Europäische Industriepolitik war bis Ende der 1980er-Jahre als eine »heilende« Politikstrategie angelegt und hat versucht, mit protektionistischen Maßnahmen nach außen (Zollunion, Binnenmarkt) sowie dem Instrument der Strukturfondsförderung die Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit von Krisenbranchen und rückständigen Regionen zu fördern. Mit dem Vertrag von Maastricht (1992) wurden der EU weitere industriepolitische Kompetenzen übertragen. In Art. 3 EG-Vertrag wird die »Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie der Gemeinschaft« ausdrücklich zum Vertragsziel erklärt, und Art. 173 AEUV des 2009 in Kraft getretenen Vertrags von Lissabon beschreibt Ziele, Aufgaben und Instrumente der I. Um die Wettbewerbsfähigkeit der EU sicherzustellen, sollen die Anpassungsfähigkeit der Industrie an strukturelle Veränderungen, die Weiterentwicklung insbesondere der kleinen und mittleren Unternehmen, die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und die bessere Nutzung von Potenzialen der Bereiche Innovation, Forschung und technologische Entwicklung gefördert werden. Vor dem Hintergrund eines gewandelten Wettbewerbsumfeldes (v. a. der Globalisierung der Ökonomie und der sich zunehmend beschleunigende Strukturwandel) werden Europa seit Beginn der 1990er-Jahre gravierende Wettbewerbsschwächen bescheinigt, die neue Anforderungen an eine europ. Industriepolitik stellen: insbesondere der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit und eine technologische Lücke im Bereich der Hightechbranchen. Dieser Sachverhalt verlangt eine Neuausrichtung der Industriepolitik als eine stärker präventiv angelegte Politikstrategie, deren Augenmerk sich generell mehr und mehr auf die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft richten muss und heutzutage immer öfter mit der Forschungs- und Technologieförderung gleichgesetzt wird. Weitere wichtige Eckpfeiler waren in den letzten Jahren das von der EU-Kommission vorgelegte Weißbuch »Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung« (1993), der sog. Bangemann-Bericht »Europa und die globale Informationsgesellschaft« (1994) sowie die Lissabon-Strategie (2000), die das Ziel verfolgt, die EU bis zum Jahre 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Insofern kann die europ. Industriepolitik mittlerweile als eine am technischen Fortschritt orientierte und auf die wirtschaftliche Modernisierung ausgerichtete Politik begriffen werden. 2017 legte die EU-Kommission eine neue Strategie für die I. vor (Titel: »Investitionen in eine intelligente, innovative und nachhaltige Industrie«). Auf dem EU-Gipfel im März 2019 unterstützten die europ. Staats- und Regierungschefs entsprechende Pläne in Richtung einer neuen I., um z. B. europ. Unternehmen gegenüber ihren chinesischen Wettbewerbern zu stärken.
Literatur
J. Hettne: European industrial policy and state aid - a competence mismatch?, European Policy Analysis, Stockholm 2020 (Download: www.sieps.se).
J. Schmid u. a.: Wirtschaftspolitik für Politologen, Paderborn 2006, S. 283-305.
J. Turek: Industriepolitik, in: W. Weidenfeld/W. Wessels (Hg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 2019, Baden-Baden 2019, S. 253-256.
aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: C. Roth
Siehe auch: