Über die enge Zusammenarbeit der nationalen Streitkräfte in Europa hinaus gab es immer wieder weitergehende Überlegungen zur Gründung einer E. Bereits in den 1950er-Jahren wurde im Rahmen der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft vorgeschlagen, integrierte Streitkräfte zu einer Armee unter der Führung eines europ. Verteidigungsministers zusammenzuführen. Auch wenn diese weitgehenden Pläne damals scheiterten, tauchen entsprechende Überlegungen immer wieder auf. Aktueller Auslöser sind die zunehmende Bedeutung der EU in der Sicherheitspolitik und der immer enger werdende finanzielle Spielraum der EU-Staaten. Zudem unterliegen die europ. Streitkräfte einem fundamentalen Wandlungsprozess. Zwar gibt es nach wie vor erhebliche Unterschiede in den Führungsgrundsätzen und den nationalen strategischen Kulturen. Der Trend geht jedoch in die gleiche Richtung und es bildet sich langsam eine »europ. sicherheitspolitische Problemlösungskultur« heraus. Die nationalen Lageanalysen nähern sich tendenziell an, die nationalen Streitkräfte werden hinsichtlich Struktur, Umfang und Ausrüstung mehr oder weniger intensiv auf Krisenreaktionsfähigkeit ohne territoriale Begrenzung ausgerichtet, und der Trend geht zu multinationalen, kleineren, mobileren, professionelleren Projektionsstreitkräften. Zudem sind bereits vielfältige Initiativen zur Integration europ. Streitkräfte realisiert worden (u. a. die dt.-frz. Brigade und das Eurokorps). Einzelne Staaten haben zudem ihre Fähigkeiten zusammengelegt (etwa der gemeinsame Minenabwehrverband der baltischen Staaten in Estland). Zudem hat die EU gemeinsame Gefechtsverbände zur Krisenreaktion (Battlegroups) entwickelt. Für die Gründung einer E. wird angeführt, dass die EU-Staaten sich angesichts des ohnehin hohen Grades an Abhängigkeit untereinander den »Luxus« von nationalen Armeen zunehmend weniger leisten könnten. Zudem ginge mit der Schaffung einer E. eine Stärkung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) einher. Denn der dafür notwendige hohe Grad an militärisch-politischer Integration werde eine neue Qualität der Zusammenarbeit und der Angleichung von nationalen Strategien und Führungsstrukturen nach sich ziehen (müssen). So müsse es langfristiges Ziel sein, im Rahmen einer »Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion« Einheiten mit integrierten Kräften unter einem einheitlichen Kommando zu schaffen. Dem wird entgegengehalten, dass der politische Wille, den nationalen Entscheidungsvorbehalt bei EU-Einsätzen aufzuweichen, nicht vorhanden sei. Vorstellbar wäre eine radikalere Europäisierung ohnehin nur, wenn es eine europ. Legitimierungsinstanz für Militäreinsätze gäbe, die durch das Europäische Parlament (EP) geleistet werden könnte; dieses hat aber in der ESVP bislang nur beratende Befugnisse. Seit 2015 hat die Debatte um eine E. an Bedeutung gewonnen; vor allem eine engere rüstungspolitische Zusammenarbeit wird von vielen Politikern und Experten seither angemahnt. Im Rahmen der sog. »Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit«, einem im EU-Vertrag angelegten Mechanismus der engeren verteidigungspolitischen Zusammenarbeit (engl.: »Pesco«), sind bis Ende 2019 zahlreiche europäische Rüstungsprojekte vereinbart worden (z. B. Drohne).
Literatur
M. Dembinski/D. Peters: Eine Armee für die Europäische Union? Europapolitische Konzeptionen und verteidigungspolitische Strukturen, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, PRIF-Report1/2018, Frankfurt/M. 2018.
T. A. Graf: Unity in the face of threat? Exploring the empirical relationship between strategic threat perceptions and public support for a common European army in Germany, in: European Security, H. 1/2020, S. 55-73.
J. Varwick: Auf dem Weg zur »Euroarmee«, in: Internationale Politik, H. 1/2007, S. 4651.
aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: J. Varwick
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