Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

30. Juni und 7. Juli 2024: Vorgezogene Parlamentswahlen in Frankreich | Hintergrund aktuell | bpb.de

30. Juni und 7. Juli 2024: Vorgezogene Parlamentswahlen in Frankreich

Redaktion

/ 7 Minuten zu lesen

Bei den von Emmanuel Macron einberufenen Parlamentswahlen in Frankreich konnte sich das neue Linksbündnis überraschenderweise gegen die Rechtspopulisten und das Bündnis des Präsidenten durchsetzen.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wendet sich am 9. Juni 2024 nach den Ergebnissen der Europawahlen im Fernsehen an das französische Volk. Er kündigt die Auflösung der Nationalversammlung an und ruft zu Neuwahlen in Frankreich auf. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com | Adrien Fillon)

Nachdem dem rechtspopulistischen bis rechtsextremen Rassemblement National zunächst eine Chance auf absolute Mehrheit im Parlament vorhergesagt wurde, geht das neue Linksbündnis Nouveau Front Populaire (182 Sitze) als stärkste Kraft aus der Wahl hervor. Somit gewinnt das erste Mal seit 2012 eine linkes Bündnis Wahlen in Frankreich, gefolgt vom Bündnis um Präsident Macron Ensemble (168 Sitze). Das Bündnis um den Rassemblement National (143 Sitze) landet überraschenderweise nur auf dem dritten Platz. Keines der drei Bündnisse konnte eine absolute Mehrheit der 577 Sitze in der Nationalversammlung sichern. Eine schwierige Ausgangsposition für das französische Parlament, das nicht Koalitionserprobt ist. Wie sich die nächste Regierung zusammensetzen wird, bleibt vor diesem Hintergrund noch unklar.

Am Abend der Interner Link: Europawahl vom 9. Juni 2024 hatte Frankreichs Präsident Interner Link: Emmanuel Macron überraschend Interner Link: die Auflösung der Nationalversammlung verkündet und vorgezogene Neuwahlen angesetzt. Es ist das erste Mal seit 27 Jahren, dass ein Präsident zu diesem Mittel greift. Die Wahlen haben in zwei Runden am 30. Juni und am 7. Juli stattgefunden. Rechte Parteien waren bei der Europawahl in Frankreich auf knapp 40 Prozent der Stimmen gekommen. Das Parteienbündnis Besoin d’Europe, zu dem auch Macrons Partei Renaissance bei der Europawahl gehörte, musste dagegen eine Interner Link: schwere Niederlage hinnehmen (knapp 15 Prozent). Macron begründete die Auflösung der Nationalversammlung damit, dass er der französischen Bevölkerung die politische Grundsatzentscheidung über die parlamentarische Zukunft des Landes in die Hände legen wolle. Durch die Mobilisierung aller übrigen politischen Kräfte versuchte er zudem, sich erneut als Bollwerk gegen den Extremismus darzustellen und den wachsenden Einfluss des rechtspopulistischen bis rechtsextremen Interner Link: Rassemblement National einzudämmen.

Wofür steht Artikel 12 der Verfassung?

Artikel 12 der französischen Verfassung von 1958 gibt Interner Link: dem Präsidenten das Recht, nach Beratungen mit dem Premierminister und den Präsidenten der beiden Parlamentskammern die Nationalversammlung aufzulösen. Neuwahlen können frühestens 20 Tage nach der Auflösung des Unterhauses stattfinden, müssen aber spätestens 40 Tage nach der Entscheidung erfolgen. Bereits am zweiten Donnerstag nach der Wahl muss die Nationalversammlung sich neu konstituieren. Für den Zeitraum von zwölf Monaten nach der Wahl ist eine erneute Auflösung der Nationalversammlung nicht möglich.

