Die Ultra-vires- (lat.: »über die Kräfte hinaus«) und Identitätskontrolle geben Kontrollmaßstäbe für die mittelbare Prüfung von Maßnahmen europ. Organe, Einrichtungen oder sonstiger Stellen und damit insbesondere auch von europ. Rechtsakten vor. Während seit der Solange-II Entscheidung europ. Recht grundsätzlich nicht mehr an den Grundrechten gemessen wird, steht dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit der U. für bestimmte verfassungsrechtliche Aspekte eine Überprüfung offen. Bei einem Verstoß würde das BVerfG die Normen des Europarechts in Deutschland als nicht anwendbar erklären, was als Kehrseite zugleich eine Verletzung der europ. Verträge zur Folge hat. Gerade aufgrund dieses Spannungsverhältnisses sind die Kontrollvorbehalte zurückhaltend und europarechtsfreundlich auszuüben. Dies begründet das BVerfG mit der Integrationsverantwortung der Verfassungsorgane.
Im Rahmen der Identitätskontrolle überprüft das BVerfG, ob durch Maßnahmen europ. Organe, Einrichtungen oder sonstiger Stellen der von der Identitätsgarantie (auch Ewigkeitsgarantie) in Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Kernbereich des Grundgesetzes verletzt wurde. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass das Grundgesetz den nationalen Gesetzgeber zwar zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU ermächtigt (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG), diese Ermächtigung allerdings nicht unbegrenzt gelten kann, da ansonsten die Ewigkeitsgarantie umgangen werden könnte. Zu dem Kernbereich der Verfassungsidentität gehört insbesondere auch die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG. Im Jahre 2015 stufte das BVerfG die Vollstreckung eines auf Antrag Italiens ausgestellten europ. Haftbefehls als verfassungswidrig ein. Dies hatte den Hintergrund, dass das Urteil, auf dem die durch den europ. Haftbefehl zu vollstreckende Freiheitsstrafe beruhte, in Abwesenheit und ohne Wissen des Angeklagten ergangen war. Hierin sah das BVerfG einen Verstoß gegen das von der Menschenwürde umfasste Schuldprinzip, welches in einem Strafverfahren die Möglichkeit zum Vortrag entlastender Umstände vorsehe.
Im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle prüft das BVerfG, ob sich eine Maßnahme europ. Organe, Einrichtungen oder sonstiger Stellen innerhalb der vom nationalen Gesetzgeber an die EU übertragenen Kompetenzen hält. Die EU hat nur die Zuständigkeit für solche Maßnahmen, die ihr nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zugewiesen sind (Art. 5 EUV). Die Ultra-vires-Kontrolle bietet daher Schutz vor einer eigenmächtigen Kompetenzübernahme der Union. Letztlich handelt es sich hierbei um eine besondere Form der Identitätskontrolle, da die unbefugte Übernahme nationalstaatlicher Souveränität durch das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 u. 2 GG) und somit auch von der Ewigkeitsgarantie geschützt wird. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist – im Unterschied zur herkömmlichen Identitätskontrolle – ein hinreichend qualifizierter Kompetenzverstoß erforderlich, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass ein Ultra-vires Akt vorliegt. Hintergrund dieser erhöhten Anforderungen ist es, dass im Rahmen der rechtlichen Überprüfung eines Kompetenzverstoßes oftmals mehrere Ergebnisse rechtlich vertretbar erscheinen. Sofern der Europäische Gerichtshof zu dem Ergebnis kommt, dass eine Maßnahme noch innerhalb der Kompetenzen der EU liegt und das BVerfG dieses Ergebnis für vertretbar hält, wird es den Akt somit nicht als Kompetenzüberschreitung beanstanden, auch wenn es sich in einer eigenständigen Prüfung für eine andere der vertretbaren Auslegungsergebnisse entschieden hätte. Dies ist Ausfluss der Integrationsverantwortung der nationalen Verfassungsorgane.
Literatur
M. Herdegen, Europarecht, § 10 Unionsrecht und nationales Recht Rn. 28, 21. Aufl., München 2019.
Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, § 5. Bezüge des Grundgesetzes zum Europarecht Rn. 18 ff.
aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: L. Fischer
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