Nach der Parlamentswahl in Polen am 15. Oktober 2023 zeichnet sich eine Machtverschiebung ab. Die Wahlbeteiligung erreichte laut Nationaler Wahlkomission einen Spitzenwert mit rund 74 Prozent und ist damit die höchste seit 1989.
Nachwahlbefragungen zufolge bleibt die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość, kurz: PiS) stärkste Kraft im Land. Sie verliert jedoch ihre absolute Mehrheit der Sitze im polnischen Unterhaus, dem Sejm. Laut Externer Link: Nationaler Wahlkommission erhält sie 35,4 Prozent der Stimmen. Zweitstärkste Kraft wurde die „Bürgerkoalition“ (Koalicja Obywatelska, KO) mit Donald Tusk. Sie erreicht nach bisherigem Auszählungsstand 30,7 Prozent. Es folgt das Wahlbündnis „Der Dritte Weg“ (Trzecia Droga, TD) mit 14,4 Prozent der Stimmen. Als viertes Bündnis wird voraussichtlich die „Neue Linke“ (Nowa Lewica) mit 8,6 Prozent ins Unterhaus einziehen, ebenso die „Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit“ (Konfederacja Wolność i Niepodległość, kurz: Konfederacja, KON) mit 7,1 Prozent.
Da keine der Parteien eine absolute Mehrheit erreichte, ist die neue Regierung auf eine Koalition angewiesen. Möglich wäre eine Regierungskoalition bestehend aus der Bürgerplattform, dem Dritten Weg und der Neuen Linken. Damit stünde Polen vor einem Regierungswechsel. Interner Link: Hingegen wird die PiS Schwierigkeiten haben, Koalitionspartner zu finden.
Bei den Wahlen des Senats, Polens zweiter Kammer, haben die Parteien nach dem bisherigen Stand der Auszählungen Externer Link: mit einer ähnlichen Reihenfolge wie im Unterhaus, dem Sejm, abgeschnitten. Externer Link: An dem zeitgleich abgehaltenen Referendum haben sich weniger Menschen als bei der Parlamentswahl beteiligt. Mit einer Beteiligung von 41 Prozent ist das Mindestquorum von 50 Prozent nicht erreicht. Das Ergebnis des Referendums wäre damit nicht bindend.
Bisherige Regierung
Bei der Interner Link: vergangenen Wahl zum Sejm, dem Unterhaus des polnischen Parlaments, erhielt die nationalkonservative Partei PiS Interner Link: im Jahr 2019 insgesamt 43,6 Prozent der Stimmen. Damit verteidigte die PiS ihre absolute Mehrheit und kam auf 235 der 460 Sitze. Sie trat zur Wahl zusammen mit mehreren rechten Kleinparteien als Wahlbündnis „Vereinigte Rechte“ (Zjednoczona Prawica, kurz: ZP) an. Im Senat, dem Oberhaus, verfehlte die PiS mit 48 von 100 Sitzen knapp die Mehrheit von 51 Sitzen.
Ministerpräsident wurde 2017 der frühere Wirtschafts- und Finanzminister Externer Link: Mateusz Morawiecki. Stellvertretender Ministerpräsident wurde Jarosław Kaczyński, der eine bedeutende Rolle im politischen Alltagsgeschäft einnimmt. Kaczyński ist PiS-Vorsitzender und war selbst in den Jahren 2006 und 2007 Ministerpräsident – und gilt als einer der wichtigsten Architekten der rechtsnationalen Regierungspolitik.
Wie wird gewählt?
Die 460 Abgeordneten des Sejm (Unterhaus) werden nach dem Interner Link: Grundsatz des Verhältniswahlrechts bestimmt. Die Parteien stellen in den insgesamt 41 Wahlbezirken Listen auf, jeder Bezirk entsendet zwischen sieben und 20 Abgeordneten. Innerhalb der Bezirke werden die Mandate nach dem D’Hondt-Verfahren vergeben, das tendenziell größere Parteien bevorzugt. Deswegen hat es die PiS etwa bei der Wahl im Jahr 2019 geschafft, mit einem Stimmanteil klar unterhalb der 50-Prozent-Marke eine absolute Mehrheit der Mandate zu erzielen. Die Sperrklausel liegt bei fünf Prozent für Parteien und bei acht Prozent für Wahlbündnisse. Ausgenommen sind die Parteien nationaler Minderheiten: Die deutsche Minderheit in Polen stellte zuletzt einen Abgeordneten im Sejm.
Der Senat (Oberhaus) verfügt über 100 Abgeordnete, die nach dem Interner Link: relativen Mehrheitswahlrecht bestimmt werden. Jedes Gesetz, das den Sejm passiert hat, muss auch dem Senat vorgelegt werden. Dieser kann sich dann binnen einer Frist von 30 Tagen damit befassen. Lehnt der Senat ein Gesetz ab, hat der Sejm die Möglichkeit, das Votum mit absoluter Mehrheit zu überstimmen.
