslosengeld I und somit auf Kurzzeitarbeitslose. Vor allem die Höhe des neuen ALG II auf dem Niveau der Sozialhilfe kritisierten Gewerkschaften und Sozialverbände als zu niedrig. Besonders stark waren die Prosteste in den neuen Bundesländern, da in der DDR als Folge von Planwirtschaft und geringer Arbeitsproduktivität die Erwerbsquoten von Männern und Frauen sehr hoch waren, was den Arbeitslosen einen relativ hohen und zeitlich unbegrenzten Bezug der Arbeitslosenhilfe sicherte. Die Ersetzung der einkommensbezogenen Arbeitslosenhilfe durch eine einheitliche Leistung sorgte insbesondere angesichts des perspektivarmen ostdeutschen Arbeitsmarktes für soziale Verwerfungen.

Auf der anderen Seite gelten die Hartz-Reformen vor allem durch die Verbesserung der Arbeitsvermittlung als Beschäftigungserfolg. In der Folge reduzierte sich die strukturelle Arbeitslosigkeit, und die Beschäftigung von Älteren und Frauen erhöhte sich. Die Hartz-Reformen haben auch dazu beigetragen, dass die Arbeitslosigkeit während der Weltwirtschaftskrise ab 2007 kaum zunahm. Die zentralen Instrumente zum Erhalt von Arbeitsplätzen in der Industrie waren jedoch das Kurzarbeitergeld und betriebliche Maßnahmen zur Arbeitszeitflexibilität (Bothfeld et al. 2012, S. 345). Zudem haben zwei Konjunkturprogramme bestehend aus Steuererleichterungen, Investitionen und Subventionen (Umweltprämie) im Umfang von insgesamt etwa 60 Milliarden Euro zur Stimulierung der Wirtschaft beigetragen.

Die positive Entwicklung des Arbeitsmarktes setzte sich auch nach der Einführung eines flächendeckenden allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns 2015 fort, mit dem die große Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) auf die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse wie Leiharbeit oder Minijobs und einen rasant wachsenden, untertariflich entlohnten Niedriglohnsektor reagierte. Entgegen einiger Befürchtungen kam es durch den Mindestlohn allenfalls zu geringen Beschäftigungsverlusten. Dafür wurde teilweise geringfügige in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung umgewandelt und in Niedriglohnbranchen die Löhne angehoben. Jedoch besteht Unsicherheit über Effekte des Mindestlohns bei einer schwächeren Arbeitsmarktentwicklung.

Trotz des Mindestlohns haben große Teile der Bevölkerung weiterhin keine existenzsichernde Beschäftigung. Die Marginalisierung nicht regulär und kontinuierlich beschäftigter Personen und eine wachsende soziale Ungleichheit stellen weiterhin zentrale Herausforderungen dar. Für eine soziale Integration in Deutschland muss der Arbeitsmarktzugang durch ausdifferenzierte Förderungsmöglichkeiten ergänzt werden, vor allem für Langzeitarbeitslose oder stark arbeitsmarktferne Personen. Auch angesichts des technischen Fortschritts und des demographischen Wandels durch Alterung der Gesellschaft und zunehmender Migration müssen berufliche Aus- und Weiterbildung und die arbeitsmarktpolitischen Instrumente weiter auf den Ausbau von Qualifikation gerichtet werden, um Erwerbspersonen auf gegenwärtige und künftigen Berufsstrukturen vorzubereiten (Bothfeld et al. 2012).

Europäisierung der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik

Auch wenn der Europäischen Union (EU) kaum Kompetenzen zur Entwicklung einer eigenständigen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik zukommen, übt die fortschreitende Europäisierung einen Anpassungsdruck auf die Mitgliedsstaaten aus. Die aus den Binnenmarktfreiheiten resultierende Beseitigung zwischenstaatlicher Wettbewerbshemmnisse entfaltet über Vertragsverletzungsverfahren und Rechtsprechung eine deregulierende, marktschaffende Wirkung (Leiber und Schäfer 2008). Zudem entsteht aus den Exit-Optionen für Unternehmen im Binnenmarkt indirekt ein Druck zur Deregulierung. Hohe Lohnstückkosten, Steuern und Sozialabgaben, aber auch Politiken wie Kündigungsschutz oder Arbeitsplatzsicherheit, die die Kosten eines Produktes erhöhen, ohne dessen Qualität zu verbessern, stellen potenzielle Nachteile im innereuropäischen Standortwettbewerb dar.

Marktbegrenzende Regulierungen auf europäischer Ebene hingegen werden durch Einstimmigkeitserfordernisse im Ministerrat erschwert. Divergierende nationale wirtschaftliche und gesellschaftliche Interessen lassen oft nur Einigungen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu. Versuche einer tripartistischen Konzertierung (EU-Sozialpartnerschaft) scheitern in der Regel am mangelnden Entgegenkommen der Arbeitgeberseite (Leiber und Schäfer 2008). Auch Pläne eines europäischen Mindestlohns und einer europäischen Arbeitslosenversicherung sind aufgrund zu großer wirtschaftlicher und institutioneller Unterschiede innerhalb der EU gegenwärtig nicht konsensfähig.

Eigene beschäftigungspolitische Ziele verfolgt die EU mit Mitteln des 1957 mit den Römischen Verträgen geschaffenen Europäischen Sozialfonds (ESF). 1997 wurde durch den Vertrag von Amsterdam die Beschäftigungspolitik in den EG-Vertrag aufgenommen und durch den Europäischen Rat im Rahmen der Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung beschäftigungspolitische Leitlinien eingeführt, die mittlerweile zentrales Instrument der Wirtschaftsstrategie Europa 2020 sind. Da die EU ohne Vertragsänderung keine eigene aktive Beschäftigungspolitik verfolgen kann, ist die Europäische Beschäftigungsstrategie (EBS) als Offene Methode der Koordinierung (OMK) angelegt. Sie beruht auf der gemeinschaftlichen Festsetzung politischer Ziele, welche die Mitgliedsstaaten auf freiwilliger Basis als Folge von Informationsaustauch und politischen Lernens (best practices) in ihren nationalen Politiken umsetzen. Die Leitlinien der EBS zielen unter anderem auf eine Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit entlang des Konzepts des „Lebenslangen Lernens“ und auf eine angebotsorientierte Beschäftigungspolitik. Durch ihren unverbindlichen Charakter und ihre mehrdeutigen und weit gefassten Richtlinien wird die Effektivität der EBS gering eingeschätzt (Leiber und Schäfer 2008). Dennoch ist in Europa ein Konvergenzprozess zu angebotsorientierten, aktivierenden nationalen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitiken in Ansätzen zu beobachten (Spohr 2015).

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Florian Spohr

Fussnoten