Ausbreitung des Islam: Während der Islam im Früh- und im Spätmittelalter durch Eroberungen und allmähliche Konversion der unterworfenen Bevölkerung nach Europa drängte und ebenso wieder zurückgedrängt wurde, vollzieht sich im 20. und beginnenden 21. Jh. seine Ausbreitung nach Nordwesteuropa – v. a. Frankreich, Großbritannien, Skandinavien, in die dt.-sprachigen und die Beneluxländer sowie in jüngerer Zeit auch nach Spanien und Italien – durch Migration. Geschichte: Im 8. Jh. eroberten die Araber über den Westen fast ganz Spanien und Portugal (im 9. und 10. Jh. auch vorübergehend Sizilien und Unteritalien), wurden 732 (Poitiers) wieder zurückgedrängt, konnten sich aber auf der Iberischen Halbinsel noch bis 1492 halten. Im Zuge der »Reconquista« (13.–15. Jh.) wurden die betroffenen Gebiete rechristianisiert, sodass es im Südwesten Europas zwar noch »Moriscos« (Kryptomuslime) gab, aber keine anerkannten islamischen Minderheiten. 1354 setzten die Osmanen über die Dardanellen nach Europa über, nahmen große Teile des Balkans sowie 1453 Konstantinopel ein und expandierten bis nach Wien, die Hauptstadt des Heiligen Römischen Reichs (erste Belagerung 1529); durch Wiens zweite erfolglose Belagerung 1683 wurden sie in zahlreichen Kriegen bis 1913 nach Kleinasien und in den Nahen Osten zurückgedrängt. Dadurch, dass die Albaner und Bosniaken auch nach der Rückeroberung mehrheitlich muslimisch blieben, verblieben in den sog. Balkanländern Minderheiten. 20. Jh. und Gegenwart: Die dritte muslimische Ausdehnung nach Europa begann im Wesentlichen in den 1950er-Jahren. Muslime überwiegend aus Nordafrika, Türkei und Pakistan migrierten auf der Suche nach Arbeit in wohlhabende Industriestaaten und wurden im Lauf der Jahrzehnte zu einflussreichen Minderheiten. Heute leben offiziellen Schätzungen zufolge zwischen 35 und 53 Mio. Muslime in Europa, also 5–8 % der Gesamtbevölkerung Europas, ca. ein Drittel davon in Russland, 16 Mio. in der EU und knapp 6 Mio. im europ. Teil der Türkei.
Muslimische Mehrheiten finden sich u. a. in Albanien, großen Teilen Bosnien-Herzegowinas, Nordzypern, im Kosovo, in einigen Provinzen Bulgariens, Mazedoniens und Griechenlands sowie in russischen Teilrepubliken. In den letzten Jahrzehnten, v. a. seit Beginn des 21. Jh., ist es in denjenigen Staaten und Teilen Europas, in denen Muslime in einer Minderheitensituation leben, zu vielfältigen Neudeutungen des Islam gekommen, die von sog. »fundamentalistischen Gruppen« bis hin zum »Euroislam« reichen. Erstere haben i. d. R. primär das Ziel, die eigenen Gesellschaften im Sinne des Islams umzugestalten, und beziehen sich auf Europa, v. a., indem sie gegen eine durch den Westen dominierte Globalisierung opponieren, die westliche Werte wie Individualismus und Säkularismus absolut setze sowie traditionelle orientalische Werte wie Gemeinschaftssinn und Familie verdrängen wolle. Der Neologismus Euroislam wurde von dem Politikwissenschaftler Bassam Tibi eingeführt, der sich von Scharia und Djihad, da diese die Integration von Muslimen in Europa behinderten, distanziert und in Europa lebende Muslime auffordert, die Trennung von Religion und Staat zu akzeptieren, um eine Ghettoisierung und hieraus resultierendes Gewaltpotenzial für das 21. Jh. zu vermeiden. Aktuelle Situation: Angesichts der durch Einwanderung und hohe Geburtenraten wachsenden muslimischen Bevölkerung sind im Zusammenhang mit den Ängsten infolge der terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 wie auf die Nahverkehrszüge in Madrid und London 2004 und 2005 Spannungen entstanden, die im Streit um Kopftuch, Burka, Ehrenmorde und Minarette münden. Je stärker die islamische Bevölkerungsminderheit in Europa auf die Errichtung sichtbarer Moscheen und Gemeindezentren drängt, desto nachdrücklicher artikulieren Teile der Mehrheitsbevölkerung, unter dem Eindruck einschlägiger Diskussionen in den öffentlichen Medien, ihre Furcht vor der Schaffung einer Parallelgesellschaft mit traditionell islamischen Werten und Gesetzen oder gar der Islamisierung der westlichen Gesellschaften (»Islamophobia«).
aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: A.-B. Renger