Referendum
Für den 15. Oktober 2023 hatte die PiS-geführte Regierung außerdem ein Referendum mit vier Fragen angesetzt. Diese umfassten unter anderem die Höhe des Renteneintrittsalters und die Reform des EU-Asylrechts. Die Referendumsfragen wurden von Expertinnen und Experten unter anderem wegen suggestiver Formulierungen kritisiert. So lautete etwa eine der Fragen: „Unterstützen Sie die Aufnahme Tausender illegaler Immigranten aus dem Nahen Osten und Afrika gemäß dem von der europäischen Bürokratie auferlegten Zwangsumsiedlungsmechanismus?“. Die Opposition lehnte die Volksabstimmung ab und warf der Regierung Manipulation vor, da die PiS beispielsweise die Referendumsthemen für den eigenen Wahlkampf nutzen könne.
Wer trat zur Wahl an?
Die regierende PiS trat bei den Wahlen erneut als Wahlbündnis Vereinigte Rechte an, das mehrere kleinere nationalkonservative und rechtsextreme Gruppierungen vereint: So zum Beispiel „Souveränes Polen“ (Suwerenna Polska) oder die „Republikanische Partei“ (Partia Republikańska, kurz: PR). Die PiS vertritt konservative, national-klerikale, migrationskritische und EU-skeptische Ansichten. Neben der PiS ist es in den vergangenen Jahren einer weiteren Partei gelungen, sich im rechten Spektrum zu etablieren: der rechtsextremen Konfederacja – ein Zusammenschluss der Parteien „Neue Hoffnung“ (Nowa Nadzieja, kurz: NN) und „Nationale Bewegung“ (Ruch Narodowy, kurz: RN) und anderen kleineren Formationen.
Die wichtigste Oppositionspartei im liberal-konservativen Politikspektrum ist die „Bürgerplattform“ (Platforma Obywatelska, PO). Sie tritt seit 2018 im Wahlbündnis „Bürgerkoalition“ (Koalicja Obywatelska, kurz: KO) unter anderem zusammen mit der Partei „Moderne“ (Nowoczesna) an. Parteivorsitzender der PO ist Donald Tusk, früherer Ministerpräsident und ehemaliger Präsident des Europäischen Rates.
Neben der Bürgerkoalition hatte sich ein weiteres Wahlbündnis gebildet, das liberal-konservative sowie grüne Positionen vertritt: „Der Dritte Weg“ versteht sich als Sammlungsbewegung für jene Wählerinnen und Wähler, die beispielsweise gegen den Kurs der PiS-Regierung sind, aber auch Abstand von den parteipolitischen Konflikten innerhalb der Bürgerkoalition nehmen wollen. Im Kern besteht das Bündnis aus der „Polnischen Volkspartei“ (Polskie Stronnictwo Ludowe, kurz: PSL) und dem bürgerlich-grünen Bündnis "Polen 2050" des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Szymon Hołownia (Polska 2050, kurz: PL2050.)
„Neue Linke“ vereint politische Strömungen, die vom Linksliberalismus bis hin zum demokratischen Sozialismus reichen. Sie trat als Partei an und ist grundsätzlich pro-europäisch.
Was waren die Themen im Wahlkampf?
Der Wahlkampf in Polen war von einer harten ideologischen Auseinandersetzung geprägt. Gesetzt wurden meist Themen, die Interner Link: zum Machterhalt von den regierenden Nationalkonservativen beitragen sollten und der Diskreditierung jedweder Oppositionspolitik dienten. Das Oppositionsbündnis KO warnte gleichzeitig vor einer weiteren Beteiligung von Jarosław Kaczyński an der Regierungsarbeit. Somit herrschte eine eklatante Rivalität zwischen der aktuellen Regierung und der Opposition. Tusk und Kaczyński stehen sich seit zwei Jahrzehnten als politische Rivalen gegenüber. Insgesamt ist Polen politisch tief gespalten.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ist Polen mit einer verstärkten Zuwanderung konfrontiert. Die anfänglich positive Einstellung in der polnischen Bevölkerung gegenüber ukrainischen Geflüchteten wich Interner Link: aktuell aufkommenden Problemlagen: Landwirtinnen und Landwirte leiden beispielsweise darunter, dass Getreideexporte aus der Ukraine, die über Polen in Drittländer transportiert werden sollen, im Land stagnieren – während polnisches Getreide keine Abnahme findet. Im September 2023 wurde ein Verbot für Weizen aus der Ukraine ausgesprochen. Steigende Energiepreise und die hohe Inflationsrate (10,8 Prozent im Juli 2023) sorgten für Unmut in der Bevölkerung. Die Einführung von Kindergeld und Rentenzahlungen wurden mit der Inflation in Zusammenhang gebracht. Darüber hinaus sorgten die verschärften Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch und Interner Link: mehrere Justiz-Reformen für Kontroversen.
Am 1. Oktober 2023 demonstrierten Hunderttausende Menschen gegen die Politik der PiS-Regierung in Warschau. Die Bürgerplattform mobilisierte zu der Kundgebung, die Tusk in seiner Rede unter anderem als „Signal für die Wiedergeburt Polens“ bezeichnete. Für Schlagzeilen sorgte auch ein Skandal um möglicherweise Hunderttausende Visa, die korrupte Beamte der PiS-Regierung illegal an Einwandernde aus Afrika und Asien vergeben haben sollen.