M. [engl.: Mehrebenen-Regieren] ist ein wissenschaftliches Konzept zur Analyse der EU-Politik und ein Begriff, der die besondere Form der auf Partnerschaft und Konsens ausgerichteten Entscheidungsfindung in der Europäischen Union und auf die Verflechtung mehrerer politischer Ebenen, wie sie für die EU typisch ist, beschreibt. M. zeichnet sich aus durch eine wechselseitige Abhängigkeit mehrerer Handlungsebenen und macht die EU aus Sicht des M.-Ansatzes zu einem (quasi-)föderalen politischen System. Im Falle der EU lassen sich 4 Ebenen unterscheiden:
1. die europ. bzw. supranationale (EU),
2. die mitgliedstaatliche (z. B. Frankreich oder Estland),
3. die regionale (in Deutschland und Österreich sind das die Länder, in Spanien die Autonomen Gemeinschaften wie Katalonien) und
4. die kommunale Ebene (z. B. Stuttgart oder Barcelona).
Der Begriff M. wurde in den 1990er-Jahren in der Politikwissenschaft von dem US-amerik. Politologen Gary Marks zusammen mit Liesbet Hooghe und Kermit Blank als Konzept zur Analyse und Beschreibung der EU-Politik entwickelt (zunächst beschränkt auf die Regional- und Strukturpolitik der EU, später auf andere Politikfelder übertragen). Der Begriff und das Konzept sollen – im Unterschied zu sog. staatszentrierten Ansätzen, welche die EU-Staaten bzw. deren Regierungen als die zentralen und alles entscheidenden Akteure betrachten – deutlich machen, dass in der EU kein politisches Zentrum und keine Hierarchie im klassischen Sinne existieren. Die unterschiedlichen Ebenen sind nach dem Verständnis von M. erst durch die enge Zusammenarbeit und die Mitwirkung aller Ebenen zu effizienten Problemlösungen in der Lage. Als Beispiel für M. kann das sog. Schulobstprogramm der EU dienen: Die EU-Agrarminister haben am 18.12.2008 dieses Programm beschlossen. Die Beteiligung der EU an diesem Programm – sie trägt i. d. R. die Hälfte der Kosten – soll, so die Verordnung, »jungen Verbrauchern« den »Geschmack an Obst und Gemüse« vermitteln. An dem Programm nehmen in Deutschland 7 Bundesländer teil; da im dt. Föderalismus die Bildungspolitik zu den ureigenen Aufgaben der Länder gehört, sind sie hier entsprechend gefordert. Baden-Württemberg z. B. beteiligt sich an dem EU-Schulobstprogramm, ebenso Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, das Saarland, Sachsen-Anhalt und Thüringen. In Baden-Württemberg ergänzt das EU-Programm die seit Langem bestehende Ernährungsinitiative »Bewusste Kinderernährung« (BeKi). Als ein Beispiel für M. kann dieses Programm deshalb dienen, weil hier unterschiedliche politische Entscheidungsebenen (EU, Bund, Land und Kommunen) sowie staatlich wie nichtstaatliche Institutionen und Akteure (hier: Schulen, Bildungseinrichtungen, Produzenten, Bauern) und auch verschiedene Adressaten beteiligt sind, ehe tatsächlich Äpfel, Birnen und andere Früchte in Schulen oder Kindergärten verteilt werden können. Hier kooperieren – orientiert am gemeinsamen Ziel einer »gesunden Ernährung« – ganz unterschiedliche Gruppen und Institutionen, was typisch für M. ist. Der Begriff M. hat sich seit den 1990er-Jahren nicht nur in der EU-Forschung etabliert, sondern auch in Politik und Verwaltung: Das M.-Konzept wird v. a. von der EU-Kommission (Governance-Weißbuch, 2001) und dem Ausschuss der Regionen (Weißbuch zu M., 2009) unterstützt und hat sich inzwischen als eine Art Leitbild der EU-Politik durchgesetzt. Kritiker bemängeln, dass die politische Verantwortlichkeit und Legitimation von M. diffus sei, weil aufgrund der Vielzahl von Akteuren und Ebenen nicht klar sei, wer am Ende für Entscheidungen politisch haftbar gemacht werden kann. Die Befürworter des Konzeptes sehen umgekehrt gerade in M. und der damit einhergehenden Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure eine Lösung für die Akzeptanzprobleme der EU.
Literatur
L. Hooghe/G. Marks: Multi-Level Governance and European Integration, New York/ Oxford 2001.
G. Marks u. a.: European Integration since the 1980s: State-Centric vs. Multi-Level Governance, in: Journal of Common Market Studies (JCMS), H. 3/1996, S. 341-378.
M. Knodt/M. Große Hüttmann: Der Multi Level Governance-Ansatz, in: H.-J. Bieling/M. Lerch (Hg.), Theorien der europäischen Integration, 3. Aufl., Wiesbaden 2012, S. 187-205.
S. Piattoni: The Theory of Multi-level Governance, Oxford 2010.
aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: M. Große Hüttmann
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