G. können allgemein als Vereinigung von abhängig Beschäftigten mit dem Ziel einer verbesserten Interessendurchsetzung gegenüber Arbeitgebern und Politik verstanden werden. Durch den Zusammenschluss werden die individuellen Machtressourcen, die jedem Arbeitnehmer zur Verfügung stehen, erheblich erweitert. Historisch konzentrierten sich G. zunächst auf die bilaterale Verhandlung von Lohn- und Arbeitsbedingungen; im Laufe des 20. Jahrhunderts strebten die G. zudem eine Verrechtlichung verbesserter Sozial- und Arbeitsbedingungen an. Je nach Adressat werden unterschiedliche Strategien angewendet: 1. Arbeitskampfmaßnahmen wie Streik, Dienst nach Vorschrift, Sabotage, Festsetzung, Betriebsversammlungen u. a.; 2. Demonstrationen, Referenden, Unterschriftenaktionen etc.
Die europ. Gewerkschaftslandschaft weist eine enorme Heterogenität auf. Zum einen existieren nennenswerte Unterschiede in der Kompetenzverteilung zwischen Dachverband und Brancheng. Zum anderen unterscheiden sich die europ. Organisationen hinsichtlich ihrer politischen Ausrichtung. Insbesondere in Zentral- und Nordeuropa dominiert das Modell der Einheitsg., welche den Anspruch hat, Arbeitnehmer aller politischen Couleur zu vertreten. Die Einheitsgewerkschaften entstanden zumeist nach dem 2. Weltkrieg als Konsequenz aus den Erfahrungen der ungenügenden Wehrhaftigkeit der zersplitterten Gewerkschaftslandschaft gegenüber dem NS-Regime. Die parteipolitische Neutralität der Einheitsg. ermöglichte fortan eine effizientere Beteiligung an der nationalen Politikgestaltung (Fordistischer Klassenkompromiss). In vielen Ländern sind/waren Einheitsgewerkschaften durch korporatistisch bzw. tripartistisch arbeitende Gremien direkt am politischen Prozess beteiligt. Ihre Vereinbarungen wurden/werden oft in Sozialverträgen festgehalten. Vor allem in West- und Südeuropa begegnet man dem Modell der Richtungsgewerkschaften, die ihr Handeln entsprechend einer politischen Leitidee ausrichten. Dabei konkurrieren in den meisten Fällen christliche, sozialistische und kommunistische G. um die Mitgliedschaft der abhängig Beschäftigten. Noch komplexer stellt sich die Situation in den mittel- und (süd-)osteuropäischen Transformationsländern dar, denn zu einem Nebeneinander von Einheits- und Richtungsgewerkschaften gesellen sich liberale bzw. »gelbe« G., die in der Regel von der Arbeitgeberseite gegründet werden, um die Durchsetzungsfähigkeit der Interessen der abhängig Beschäftigten zu schwächen.
Die G. in Europa pflegen im globalen Vergleich umfangreiche und enge regionale Kooperationsstrukturen, die sich parallel zum Europäischen Integrationsprozess vertieften und erweiterten. Das vordringliche Ziel der G. auf europ. Ebene war und ist es, Einfluss auf die Politikgestaltung der EU zu nehmen, d. h. im Sinne der Interessen der abhängig Beschäftigten in Europa sowohl auf bestehende politische Vorhaben in der EU und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zu reagieren als auch die Agenda der Europäischen Institutionen mitzugestalten. Als einer der größten Erfolge der G. ist hier die Richtlinie über Europäische Betriebsräte (1994) zu nennen. Bereits seit den Anfängen der Europäischen Integration in den 1950er-Jahren sind die G. als relevante gesellschaftliche Akteure beratend einbezogen (z. B. im Rahmen des ständigen und tripartit besetzten Ausschusses für Beschäftigungsfragen). Im Zuge der Realisierung des Binnenmarktprojektes und der Währungsunion, die die nationalen Lohnpolitiken zunehmend unter Druck setzen und die Konkurrenz zwischen den Beschäftigten in der EU deutlich erhöhen, haben die europ. G. ihr Kooperationsaktivitäten erweitert. Die G. reagierten mit der Entwicklung der Tarifkoordinierungsregel, die mit Hilfe der Festlegung einer national spezifizierten Mindestabschlusshöhe für Tarifvereinbarungen dazu beitragen soll, den Wettbewerb um die niedrigsten Löhne in Europa zu entkräften. Die intensivsten Kooperationsstrukturen in diesem Bereich bestehen zwischen den europ. Metallgewerkschaften, die mit der Einrichtung eines tarifpolitischen Ausschusses 1993 schon früh auf die Intensivierung der europäischen Wirtschafts- und Währungspolitik Bezug nahmen. Weitere wichtige Koordinierungsprojekte sind die Sommerschule, die dem tarifpolitischen Austausch von Gewerkschaftern dient, das Europäische Tarifnetzwerk, das den G. Daten über die nationalen Tarifentwicklungen zur Verfügung stellt und die grenzüberschreitenden Tarifpartnerschaften, die vor allem von der IG Metall-Bezirken und ihren angrenzenden Nachbarg. genutzt und ausgebaut werden.
Literatur
R. Hyman: Understanding European Trade Unionism – Between Market, Class & Society, London u. a. 2001.
H.-W. Platzer/ T. Müller: Die globalen und europäischen Gewerkschaftsverbände. Handbuch und Analysen zur transnationalen Gewerkschaftspolitik, Berlin 2009.
C. Thamm: Der Kampf um Transnationalisierung. Gewerkschaftliche Krisenpolitik in Deutschland, Österreich und Slowenien, Wiesbaden 2019.
aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: C. Thamm
Siehe auch: