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Unterhauswahl am 4. Juli 2024: Großbritannien vor einem Machtwechsel? | Hintergrund aktuell | bpb.de

Unterhauswahl am 4. Juli 2024: Großbritannien vor einem Machtwechsel?

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Das Vereinigte Königreich wählt ein neues Parlament. Umfragen zufolge dürfte die Labour Party die Konservativen nach 14 Jahren an der Regierung ablösen.

Der britische Premierminister Rishi Sunak (rechts) in einer TV-Debatte mit dem Vorsitzenden der oppositionellen Labour-Partei, Keir Starmer, im Juni 2024. (© picture-alliance/AP, Phil Noble)

Am 4. Juli wählen die Britinnen und Briten ein neues Interner Link: Unterhaus. Bei der letzten Wahl 2019 hatte die Interner Link: Konservative Partei („Tories“) eine absolute Mehrheit erreicht. Die „Tories“ regieren das Land seit 14 Jahren. Aktueller Premierminister ist Parteichef Rishi Sunak. Er hatte den Wahltermin im Mai überraschend bekannt gegeben. Die Neuwahl hätte turnusgemäß auch erst in einigen Monaten stattfinden können, allgemein war ein Wahltermin im Herbst erwartet worden. Sunak hoffte jedoch, bei seiner Entscheidung von den zuletzt leicht verbesserten Wirtschaftsdaten und der gesunkenen Interner Link: Inflation zu profitieren. Die „Tories“ stehen in den Umfragen seit über einem Jahr deutlich hinter der oppositionellen Interner Link: Labour-Partei.

Bei den Interner Link: Wahlen im Dezember 2019 war es den Konservativen mit ihrem damaligen Premierminister Boris Johnson noch gelungen, Labour sogar in vielen Wahlkreisen der „Red Wall“ zu besiegen – industriell geprägten Stimmbezirken im Norden Englands, die seit Jahrzehnten mehrheitlich Labour wählten. Während Johnsons Amtszeit Interner Link: trat Großbritannien am 31. Januar 2020 als erster Staat überhaupt aus der Europäischen Union aus. Johnson war es gelungen, den Brexit-Deal nach langwierigen Abstimmungen durch das Unterhaus zu bringen und mit der Europäischen Union eine Einigung bei mehreren offenen Fragen zu erreichen. Seither haben die Konservativen bei der Bevölkerung viel Vertrauen verloren. Auch aufgrund von Skandalen und Streitigkeiten innerhalb der Partei gab es zudem zahlreiche Wechsel im Kabinett.

Instabile Regierungen unter Johnson und Truss

Unter der Führung der Konservativen setzte Großbritannien auf Interner Link: Austeritätspolitik: Die Regierung sparte am Sozialstaat und der Infrastruktur des Landes. Auch Johnsons Politik während der Corona-Krise war hoch umstritten. Für Schlagzeilen sorgte unter anderem sein persönliches Verhalten während der Pandemie. Dem Premierminister wurde im Zuge der „Partygate“-Affäre vorgeworfen, gegen die britischen Lockdown-Regeln verstoßen und im Nachgang das Unterhaus darüber belogen zu haben. Auch mit weiteren Skandalen sorgte Johnson für Aufruhr, beispielsweise durch eine ausgebliebene Mitteilung von Spendengeldern und sein Festhalten an Abgeordneten, die in die Kritik geraten waren. Nach einer Ministerrevolte trat er im Sommer 2022 zurück.

Auf Johnson folgte Liz Truss. Ihre Amtszeit als Premierministerin dauerte jedoch nur eineinhalb Monate. Sie kündigte nicht gegenfinanzierte Steuersenkungen an und verschreckte damit die Finanzmärkte. In der Folge verlor Großbritannien an Reputation, die Kreditkosten stiegen massiv.

Fokus auf Migrations- und Wirtschaftspolitik unter Sunak

Rishi Sunak übernahm im Oktober 2022 das Amt. Er versprach die Wirtschaft zu stabilisieren, das staatliche Gesundheitssystem NHS (National Health Service) zu verbessern und die illegale Migration einzudämmen. Einer von der britischen Regierung initiierten Vereinbarung zufolge sollen Flüchtlinge, die illegal im Vereinigten Königreich ankommen, künftig nach Ruanda abgeschoben werden. Der Oberste Gerichtshof hatte das Vorhaben im vergangenen November für rechtswidrig erklärt, weil Ruanda kein sicherer Staat sei. Das Parlament erklärte daraufhin Ruanda zu einem sicheren Land. Gegen diese Regelung ist ebenfalls eine Klage vor dem Obersten Gerichtshof anhängig.

