Der Begriff E. [altgriech.: krisis = Entscheidungssituation, Wendepunkt] steht für die 2009 aufgekommene Unsicherheit über den Fortbestand und die Zukunft der gemeinsamen Eurowährung, die mit dem Vertrag von Maastricht (1993) eingeführt wurde und seit 1.1.2002 als Münzen und Scheine im Umlauf ist. Medien, Politik und Wissenschaft diskutieren mit Bezug auf den Begriff E. unterschiedliche Szenarien: Die einen erwarten ein Auseinanderbrechen der Eurozone, den Austritt einzelner Eurostaaten (z. B. Griechenlands, auch »Grexit« genannt) bzw. die Aufteilung in einen stabilen »Nord-« und einen abgewerteten »Süd-Euro«; andere sehen in der E. eine Gelegenheit, die im Vertrag von Maastricht versäumte politische Integration nachzuholen: Das Ziel ist hier, den Fortbestand des Euro und der Eurozone als Ganzes durch eine engere Koordinierung und Überwachung der nationalen Haushaltspolitiken und die Übertragung weiterer Kontrollrechte auf die EU-Ebene zu sichern. Die Bezeichnung E. in einem engeren Sinne ist jedoch irreführend, da sich der Euro als gemeinsame Währung der 17 Eurostaaten nicht in einer Krise befindet; denn im Außenwert hat er gegenüber anderen Leitwährungen (z. B. US-$ oder jap. Yen, ¥) seit seiner Einführung 1999 nicht an Wert verloren. Der Begriff ist jedoch in einem weiteren Sinne aus nachvollziehbaren Gründen zum Synonym geworden für die anhaltende Krise, in der sich die Eurozone und das Projekt der europ. Integration insgesamt befinden. Er steht für die Frage, ob und wann ein Zerfall der Eurozone bzw. die Ablösung des Euro durch die Einführung nationaler Währungen angesichts der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Spannungen in den Eurokrisenstaaten zu erwarten sei. Befürworter wie Skeptiker des Euro sehen einen Ausweg (den Letztere jedoch ablehnen) aus der E. darin, weitreichende Maßnahmen zur »Eurorettung« zu unternehmen, die über die bisherige Eurokrisenpolitik hinausgehen (2010–12); solche zusätzlichen Maßnahmen (z. B. Eurobonds, Schuldenschnitt, Vergemeinschaftung der Schulden) finden in vielen EU-Staaten jedoch keine Unterstützung, sodass die »Eurorettungspolitiker« vor einem Dilemma stehen: Denn die aus ihrer Sicht als notwendig erachteten Schritte sind unpopulär, weil damit die Übernahme von finanziellen Lasten und Verantwortung durch die wirtschaftlich starken und an den Finanzmärkten (noch) mit guter Bonität ausgestatteten »AAA«-Staaten (z. B. Deutschland, Finnland, Niederlande) einhergeht. Der Begriff E. ist also ein Sammelbegriff für ganz unterschiedliche Krisenphänomene: Er steht u. a. für die seit 2010 voll ins Bewusstsein von Politik und Öffentlichkeit tretenden Probleme einer halbfertigen Vergemeinschaftung und unvollständigen Übertragung von Kompetenzen von den EU-Staaten auf die supranationale, also die EU-Ebene im Zuge der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) durch den Vertrag von Maastricht (1993). Ursprünglich sollte parallel zur WWU auch eine »Politische Union« gegründet werden; eine weitreichende politische Integration scheiterte jedoch am Widerstand der meisten EG-Staaten. In Maastricht wurde deshalb nur die Währungspolitik vergemeinschaftet, nicht jedoch die Haushalts- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten. Da die Eurostaaten auch nach der Einführung der gemeinsamen Währung eine z. T. ungezügelte Verschuldungspolitik verfolgt haben, was ihnen (z. B. Griechenland) aufgrund der niedrigen Zinsen erleichtert wurde, gerieten die Euroschuldenstaaten seit 2010 unter massiven Druck der internationalen Finanzmärkte. Der unmittelbare Ausgangspunkt der Staatsschuldenkrise war, dass einigen Eurostaaten (insbes. Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Italien, abgekürzt auch »PIIGS-Staaten« genannt) aufgrund ihrer hohen Staatsverschuldung und/oder der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit oder einer Bankenkrise (wie z. B. in Spanien) die Zahlungsunfähigkeit bzw. der Staatsbankrott drohte. Die Probleme wurden drängend, als sich die hoch verschuldeten Eurostaaten an den internationalen Finanzmärkten aufgrund von Abwertungen ihrer Bonität durch internationale Ratingagenturen nicht mehr mit ausreichend neuem Geld zu vertretbaren Zinsen versorgen konnten; während etwa Griechenland im Juni 2010 für 10-jährige Staatsanleihen einen Zinssatz von 8,02 % zahlen musste, wuchs dieser im November 2011 auf erdrückende 25,17 % (Quelle: Bloomberg). Dies hat zu einer Reihe von Maßnahmen zur Stützung der Krisenstaaten durch die EU (Europäische Finanzstabilisierungsfazilität EFSF und Europäischer Stabilitätsmechanismus ESM), zu Anleihenkäufen der Europäischen Zentralbank und einer engen Zusammenarbeit zwischen EU und Internationalem Währungsfonds (IWF) geführt. Der IWF ist finanziell an dem »Euro-Rettungsschirm« beteiligt und vergibt Kredite nur, wenn die Krisenstaaten sich zu einer strengen Spar- und Austeritätspolitik verpflichten, diese geht jedoch einher mit sozialen Unruhen und führte zu einer Verschärfung der wirtschaftlichen Situation in den Eurokrisenstaaten. Im Zuge der E. wurden vonseiten der EU und den Mitgliedstaaten eine Reihe von Maßnahmen zur wechselseitigen Kontrolle der Haushalts- und Wirtschaftspolitik der EU-Staaten ergriffen, um künftige Krisen dieser Art verhindern zu können; dies geschah etwa durch eine Reform des seit 1997 bestehenden Euro-Stabilitäts- und Wachstumspaktes (2011), die Einführung eines »Europäischen Semesters« (2011), das eine Vorabkontrolle der nationalen Haushaltsentwürfe durch die EU-Kommission und EU-Ministerrat ermöglicht, und die Vereinbarung eines sog. Fiskalpaktes im März 2012, der die beteiligten EU-Staaten auf eine strenge Haushaltskonsolidierung, z. B. durch die Verankerung einer »Schuldenbremse« in den Verfassungen der EU-Staaten, verpflichtet. Ausländische und dt. Kritiker bemängeln, dass die Maßnahmen und Beschlüsse zur Bekämpfung der E. maßgeblich auf die Vorstellungen der dt. Bundesregierung und der Bundeskanzlerin Angela Merkel zurückgehen. Diese sieht als Grund für die E. in erster Linie einen Mangel der Wettbewerbsfähigkeit der Krisenstaaten, welcher ihrer Ansicht nach zunächst v. a. durch Einsparungen und eine Austeritätspolitik bekämpft werden müsse und erst in zweiter Linie durch Solidarität. Weitgehende Einigkeit in Expertenkreisen besteht darin, dass langfristig gesehen nur institutionelle Anpassungen der Wirtschafts- und Währungsunion und Kompetenzübertragungen bzw. die Schaffung neuer Institutionen auf EU-Ebene (z. B. »Europäischer Finanzminister«, Bankenunion) künftige Krisen verhindern können. Ein solch grundlegender Umbau der WWU würde eine Änderung des EU-Vertrags erforderlich machen, welche von den beteiligten EU-Staaten ratifiziert werden muss.
Literatur
D. Dinan u.a (Hg.): The European Union in Crisis, London 2017.
T. Kunstein/W. Wessels: Die Europäische Union in der Währungskrise: Eckdaten und Schlüsselentscheidungen, in: integration, H. 4/2011, S. 308-322.
F. Nicoli: Neofunctionalism revisited: integration theory and varieties of outcomes in the Eurocrisis, in: Journal of European Integration (JEI), Online first-Fassung vom 6.10.2019.
aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: M. Große Hüttmann
Siehe auch: