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Abgeordneter | bpb.de

Abgeordneter

Paul Kevenhörster

Grundlagen

Abgeordnete sind die nach den Vorschriften der Verfassung von den Bürger*innen gewählten Mitglieder eines Parlaments. Von den Deputierten der Ständeversammlungen unterscheiden sie sich dadurch, dass sie nicht den Interessen eines Standes oder einer Region, sondern dem Wohle des ganzen Volkes verpflichtet und keinen Weisungen unterworfen sind. Bindungsfreiheit und Unabhängigkeit von Weisungen sind wesentliche Merkmale des Abgeordnetenmandats. Die Legitimation der Abgeordneten wird durch demokratische → Wahlen herbeigeführt. Dem jeweiligen → Wahlsystem kommt dabei ein starker Einfluss auf diesen Legitimationsvorgang und dadurch auf die Stellung des Abgeordneten zu. Während das Verhältniswahlrecht die Abgeordneten über die Kandidat*innenlisten stark an die → Parteien bindet, stellt das Mehrheitswahlrecht eher die Person der/des einzelnen Abgeordneten in den Mittelpunkt des Wahlvorgangs. Dennoch ist die/der Abgeordnete nicht Vertreter*in eines Wahlbezirkes, sondern Repräsentant*in der gesamten staatsbürgerlichen Gesellschaft.

Das freie und das imperative Mandat

In allen europäischen Repräsentativverfassungen gilt der Grundsatz des freien Mandats: Abgeordnete sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden, unterliegen bei ihren Entscheidungen nur ihrem Gewissen und vertreten das gesamte Volk. Das Gegenteil des freien Mandats ist das imperative Mandat: die Bindung der/des einzelnen Abgeordneten in allen Entscheidungen an Weisungen der Basis (Wähler*innen, Parteimitglieder). Die Verfassungsgeschichte kennt nur negative Erfahrungen mit imperativen Mandaten, die das Parlament gelähmt und schließlich zur Auflösung repräsentativer Institutionen geführt haben (Polen, Frankreich). Diese Erfahrungen haben gezeigt, dass Parlamente nur so lange entscheidungsfähig waren, wie sie sich von den Weisungen ständischer Auftraggeber*innen lösen und Mehrheitsentscheidungen ermöglichen konnten. Das freie Mandat ist zuerst in der französischen Verfassung von 1791 fixiert worden, danach in der belgischen Verfassung von 1831 und schließlich in allen deutschen Verfassungen (Reichsverfassung von 1871, Weimarer Verfassung, Grundgesetz). Das → Grundgesetz legt in Art. 38 Abs. 1 fest: „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

Während imperative Mandate Kompromisse ausschließen und dadurch bindende, von der Mehrheit getragene Entscheidungen verhindern, ist das freie Mandat Voraussetzung jeder parlamentarischen Versammlung, die zu eindeutigen Entscheidungen fähig sein soll.

Art. 21 GG erteilt den politischen Parteien einen umfassenden Gestaltungsauftrag. Das Spannungsverhältnis zwischen Art. 21 GG und Art. 38 GG wird mit dem Gegensatz von Parteienstaatstheorie und Repräsentationstheorie umschrieben. Während die Parteienstaatstheorie die parteipolitische Bindung des Abgeordnetenmandats betont, fordert die Repräsentationstheorie das freie Mandat. Beide Auffassungen schließen sich jedoch nicht gegenseitig aus, sondern können sich durchaus ergänzen. Denn ein demokratisch gewähltes Parlament muss zwei Forderungen gerecht werden: Es muss einerseits die Entscheidungsfreiheit der Abgeordneten garantieren und zugleich ein geschlossenes Handeln der Fraktionen ermöglichen. Das freie Mandat sichert die individuelle Verantwortlichkeit der Abgeordneten und die Fraktionsdisziplin seine kollektive Verantwortlichkeit.