Im Februar 2023 erzielte Sunak eine Interner Link: Einigung mit der EU über Handelsregeln für Nordirland. Über den Status des Gebiets war vorher im Zuge des „Brexits“ jahrelang gestritten worden, weil man sowohl Handelsbarrieren zwischen Nordirland und dem EU-Mitgliedsstaat Republik Irland als auch zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs verhindern wollte. Sunak versuchte auch, die in Großbritannien seit Ende 2021 stark gestiegene Inflation zu bekämpfen. Vor allem 2022 und 2023 sorgten die gestiegenen Verbraucherpreise für eine starke Belastung der britischen Gesellschaft. Der Anteil der Menschen, die in absoluter Armut leben, hat zugenommen - vor allem bei Alleinstehenden zwischen 25 und 44 Jahren, aber auch bei Familien und älteren Menschen. Die Inflation lag in Großbritannien teils deutlich höher als auf dem Kontinent, nicht zuletzt in Folge des „Brexits“. Ihren Höhepunkt erreichte die Inflationsrate im Oktober 2022 mit 11,1 Prozent. Erst ab dem zweiten Halbjahr 2023 sank sie spürbar und lag im Mai 2024 mit einem Wert von zwei Prozent unter der Inflationsrate der Eurozone (2,6 Prozent).

Kleine Wahlkunde

So wird gewählt Es gilt ein relatives Mehrheitswahlrecht. Die 650 Abgeordneten des Unterhauses werden in 650 Einzelwahlkreisen gewählt. Wer in seinem Wahlkreis die meisten Stimmen bekommt, zieht in das Parlament ein. Alle Stimmen, die für andere Kandidaten abgegeben wurden, verfallen und haben keinen Einfluss auf die Mehrheitsverhältnisse im Unterhaus. Die reguläre Dauer einer Legislaturperiode beträgt fünf Jahre. Wer darf wählen? Wahlberechtigt sind alle Staatsbürgerinnen und -bürger des Vereinigten Königreichs oder dort lebende Staatsbürger aus der Republik Irland oder dem Commonwealth, die mindestens 18 Jahre alt sind. Jede Wählerin und jeder Wähler hat eine Stimme für eine Kandidatin oder einen Kandidaten im Wahlkreis. Wählerinnen und Wähler müssen sich vorab registrieren und seit April 2022 mit einem offiziellen Dokument wie Reisepass oder Führerschein ausweisen. Zweikammersystem Das britische Parlament besteht aus zwei unabhängigen Kammern: dem "House of Commons" (Unterhaus) und dem "House of Lords" (Oberhaus). Das Unterhaus ist die gesetzgebende Kammer und die Herzkammer der britischen Demokratie. Ihre Mitglieder beschließen die Gesetze und sollen die Regierung kontrollieren. Im Gegensatz zum Unterhaus wird das Oberhaus nicht durch eine allgemeine Wahl bestimmt. Seine Mitglieder werden vom Premierminister vorgeschlagen und durch den König ernannt. Das Oberhaus besteht aus über 800 Mitgliedern, ein kleiner Teil sind Erbadlige und Bischöfe. Die meisten sind dagegen Adlige auf Lebenszeit ("Life Peers"). Das Oberhaus hat heute im Wesentlichen eine beratende Funktion. Es kann Gesetze nicht verhindern, allerdings verzögern und den Gesetzgebungsprozess beeinflussen.

Wer steht zur Wahl?

Aktuell die meisten Abgeordneten im Parlament stellt die Konservative Partei. Die Tories kamen bei der Wahl 2019 auf 365 Sitze. Die Partei vertritt rechtskonservative zentralistische Ordnungsvorstellungen und eine liberale Wirtschaftspolitik. Sie stellte im letzten Jahrhundert die meisten Premierminister sowie eine Premierministerin. Seit dem Brexit-Referendum sind die Konservativen weiter nach rechts gerückt. Spitzenkandidat ist der aktuelle Premierminister Rishi Sunak.

Größte Oppositionspartei ist die Labour Party. Sie wurde im Jahr 1900 von den britischen Gewerkschaften gegründet und sieht sich traditionell als Vertreterin der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die sozialdemokratisch orientierte Partei will mehr Geld in die Infrastruktur investieren, einen stärkeren Fokus auf Armutsbekämpfung setzen und das Gesundheitssystem verbessern. 2019 gelang 202 ihrer Kandidatinnen und Kandidaten der Einzug ins Parlament. Spitzenkandidat ist Keir Starmer, früherer Direktor der Staatsanwaltschaft in England und Wales.

Drittstärkste Partei wurden bei den Wahlen 2019 mit landesweit über elf Prozent die Liberaldemokraten. Wegen des Mehrheitswahlrechts gehörten dem Unterhaus zuletzt allerdings nur etwas mehr als ein Dutzend „LibDems“ an. Parteivorsitzender ist Ed Davey. Die Partei vertritt innen- und wirtschaftspolitisch klassisch liberale und linksliberale Positionen.

