Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschied durch ein Urteil v. 30.6.2009 (2 BvE 2/08; E 123, 267), dass der EU-Reformvertrag von Lissabon mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar sei. Das (hernach entsprechend überarbeitete) dt. »Begleitgesetz« jedoch verstoße teilweise gegen Art. 38 i. V. m. Art. 23 GG, weil die Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages (BT) und Bundesrates (BR) nicht hinreichend ausgestaltet worden seien. Auch BT und BR hätten eine »Integrationsverantwortung«. Die europ. Vereinigung »auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten« dürfe nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten »kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse« mehr verbleibe. Dies gelte »insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, v. a. ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit« prägten, sowie für solche politischen Entscheidungen, die »in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen« seien, und die »sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv« entfalteten. Das Urteil wurde in der Fachöffentlichkeit scharf kritisiert. Primär sei über ein Thema geurteilt worden, das gar nicht Streitgegenstand gewesen sei (EU-Bundesstaat) und dies mit Argumenten, die sich nicht aus dem GG ergeben würden (»Souveränität«). Wohl auch in Reaktion auf diese Kritik lenkte das BVerfG sodann am 6.7.2010 in seinem Mangold/Honeywell-Urteil (2 BvR 2661/06) partiell ein und zeigte sich hier betont europafreundlich.
Literatur
J. Bergmann/U. Karpenstein: Identitäts- und Ultra vires-Kontrolle durch das BVerfG, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien (ZEuS) 2009, S. 491 ff.
R. Lhotta u. a. (Hg.): Das Lissabon-Urteil. Staat, Demokratie und europäische Integration im »verfassten politischen Primärraum«, Wiesbaden 2013.
aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: J. Bergmann
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