Die Parteienstaatstheorie beruht letztlich auf einer Fiktion: der Identität von Regierenden und Regierten sowie von Parteien und Wähler*innenschaft. Sie wandelt den Instrumentalcharakter politischer → Parteien im Prozess der politischen Willensbildung in einen Monopolcharakter um: Aus dem Mitwirkungsrecht der Parteien am Prozess der politischen Willensbildung wird ein Ausschließlichkeitsanspruch auf Legitimation und Durchsetzung parlamentarischer Entscheidungen. Das parteigebundene imperative Mandat, das die Abgeordneten an die Instruktionen ihrer Partei bindet, setzt Anweisungen von Parteigremien an die Stelle der Artikulation des Wähler*innenwillens und die Unterordnung der Abgeordneten unter die Minderheit politisch aktiver Parteimitglieder an die Stelle der Verantwortlichkeit gegenüber der Wählerschaft.

Gegenüber dieser Außensteuerung der Abgeordneten durch „ihre“ Parteien sichert das freie Mandat entsprechend der Repräsentationstheorie im Grundsatz eine umfassendere Interessenabwägung in den parlamentarischen Beratungen und gewährleistet dadurch die kollektive Entscheidungsfähigkeit des Parlaments. Das freie Mandat ist nicht Ausdruck eines „Honoratiorenparlamentarismus“, sondern gewährleistet unter den Bedingungen der modernen Parteiendemokratie jenes Mindestmaß an Entscheidungsfreiheit, das die Abgeordneten benötigen, um in einem durch Interessenvielfalt geprägten Parlament mehrheitsfähige Kompromisse zu finden. Wie empirische Untersuchungen der Divergenzen zwischen Partei und Fraktion gezeigt haben, können die Abgeordneten trotz ihrer Einbindung in Partei und Fraktion im Prozess der parlamentarischen Umsetzung ihrer Zielvorstellungen politische Perspektiven entwickeln, die von denen der Partei- und Fraktionsführungen abweichen (Reinken 2009). Das Streben nach politischer Geschlossenheit in den Fraktionen steht nicht im Gegensatz zum Grundsatz des freien Mandats. Fraktionelle Solidarität und Freiwilligkeit der Fraktionszugehörigkeit sind Grundvoraussetzungen der Abgeordnetentätigkeit. In der parlamentarischen Praxis ist der Deutsche Bundestag ein „Parlament der Fraktionen“, in dem die Fraktionen eine „Monopolstellung“ (Hamm-Brücher 1991, S. 73) besitzen. Trotz der Garantie des freien Mandats ist der Zusammenhang zwischen Parteizugehörigkeit und Mandatserwerb äußerst eng. So schaffen die Bestimmungen des Bundeswahlgesetzes bei der Kandidat*innenaufstellung ein Parteienprivileg in Form einer faktischen Monopolstellung der Parteien. Diese Abhängigkeit setzt sich in der Parlamentsarbeit durch feste Einbindung in eine Fraktion fort. Der parlamentarische Arbeitsablauf erzwingt Fraktionsdisziplin.

Die Stellung des Abgeordneten

Mit der Frage nach der Stellung der Abgeordneten ist zugleich die Frage nach einer effektiven Einflussnahme der Wähler*innenschaft auf Parteien und Parlament gestellt. Die Maßstäbe des Verhaltens der Abgeordneten müssen für die Öffentlichkeit erkennbar sein. Dieser Grundsatz bedingt u. a. eine ausreichende Transparenz der parlamentarischen Interessenbindungen, eine politische Kontrolle von Verbandseinflüssen auf den Aktionsspielraum der Abgeordneten und die Integration des Parteienwettbewerbs in die parlamentarische Willensbildung. Die politische Unabhängigkeit der Abgeordneten wird gegenüber der Judikative durch Sicherungen gewährleistet, die sich auf eine lange Tradition stützen und die Funktionsfähigkeit des Parlaments gewährleisten sollen. Der Grundsatz der Indemnität stellt sicher, dass Abgeordnete wegen ihres parlamentarischen Abstimmungsverhaltens oder politischer Meinungsäußerungen weder dienstlich noch gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden können. Die Indemnität besteht nach Beendigung des Mandats für Handlungen während der Amtszeit fort.

Die Immunität schützt die Abgeordneten vor Strafverfolgung und anderen gerichtlichen Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit. Der → Bundestag kann die Immunität nur aufheben, wenn kein Zusammenhang zwischen dem jeweiligen Gerichtsverfahren und der parlamentarischen Tätigkeit der/des Abgeordneten besteht. Das Zeugnisverweigerungsrecht gestattet es den Abgeordneten darüber hinaus, über solche Personen und Tatsachen das Zeugnis zu verweigern, die Adressat oder Gegenstand parlamentarischer Beratungen gewesen sind.

Mit einer Reihe von Ämtern ist das Abgeordnetenmandat unvereinbar. Diese Regelung dient gleichfalls der Unabhängigkeit der Mandatsinhaber*innen wie der Eigenständigkeit und Funktionsfähigkeit des gesamten Parlaments. So besteht Inkompatibilität zwischen dem Bundestagsmandat und einer Mitgliedschaft im → Bundesrat, dem Amt eines Bundesverfassungsrichters, dem Amt des → Bundespräsidenten, dem Amt des → Wehrbeauftragten und der Mitgliedschaft in der Regierung eines Bundeslandes. Ferner sind das Abgeordnetenmandat und die aktive Ausübung eines Amtes in der öffentlichen Verwaltung unvereinbar. Rechte und Pflichten aus einem Dienstverhältnis ruhen während der Dauer des Abgeordnetenmandats. Ohnehin ist der stetig wachsende Anteil von Beamt*innen an der Gesamtheit der Abgeordneten der Bundes- und Landesparlamente eine starke, politisch umstrittene, strukturelle Klammer zwischen Parlament und Verwaltung. Die wichtigste innerparteiliche Verankerungsebene stellt dabei die Kreis- bzw. Bezirksebene, die Basis der Parteien, dar. Die deutschen Abgeordneten sind daher fortwährenden parteipolitischen und parlamentarischen Zielkonflikten ausgesetzt.

Wirtschaftliche und soziale Stellung

Im Gegensatz zu den Mitgliedern der „Honoratiorenparlamente“ der Vergangenheit, die ihr Mandat ehrenamtlich wahrgenommen haben, ist in der Praxis aus der in Art. 48 Abs. 3 GG geforderten Entschädigung eine Alimentation der Abgeordneten unter Einschluss ihrer Familien geworden. Da es sich bei der Abgeordnetentätigkeit um eine Hauptbeschäftigung handelt, stellen die Diäten echte Einkommen von „Berufspolitiker*innen“ dar. Die Höhe dieser Bezüge ist durch ein Gesetz festzulegen. Neben der Abgeordnetentätigkeit ist die Ausübung eines Berufes außerhalb des öffentlichen Dienstes zwar zulässig. Mit dem unabhängigen Status der Abgeordneten und ihrem Anspruch auf Vollalimentation sind allerdings Bezüge aus einem Arbeitsverhältnis oder aus Beratungsverträgen unvereinbar, wenn anzunehmen ist, dass von diesen ein entsprechendes parlamentarisches Abstimmungsverhalten im Sinne der zahlenden Organisation nach den Grundsätzen des Lobbyismus (→ Interessengruppen) erwartet wird. Die Verhaltensregeln des Bundestages sehen daher Angaben über die berufliche Tätigkeit der Abgeordneten, die Offenlegung von Interessenverflechtungen, die Anzeige besonderer Einnahmen und die Unzulässigkeit der Annahme bestimmter Zuwendungen vor. Der Sicherung der Unabhängigkeit der Abgeordneten dienen ferner Maßnahmen sozialen Schutzes (Alters-, Krankheitssicherung etc.).

Verschiebungen der Größenverhältnisse der einzelnen Fraktionen, wie sie in den letzten Bundestagswahlen stattgefunden haben, verändern immer wieder die Berufsstruktur des Parlaments (Kintz 2014). Stärkste Berufsgruppe im Bundestag ist seit langem die der Beamt*innen. Innerhalb dieser Gruppe ist der Anteil der Lehrer*innen rückläufig, während der Anteil der Verwaltungsbeamt*innen gestiegen ist. Die Angestellten politischer und gesellschaftlicher Organisationen bilden eine zweite, fast ebenso starke Berufsgruppe, die durch einen starken Anstieg der Angestellten von Parteien gekennzeichnet ist. Die drittstärkste Gruppe bilden die Angestellten der Wirtschaft, während sich die früher drittstärkste Gruppe der Angehörigen der freien Berufe inzwischen nur noch auf dem vierten Platz wiederfinden, wobei der Rückgang des Anteils der Rechtsanwält*innen und Notar*innen besonders ins Auge fällt. Insgesamt ist ein Trend zu politiknahen Vorberufen erkennbar. Andererseits hält der Zuwachs der Angestellten politischer Organisationen weiter an.

