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2014: Völkermord an Jesidinnen und Jesiden | Hintergrund aktuell | bpb.de

2014: Völkermord an Jesidinnen und Jesiden

Redaktion

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Im Sommer 2014 begingen IS-Terroristen einen Völkermord an den Jesidinnen und Jesiden im Nordirak. Bis heute ist die Lage der religiösen Minderheit in der Region schwierig

Zwei Frauen trauern um Angehörige bei einer Beerdigung im Januar 2024 in der nordirakischen Stadt Sindschar. Bis heute werden Massengräber gefunden und die vom IS Getöteten bestattet. (© AP)

Anfang August 2014 überfielen Kämpfer der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) jesidische Dörfer und Städte im Nordirak. Die islamistischen Terroristen begingen Massaker an Zivilisten, wie Erschießungen, Vergewaltigungen und Versklavungen. Unter anderem die Vereinten Nationen (UN) erkennen die Verbrechen als Interner Link: Genozid an. Bis heute sind nur wenige Jesidinnen und Jesiden in ihre Heimat zurückgekehrt.

SteckbriefJesidentum

Weltweit gibt es Schätzungen zufolge bis zu Interner Link: einer Million Jesidinnen und Jesiden. Viele von ihnen stammen aus dem heutigen Irak und Syrien sowie dem Iran und der Türkei. Ein großer Teil der jesidischen Bevölkerung lebte vor dem Genozid 2014 in der nordirakischen Provinz Ninive, vor allem in den beiden Distrikten Sindschar („Sinjar“) und Sheikhan. Schätzungen gingen von bis zu 700.000 aus – heute sind es jedoch weit weniger.

Seit dem Genozid leben immer noch viele Jesidinnen und Jesiden in Flüchtlingslagern in den kurdisch kontrollierten Gebieten des Irak, ein großer Teil emigrierte ins westliche Ausland. In Deutschland lebt die größte Diasporagemeinde mit bis zu 250.000 Menschen, von denen die Mehrheit bereits vor dem Genozid nach Deutschland kam.

Das Jesidentum ist eine eigenständige, monotheistische Religion, deren Wurzeln bis zu vier Jahrtausende zurückreichen. Zentral für die Entwicklung des Jesidentums ist Scheich Adi, der die jesidische Gesellschaft vor über 800 Jahren in drei Kasten einteilte. Ehen zwischen den Kasten sind ebenso wie jene mit Menschen außerhalb der Religionsgemeinschaft verboten. Im Jesidentum gibt es keine Missionierung – auch kann niemand zum Jesidentum konvertieren. Zentrale Figur ist neben dem Schöpfergott „Ezid“ der „Engel-Pfau“.

Jesiden sehen sich mehrheitlich selbst als Kurden. Sie sprechen Kurmandschi, eine kurdische Sprache. Die Geschichte der Jesiden ist durch Verfolgung und Diskriminierung geprägt. Bereits vor den Gräueltaten durch den IS kam es immer wieder zu Übergriffen gegen die Minderheit. 2007 starben bei einem Sprengstoffanschlag mehr als 700 Menschen. Verantwortlich war eine al-Qaida Gruppe.

Der Überfall am 3. August 2014

Am Morgen des 3. Augusts 2014 überfielen Kämpfer der Interner Link: Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) die Sindschar-Region. Wenige Wochen vorher hatten die Interner Link: Dschihadisten die zuvor kurdisch kontrollierte Millionenstadt Mossul erobert. Angesichts des Vormarsches des IS zogen sich die Kämpfer der kurdischen Selbstverwaltung Peschmerga kampflos zurück und ließen die dort lebende jesidische Bevölkerung ohne Schutz zurück.

In den folgenden Tagen führten die IS-Terroristen einen systematischen Vernichtungsfeldzug gegen die jesidische Bevölkerung durch. Sie trennten Familien, töteten vor allem Männer und Jungen über 12 Jahren, entführten Frauen und Kinder. Mädchen ab neun Jahren wurden versklavt, Jungen ab sieben Jahren in Trainingscamps zu Kämpfern für den IS ausgebildet. Dabei wurden mehr als 5.000 Jesiden getötet und etwa 7.000 verschleppt. Frauen und Mädchen wurden Opfer sexueller Gewalt und systematisch vergewaltigt.

Bis 2016 konnten nach Externer Link: Angaben des UN-Menschenrechtsrats 3.500 Mädchen und Frauen befreit oder freigekauft werden. Heute werden laut der Externer Link: Nichtregierungsorganisation ProAsyl rund 2.700 Frauen und Mädchen noch vermisst. Außerdem zwang der IS, Jesiden zum Islam zu konvertieren.