Die Interner Link: französische Verfassung gewährt dem Staatsoberhaupt damit Befugnisse, die es in dieser Form in Deutschland nicht gibt. Weder der Bundeskanzler noch der Bundespräsident haben die Möglichkeit, initiativ und durch eigene Entscheidung den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Das Verfahren hierzulande ist komplexer und wurde zuletzt 2005 unter der Regierung von Gerhard Schröder angewandt: Laut Artikel 68 des Grundgesetzes kann der Bundeskanzler im Bundestag die Interner Link: Vertrauensfrage stellen. Erhält er dabei nicht die Mehrheit der Stimmen, darf er dem Bundespräsidenten vorschlagen, binnen 21 Tagen den Bundestag aufzulösen. Wählt der Bundestag binnen dieser Frist einen neuen Kanzler, erlischt das Recht. Entscheidet sich der Bundespräsident nach Ablauf dazu, den Bundestag aufzulösen, finden Neuwahlen statt.

In Frankreich ist es vor allem in den 1960er- und 1980er-Jahren häufiger vorgekommen, dass sich der Präsident mit den durch Artikel 12 gewährten Rechten zu einer Auflösung der Nationalversammlung entschieden hat. Bisher ist das insgesamt sechsmal geschehen: 1962, 1968, 1981, 1988, 1997 und nun im Jahr 2024. In Frankreich ist es unstrittig, dass der Präsident in Fällen tatsächlicher oder möglicher Krisen das Recht hat, diesen Schritt zu gehen (Checks and Balances). Das betrifft politische Sonderlagen: So beispielsweise die Krisen unter Interner Link: Charles De Gaulle um das Referendum zur Direktwahl des Präsidenten 1962 und die Interner Link: Pariser Studentenrevolte 1968.

Aber auch der Fall einer Interner Link: „Cohabitation“ stellt einen legitimen Grund für die Auflösung der Nationalversammlung dar. Darunter versteht man den Fall, dass Regierung und Präsident aus zwei unterschiedlichen politischen Lagern kommen. Weil das semipräsidentielle Regierungssystem dem Staatsoberhaupt gewisse exekutive Rechte einräumt – so ist der französische Präsident laut Artikel 15 Oberbefehlshaber der Streitkräfte und verhandelt laut Artikel 52 Staatsverträge mit anderen Ländern – kann sich eine Cohabitation lähmend auf die französische Politik auswirken.

Strittig ist, ob der Präsident von Artikel 12 Gebrauch machen kann, um aus politischen Gründen Neuwahlen herbeizuführen. Das war beispielsweise 1997 der Fall, als Präsident Interner Link: Jacques Chirac mit den Wahlen ein Mandat für seine Europapolitik erhalten wollte. Macrons Entscheidung für die Neuwahlen im Jahr 2024 hatte einen anderen Ursprung: Seine Partei Renaissance und ihr Bündnis Ensemble hatten nur eine relative Mehrheit in der alten Nationalversammlung. Die Regierungsarbeit wurde dadurch bereits in den vergangenen Monaten zusehends schwieriger.

Wie wird gewählt?

Die Nationalversammlung (Interner Link: „Assemblée nationale“) ist das Unterhaus des französischen Parlaments. Sie hat laut Artikel 24 der französischen Verfassung maximal 577 Sitze, was der Zahl der Wahlkreise entspricht. Gewählt wird nach dem Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen. In der ersten Runde erhalten jene Kandidaten Sitze in der Nationalversammlung, die eine absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen und mindestens 25 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigter in ihrem Wahlkreis erhalten haben. Ist eine zweite Runde erforderlich, treten jeweils die beiden Erstplatzierten sowie sämtliche Kandidaten noch einmal an, für die mindestens 12,5 Prozent der Wahlberechtigten gestimmt haben. Es gewinnt derjenige Kandidat, der die meisten Stimmen auf sich vereinen kann. Das Wahlalter liegt bei 18 Jahren.

Wer tritt zur Wahl an?

Um die Chancen im Mehrheitswahlrecht zu vergrößern, treten Parteien in Frankreich oft in Bündnissen an.

Die Partei Renaissance (RE) von Präsident Macron ist auf nationaler Ebene Teil des Bündnisses Externer Link: Ensemble (Langform: : Ensemble pour la République, dt.: Gemeinsam für die Republik), zu dem außerdem noch eine ganze Reihe kleinerer liberaler und zentristischer Parteien gehören: Mouvement Démocrate (MoDem), Horizons (HOR), die Parti radical (PR) und die Union des démocrates et indépendants (UDI). Das Bündnis steht für die Fortsetzung der liberalen und pro-europäischen Politik von Emmanuel Macron.