Parlamentarische Praxis

Vor Eintritt in den Bundestag ist die Mehrzahl der Abgeordneten bereits einige Jahre in der Kommunalpolitik tätig gewesen. Neben Kenntnissen auf der untersten politischen Ebene werden von den Parlamentarier*innen auch Erfahrungen im vorpolitischen Raum (etwa → Bürgerinitiativen) als wichtig erachtet. Die Abgeordnetensoziologie des Deutschen Bundestages zeigt Merkmale einer zunehmenden Professionalisierung und Verfestigung des Abgeordnetenmandats. Diese Entwicklung wird durch eine immer noch zutreffende „Karrierisierung der politischen Führungsauswahl“ (Herzog et al. 1990) bewirkt, die die Aufstellung von Parlamentskandidat*innen von einer schrittweisen Bewährung in der Parteiorganisation abhängig macht und dadurch Personen mit finanzieller Absicherung und zeitökonomischem Gestaltungsspielraum bevorzugt. Folge dieser politischen Professionalisierung ist der/die Berufspolitiker*in als Prototyp der/des modernen Abgeordneten. Allerdings ist die konkrete Ausprägung dieser Tendenz im Deutschen Bundestag in den alten und neuen Bundesländern durchaus unterschiedlich: Auch mehr als zwei Jahrzehnte nach der Vereinigung gibt es noch keine Konvergenz der Berufswege west- und ostdeutscher Abgeordneter (Kintz 2010).

Diese Entwicklung ist schon deswegen problematisch, weil die Massendemokratie den Abgeordneten eine erhebliche Kommunikationsleistung abverlangt: die Offenheit für unterschiedliche Interessen und die Bereitschaft zur Vermittlung bei Interessenkonflikten. Insgesamt unterhalten die Abgeordneten Kontakte zu einem sehr breit gefächerten Interessenspektrum. In der Kommunalpolitik, ihren Parteien und im vorpolitischen Raum sind sie tief verwurzelt. Ihr politischer Erfolg hängt vom Aufbau leistungsfähiger Netzwerke mit gesellschaftlich verankerten Partner*innen und der beharrlichen Pflege dieser professionellen Kommunikationsstruktur ab.

Dadurch, dass sich das Wesen der Repräsentation wegen der Mediatisierung politischer Kommunikation stark wandelt, werden die Abgeordneten immer mehr zu Politikvermittlern. Als solche müssen sie intensiv und wirksam kommunizieren, um politisch erfolgreich zu sein (Knaut 2011, S. 61). Dem entspricht, dass die meisten Abgeordneten zwischen 40 und 60 Jahre alt sind, über ein hohes formales Bildungsniveau verfügen und vor dem Wechsel in die Politik in einer höheren beruflichen Stellung erwerbstätig waren (Knaut 2011, S. 364).

Nach dem Rollenverständnis seiner Abgeordneten ist der Bundestag keineswegs ein nur auf Gesetzgebung und Regierungskontrolle beschränktes „Arbeitsparlament“, auch wenn diese Aufgaben das Schwergewicht der parlamentarischen Arbeit nach Auffassung der Abgeordneten ausmachen. Auch Aufgaben des „Redeparlaments“ (Artikulation von Interessen, politische Grundsatzarbeit, Vermittlungsaufgaben) werden gesehen. Stichworte wie „Verrechtlichung“, „Perfektionismus“ und „Regelungswut“ deuten jedoch auf einen anhaltenden Trend zu einem „Arbeitsparlament“ hin. Der Bedeutungsverlust der Abgeordnetentätigkeit gegenüber der Tätigkeit der Exekutive ist gravierend.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Paul Kevenhörster

Fussnoten