Vor dem Angriff flohen mehrere Zehntausend Jesidinnen und Jesiden ins Sindchar-Gebirge, wo der IS sie einkesselte. Bei Temperaturen bis zu 50 Grad harrten sie ohne Nahrung und Wasser aus. Die USA ließen Hilfsgüter abwerfen und bombardierten IS-Stellungen im Nordirak. Kurdische YPG-Milizen aus Syrien kämpften in enger Koordination mit den US-Luftstreitkräften einen Fluchtkorridor frei.

Schleppender Wiederaufbau

Obwohl der IS 2017 besiegt wurde, ist die Interner Link: politische Lage in der Region instabil. Verschiedene Gruppierungen streiten um die Vorherrschaft. Dazu gehören die kurdischen Peschmerga, die kurdische PKK aus der Türkei, die Iran-nahen Popular Mobilization Forces sowie die Interner Link: irakische Zentralregierung. Die Türkei fliegt immer wieder Luftangriffe auf die Region. Das Sinjar-Normalisierungsbkommen, das im Oktober 2020 zwischen der irakischen Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung beschlossen wurde, wird kaum umgesetzt.

Die politische Lage erschwert den Wiederaufbau der Region. Zudem hat der IS Felder und Städte vermint, um eine Rückkehr zu erschweren. Heute leben immer noch viele Menschen in Flüchtlingsunterkünften, nur wenige sind in die Region Sindschar zurückgekehrt. In der gleichnamigen Stadt, mit einer Bevölkerung von etwa 80.000 Personen im Jahr 2013, wohnen heute knapp 25.000 Menschen. Mehr als 200.000 Menschen leben Externer Link: nach Angaben der Vereinten Nationen zudem immer noch als Vertriebene in Camps.

Verbrechen als Genozid anerkannt

Die Externer Link: UN hat 2016 die IS-Verbrechen an den Jesidinnen und Jesiden als Völkermord eingestuft. Demnach habe der IS mit Massenhinrichtungen und weiteren Verbrechen „auf lange Sicht eine Vernichtung der jesidischen Glaubensgemeinschaft in Irak und Syrien“ erreichen wollen. Auch das Europäische Parlament spricht von einem Genozid.

Der Bundestag erkannte die Verbrechen der IS-Terroristen an der jesidischen Bevölkerung im Januar 2023 als Völkermord an. Der Antrag wurde gemeinsam von den Fraktionen von SPD, Grünen, FDP und Union eingebracht. In dem Beschluss heißt es: „Der Deutsche Bundestag verneigt sich vor den Opfern der Verbrechen des sogenannten Islamischen Staates (IS) im Irak und in Syrien.“ Rechtlich hat die Einstufung keinen bindenden Charakter.

Juristische Aufarbeitung der Verbrechen

Die Verbrechen des IS werden bisher nicht durch den Internationalen Strafgerichtshof verfolgt, da Russland dies mit einem Veto im Sicherheitsrat blockiert. Stattdessen findet die juristische Aufarbeitung vor nationalen Gerichten statt.

Als erstes Gericht verurteilte das Oberlandesgericht Frankfurt im November 2021 erstmals einen IS-Kämpfer aus dem Irak wegen Völkermords an den Jesiden. Der Bundesgerichtshof bestätigte später das Urteil. Im Irak werden Kämpfer und Angehörige des IS aufgrund von Terrorismus und Mord verurteilt. Ein Sondergericht, wie von Nichtregierungsorganisationen gefordert, wurde bisher nicht eingerichtet.

Situation in Deutschland

Viele Jesidinnen und Jesiden sind nach dem Genozid nach Deutschland geflohen. Nichtregierungsorganisationen beklagen, dass immer weniger Asylanträge bewilligt werden und Jesidinnen und Jesiden von Abschiebungen in den Irak bedroht sind. So wurden von Januar bis August 2023 etwa 45 Prozent der Asylanträge nicht bewilligt, in den Jahren davor lag die Quote noch niedriger. Ein Abschiebestopp für jesidische Frauen und Mädchen in den Irak gilt nur in Rheinland-Pfalz zunächst bis August 2024, Männer können weiterhin abgeschoben werden. Auch die Bundesländer Thüringen und Nordrhein-Westfalen hatten zeitweise die Abschiebungen ausgesetzt. Einem deutschlandlandweiten Abschiebestopp hat die Konferenz der Innenminister im Juni 2024 nicht zugestimmt.

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