Im linken Spektrum hat sich ein neues Bündnis gebildet: die Externer Link: Nouveau Front Populaire (NFP, dt.: Neue Volksfront). Das Bündnis bildet ein ganzes Spektrum an Parteien ab, die eine zentristische, linke, grüne und linkspopulistische Politik verfolgen. Dazu gehören die sozialdemokratische Parti Socialiste (PS), die linkspopulistische und EU-skeptische Partei La France Insoumise (LFI), die grüne Partei Les Écologistes (EELV), die eurokommunistische Parti Communiste Français (PCF) sowie diverse Kleinstparteien, die als Partner antreten.

Der rechtspopulistische Externer Link: Rassemblement National (RN, dt.: Nationaler Zusammenschluss, bis 2018: Front National) ist die einzelne Partei, die (jenseits der verschiedenen Bündnisse) die meisten Sitze in der Nationalversammlung erhalten hat. Auch wenn die Partei als Verliererin aus der Wahl hervorgeht, erreicht die Anzahl der Sitze im Parlament und der Stimmen, die für sie gestimmt haben, ein Rekordniveau in der Geschichte der Partei. Parteivorsitzender ist seit 2022 Jordan Bardella, zuvor hatte Marine Le Pen dieses Amt inne. Der RN vertritt rechtsnationale, EU-kritische und pro-russische Positionen.

Schließlich gibt es noch die gaullistische Partei Externer Link: Les Républicains (LR, dt.: Die Republikaner, bis 2015: UMP). Sie vertritt liberal-konservative Positionen. Ihre gemäßigten Repräsentanten plädieren für eine gaullistische Politik und sind gegen Zugeständnisse an Renaissance oder den RN. Dagegen sind Parteipräsident Éric Ciotti und seine Unterstützer für die Wahl ein Bündnis mit dem RN eingegangen, weshalb Ciotti ein Parteiausschluss droht und die Partei gespalten antrat.

Was sind die Themen im Wahlkampf?

In dem kurzen Zeitraum zwischen Macrons überraschender Entscheidung zur Auflösung der Nationalversammlung und Neuwahlen war die Debatte vom möglichen Sieg der Rechtspopulisten des RN geprägt. Am 15. Juni demonstrierten landesweit Hunderttausende Menschen gegen einen möglichen Rechtsruck in Frankreich.

Der RN will das erhöhte Migrationsaufkommen, irreguläre Einwanderung sowie Kriminalität eindämmen, die Sicherheit erhöhen und die Interner Link: Kaufkraft der Bürgerinnen und Bürger stärken. Die NFP gibt als Ziel an, den Rechtsruck zu verhindern, sowie demokratische, ökologische, soziale und friedenspolitische Problemlagen anzugehen. So soll beispielsweise der Mindestlohn erhöht, die umstrittene Rentenreform zurückgenommen und die Reform der Arbeitslosenversicherung ausgesetzt werden. Das Bündnis Ensemble, das sich allem voran für die Fortführung der Politik Macrons einsetzt, wirft der linken Koalition wie auch den Rechten extremistische Tendenzen vor. Ensemble setzt im Gegensatz auf Einsparungen im Haushalt, eine CO2-freie Energieversorgung und eine medizinische Grundversorgung.

Wer hat die Wahl gewonnen?

In den Umfragen lag der RN klar vorn. Den Rechtspopulisten wurden demnach bis zu 35 Prozent der Stimmen vorhergesagt, gefolgt von der linken NFP klar dahinter auf Platz zwei, mit einem Stimmenanteil von bis zu 29 Prozent. Beim ersten Wahlgang konnte der RN mit 39 Sitzen noch die meisten Sitze direkt sichern – indem die Partei mehr als die Hälfte der Stimmen in einem gegebenen Wahlkreis erhielt. Vor dem zweiten Wahlgang zogen sich jedoch viele Kandidaten und Kandidatinnen der NFP oder von Ensemble, die in der ersten Runde in einem Wahlkreis auf dritter Position gelandet waren, aus dem Rennen zurück, um die Chance des RN zu verringern, sich im zweiten Wahlgang gegen den einzig übrigen Gegenkandidaten durchzusetzen. Aus der für französische Parlamentswahlen hohen Wahlbeteiligung von 67 Prozent lässt sich zudem ablesen, dass viele Wählerinnen und Wähler sich mobilisierten, um einen Wahlsieg des RN zu verhindern.

Als Wahlsiegerin erhält die NFP nur eine relative Mehrheit im Parlament. Deshalb bleibt offen, wie sich das nächste Regierungskabinett zusammensetzen wird. Zahlreiche Mitglieder von Ensemble hatten im Vorhinein der Wahl eine Zusammenarbeit mit La France Insoumise ausgeschlossen. Die linkspopulistische Partei stellt innerhalb des Linksbündnisses NFP allerdings bei weitem die meisten Mitglieder in der neuen Nationalversammlung. Teilweise ist auch die grüne Partei Les Écologistes bei Ensemble umstritten. Ob und wie eine Zusammenarbeit zwischen Ensemble und der NFP funktionieren könnte, bleibt daher unklar.

In einem Brief vom 10. Juli an das französische Volk forderte Präsident Macron "die Gesamtheit der politischen Kräfte, die sich in den republikanischen Institutionen, dem Rechtsstaat, dem Parlamentarismus, einer europäischen Orientierung und der Verteidigung der französischen Unabhängigkeit wiedererkennen," dazu auf, eine Mehrheit zu bilden. Das schließt La France Insoumise implizit aus. Dagegen zeigt das Bündnis NFP bisher eine geschlossene Front. Übergangsweise wird die bisherige Regierung weiterhin das Tagesgeschäft verwalten. Macron bleibt bis 2027 Präsident, voraussichtlich wird seine Präsidentschaft jedoch stark geschwächt, wenn seine Partei nicht länger den Premierminister stellt.

Mehr zum Thema

Weitere Inhalte

Weitere Inhalte

Europawahlen

Wo steht Europa nach der Wahl?

Europa hat gewählt – und die europäische Presse fragt: Was bedeutet der Rechtsruck? Welche Folgen hat der Wahlausgang für die Klima- und Außenpolitik? Und was passiert jetzt in einzelnen Ländern?

Frankreich

Deutsch-französische Beziehungen

Seit den 1950er-Jahren arbeiten Deutschland und Frankreich Hand in Hand im Dienste der europäischen Integration. Nicht nur Politik und Wirtschaft spielen in dieser Beziehung eine wichtige Rolle. Als…

Video Dauer
Erklärfilm

Deutschland und Frankreich: Historischer Rückblick

2013 feierten Frankreich und Deutschland gemeinsam den 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags. Um die Tragweite dieser historischen Vereinbarung zu zeigen, behandelt dieser Film die…

Länderbericht
4,50 €

Länderbericht Frankreich

4,50 €

Der "Länderbericht Frankreich" bietet grundlegende Informationen zu verschiedenen Aspekten der Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und internationalen Beziehungen Frankreichs.

Hintergrund aktuell

Parlamentswahlen in Frankreich 2022

Am 19. Juni fand in Frankreich die Stichwahl der Parlamentswahlen statt. Die Liste des amtierenden Staatspräsidenten Emmanuel Macron wurde dabei stärkste Kraft, verlor aber ihre absolute Mehrheit.

Deine tägliche Dosis Politik

Neuwahlen in Frankreich

Als Reaktion auf die Europawahl hat Frankreichs Präsident Macron das Parlament aufgelöst und Neuwahlen angesetzt.

„Hintergrund Aktuell“ ist ein Angebot der Onlineredaktion der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. Es wird von den Redakteur/-innen und Volontär/-innen der Onlineredaktion der bpb redaktionell verantwortet und seit 2017 zusammen mit dem Südpol-Redaktionsbüro Köster & Vierecke erstellt.

Interner Link: Mehr Informationen zur Redaktion von "Hintergrund aktuell"