E. [lat.: extremus = der Äußerste] bezeichnet im sozialwissenschaftlichen Sinne allgemein Einstellungen und Bestrebungen, die sich gegen das jeweils herrschende politische System richten und auf dessen Abschaffung dringen.
Aufgrund der unterschiedlichen nationalstaatlichen Rahmenbedingungen und einer fehlenden allgemein anerkannten Definition werden unter dem Begriff E. ganz unterschiedliche Phänomene subsumiert. Ein europ. Idealtypus existiert daher nicht, stattdessen lassen sich typologisch vier Formen feststellen:
1. Nach der klassischen Einteilung des politischen Spektrums ist auf der einen Seite der Rechtsextremismus angesiedelt. Allen rechtsextremen Ideologien sind die Ablehnung der universellen Freiheits- und Gleichheitsrechte sowie ultranationalistische und rassistische Einstellungen gemein. Teile der rechtsextremen Szene orientieren sich bis heute ideologisch am ital. Faschismus bzw. dem dt. Nationalsozialismus. Ein neuerer Bezugspunkt ist das in den 1970er-Jahren entstandene Konstrukt des »Ethnopluralismus«. Dieser geht von der Existenz verschiedener Rassen aus, welche sich in ihrer Wertigkeit jedoch nicht unterscheiden. Vordergründig findet hier, im Gegensatz zu nationalsozialistischen Ideologien, keine Hierarchisierung der Rassen statt. Durch die einzelnen Zuschreibungen erfolgen faktisch allerdings doch Auf- bzw. Abwertungen. Die v. a. auf der kulturellen Ebene angesiedelten Unterschiede sollen durch die strikte Trennung der Rassen erhalten werden.
2. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums werden unter dem Begriff des Linksextremismus verschiedene Strömungen zusammengefasst, die sich unabhängig von ihren sonstigen Positionen als antifaschistisch bezeichnen. Außerdem beinhalten linksextreme Weltanschauungen antikapitalistische und radikaldemokratische Elemente. Letzteres beinhaltet die Ablehnung der repräsentativen Demokratie und im weitestgehenden Fall die Forderung nach einer absolut direktdemokratischen Verfassung. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beziehen sich nur noch geringe Teile des linksextremen Spektrums auf den sowjetischen Kommunismus. Sowohl Parteien als auch Organisationen des nicht parteienförmigen linksextremen Typus verfügen im Gegensatz zu ihren rechtsextremen Entsprechungen über eine gut strukturierte transnationale Vernetzung.
3. Eine weitere Spielart ist der religiöse Fundamentalismus, welcher in Europa hauptsächlich von islamistischen und christlichen Gruppierungen verfolgt wird. Bis auf wenige Ausnahmen existieren keine religiös-fundamentalistischen Parteien. Dagegen sind seit den 2000er-Jahren verstärkte Aktivitäten islamistischer Organisationen und Vereinigungen zu beobachten, z. B. von Teilen der salafistischen Bewegung. Fraglich ist hierbei allerdings, inwieweit die Beweggründe religiös bzw. politisch motiviert sind. Fundamentalisten setzen sich für eine stärkere gesellschaftliche Bedeutung ihrer jeweiligen Religion bzw. die Aufhebung oder Umkehrung der Säkularisierung ein.
4. Zuletzt handelt es sich beim regionalen Separatismus um ein auf wenige Fälle begrenztes Phänomen. Separatisten können unterschiedliche Ziele verfolgen: Ethnische Minderheiten können einerseits nach einer Vereinigung bzw. Anbindung an ihr jeweiliges Ursprungsland streben (z. B. Teile der russischen Minderheiten in baltischen Staaten oder in Bulgarien). Andererseits kann das Ziel die Loslösung bzw. weitgehende Autonomisierung einer Region vom Nationalstaat sein, als Beispiele seien hier Nordirland oder das Baskenland genannt. Seit den 1990er-Jahren nimmt die Militanz der verschiedenen separatistischen Organisationen ab. In der Gegenwart versuchen sie, ihre Ziele zunehmend in demokratischen Aushandlungsprozessen zu erreichen. Als Beispiele können die schott. und die katal. Unabhängigkeitsbewegung genannt werden.
Ein verbindendes Merkmal unterschiedlicher Extremismustypen ist ein aus ganz unterschiedlichen Gründen herrührender Euroskeptizismus. Dieser ist bei rechtsextremen Vereinigungen auf die Angst vor dem Verlust der nationalstaatlichen Souveränität und vor den Folgen einer erhöhten EU-Binnenmigration zurückzuführen, während in Teilen des linksextremen Spektrums der EU eine Mitschuld an der zunehmenden Ungleichverteilung des Wohlstandes und der gesellschaftlichen Verarmung gegeben wird.
Seit Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise sind zunehmende Wahlerfolge v. a. rechtsextremer Parteien zu beobachten.
Literatur
E. Jesse/T. Thieme: Extremismus in den EU-Staaten im Vergleich, in: dies. (Hg.): Extremismus in EU-Staaten, Wiesbaden 2011, S. 431-482.
aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: L. Legath
Siehe auch: