I. bezeichnet die Selbstbeschreibung eines Individuums oder Kollektivs, das sich dabei geistig oder emotional auf ein Identifikationsobjekt stützt. Kulturelle oder nationale Identität entsteht durch Institutionalisierungsprozesse. Die I. veranlasst Individuen dazu, sich mit Europa als abgrenzbarem Raum verbunden zu fühlen, sorgt für Solidarität sowie Loyalität und bildet die Basis für europapolitisches Handeln. Als kollektive Identität schafft sie Dauerhaftigkeit und Frieden unter den Individuen, schützt vor auseinanderstrebenden Interessen und bindet Vielfältigkeit zu einer Einheit. Sie bündelt Einstellungen und Orientierungen, die aus einer gemeinsamen Geschichte und Erfahrungen hervorgehen und schafft eine Basis für gemeinsame Wertvorstellungen, Handlungsmuster und Wertentscheidungen. Die I. war im Selbstverständnis der Bürger schon immer sehr komplex und den nationalen sowie regionalen Identitäten untergeordnet. Jedoch konnten gemeinsame Leiden und, später, der Erfolg der europ. Einigung eine gemeinsame Wertgrundlage schaffen. Nach jahrhundertelangen kriegerischen Auseinandersetzungen wurde die Idee einer europ. Gemeinschaft zum Leitgedanken des 20. Jh. Der Europarat stiftete Identitätsansätze durch die Europaflagge und die Hymne. Die I. der Nachkriegszeit stützte sich v. a. auf den Gedanken des Friedens, der Sicherheit und des Wohlstandes. Später trugen die Bildung des Binnenmarktes, der Wegfall der Grenzen im Schengen-Raum, die Einführung des Euro und die Osterweiterung zur I. bei. Besonders nach den gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005 ist die Notwendigkeit einer I. wieder ins Bewusstsein der Bürger gerückt worden. Durch institutionelle Reformen, mehr Bürgerbeteiligung, die Einführung differenzierter Integration und die Schaffung einer europapolitischen Kommunikation in den Mitgliedstaaten könnte die I. gestärkt werden. Der Vertrag von Lissabon (2009) stellt einen ersten Schritt in diese Richtung dar. Er enthält die Möglichkeit eines EU-Bürgerbegehrens als erstes direktdemokratisches Element der EU und trägt außerdem zu mehr Effizienz und Transparenz bei Entscheidungen auf europ. Ebene bei.
Literatur
J. Nida-Rümelin/W. Weidenfeld (Hg.): Europäische Identität: Voraussetzungen und Strategien, Baden-Baden 2007.
S. Saurugger/M. Thatcher: Constructing the EU’s political identity in policy making, in: Comparative European Politics, H. 4/2019, S. 461-476.
P. Schmitt-Egner (Hg.): Europäische Identität, Baden-Baden 2012.
aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: M. Chardon
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