Das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Gemeinschaftsrecht ist seit Langem umstritten. Unstrittig ist lediglich, dass mit der Gründung der EG eine neue Rechtsordnung geschaffen wurde. Zwar wurzelt diese sowohl im nationalen als auch im Völkerrecht, hat jedoch ein eigenes Rechtssystem mit eigenen Rechtsinstituten hervorgebracht. Das bedeutet, dass sowohl das primäre als auch das sekundäre Recht eine eigenständige Rechtsmasse besonderer Art bildet, die allerdings auch im innerstaatlichen Bereich angewendet werden kann. Zwar wirken die Regeln des allgemeinen Völkerrechts in dieses Gemeinschaftsrecht hinein, doch finden sie nur insoweit Geltung, als sie nicht von den Regeln der Gemeinschaftsverträge verdrängt werden. Dennoch ist im Bereich des allgemeinen Völkerrechts die EG nur ein Völkerrechtssubjekt unter vielen, weshalb der prinzipielle Vorrang des Völkerrechts gegenüber dem Gemeinschaftsrecht genauso behauptet werden kann wie der Vorrang des Völkerrechts gegenüber nationalem Recht (»monistische Theorie«). Andererseits gibt es auch gute Gründe für die Ansicht, dass die Völkerrechtsordnung und die EG-Rechtsordnung voneinander unabhängige und getrennt bestehende Rechtsordnungen sind (»dualistische Theorie«). Gemeinschaftsrecht und Völkerrecht unterscheiden sich in jedem Fall darin, an wen sie sich richten, denn die Gemeinschaftsverträge richten sich nicht nur an die Mitgliedstaaten und die Organe der Gemeinschaften selbst. Vielmehr begründen die Verträge sowie die auf ihnen basierenden Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane auch unmittelbare Rechte und Pflichten für den Einzelnen, ohne dass es hierzu eines weiteren Umsetzungsaktes bedarf.
Literatur
M. Herdegen: Völkerrecht, München 2019.
aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: M. Höreth