Zudem treten auch Regionalparteien wie die nordirisch-protestantische Democratic Unionist Party (DUP), die walisische Plaid Cymru und die Scottish National Party (SNP) an. Letztere strebt ein von Großbritannien unabhängiges Schottland an und konnte bei der letzten Wahl 48 Abgeordnete ins Parlament in London entsenden.

In den meisten Umfragen zuletzt drittstärkste, manchen Erhebungen zufolge sogar zweitstärkste Kraft ist Reform UK. Die frühere Brexit Party stellt nach dem Übertritt eines Tory-Abgeordneten derzeit einen Sitz im Unterhaus. Die von Nigel Farage geführte Partei agiert EU- und migrationsfeindlich und gilt als rechtspopulistisch Sonstige wie die Grüne Partei haben wegen des Mehrheitswahlrechts kaum Chancen auf Mandate.

Gesundheitssystem und Lage der Kommunen wichtige Wahlkampfthemen

Ein zentrales Wahlkampfthema sind die Probleme des britischen Gesundheitssystems. Der staatliche National Health Service kostet über 200 Milliarden Euro im Jahr. Patientinnen und Patienten müssen jedoch in der Regel viele Monate auf Termine für Operationen und Routine-Untersuchungen warten. Im vergangenen Jahr hatten die Wartezeiten einen neuen Negativrekord erreicht. Auch die Wartezeiten bei Notfällen sind sehr lang. Der NHS ist seit Jahren chronisch unterbesetzt und unterfinanziert. Zuletzt verschärfte sich die Situation durch lange Streiks des medizinischen Personals sowie Altlasten aus der Corona-Pandemie.

Für die Krise des Gesundheitssystems ebenso wie für die starke Inflation der vergangenen Jahre wird von vielen Britinnen und Briten die konservative Regierung verantwortlich gemacht. Auch der Sparkurs der Tories und dessen Folgen sind im Wahlkampf ein Thema. Großbritanniens Infrastruktur ist in weiten Teilen marode. Den Kommunen im Vereinigten Königreich fehlt zunehmend das Geld für die öffentliche Daseinsvorsorge. Die konservative Regierung hat ihre Zuwendungen gekürzt, und die Steuereinnahmen der Kommunen sind geringer als früher.

Labour und die Konservativen wollen deutlich mehr in die Infrastruktur investieren, die „Tories“ versprechen zudem Steuersenkungen. Die Migrationspolitik spielt ebenfalls im Wahlkampf eine große Rolle. Für über ein Viertel der Wählerinnen und Wähler ist Migration laut einer Ipsos-Umfrage von Anfang Mai das aktuell wichtigste Thema. Mit ihrem Plan, Asylbewerber nach Ruanda zu schicken, hoffen die Tories bei der Bevölkerung zu punkten.

In den vergangenen Wochen wurde zudem viel über einen neuen Skandal der Regierungspartei diskutiert: Mitarbeiter der Tories sollen Insider-Wissen genutzt haben, um auf den Wahltermin zu wetten.

Umfragen: Labour Party vor möglichem Triumph

Demoskopen zufolge drohen der Konservativen Partei massive Stimmverluste. In Umfragen lag die Labour Party zuletzt konstant bei mindestens 40 Prozent – die Tories liegen hingegen aktuell bei etwa 20 Prozent. Knapp dahinter rangiert in den meisten Umfragen Reform UK (ca. 16-17 Prozent), die „LibDems“ kamen zuletzt auf rund elf Prozent. Bereits bei den Kommunalwahlen Anfang Mai verloren die Tories mehrere Hundert kommunale Mandate – Labour gewann unter anderem in Großstädten wie London, Manchester, Liverpool, Leeds und Sheffield.

Wegen des britischen Mehrheitswahlrechts gehen Meinungsforschende bei den Parlamentswahlen von einem deutlichen Sieg für Labour aus. Laut zweier Umfragen des Meinungsforschungsinstituts YouGov von Anfang und Mitte Juni könnte die Partei die Anzahl ihrer Sitze im Unterhaus auf über 420 verdoppeln – die Tories würden auf lediglich 140 oder sogar nur 108 Mandate kommen. Auch anderen Erhebungen zufolge droht den Konservativen eine historische Niederlage: Eine Savanta-Umfrage geht sogar von 516 Sitzen für Labour und nur noch 53 Mandate für die Tories aus.

Für die Labour Partei wäre es das beste Ergebnis in ihrer Geschichte. Für Reform UK dürfte es wegen des Mehrheitswahlrechts auch bei einem gegenüber den Konservativen prozentual besseren Abschneiden schwierig werden, mehr als nur eine Handvoll Mandate zu erringen. In einigen Wahlkreisen könnte ein gutes Abschneiden der Rechtspopulisten jedoch den Konservativen die Mehrheit und damit den Parlamentssitz kosten.

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