bpb.de: Was sind die Hauptdiskussionspunkte der Justizreform?
Dr. Peter Lintl: Als Hintergrund zu der Debatte muss man zunächst einmal den Gesamtkontext sehen. Israel hat nur eine eingeschränkte Verfassungsrealität mit 13 Grundgesetzen. Seit einem Urteil des Obersten Gerichtshofs im Jahr 1995 sind aber Normenkontrollverfahren möglich. Das heißt, es gibt eine Mini-Verfassung, auf deren Grundlage der Oberste Gerichtshof Gesetze, Regierungs- und Verwaltungshandeln zurückweisen und kritisieren kann. Bereits vorher entwickelte der Gerichtshof Werkzeuge, um das Handeln der Exekutive zu überprüfen. Diese will die Regierung nun de facto abschaffen.
Der Begriff Justizreform ist für das Vorhaben verharmlosend: Spannungen zwischen einem Obersten oder einem Verfassungsgericht und dem Parlament gibt es in fast allen westlichen Demokratien. Es ist nichts Neues, hier an manchen Stellschrauben zu drehen. Unterschiedliche politische Einstellungen und die Frage, wer welche Macht haben sollte, Justiz oder Parlament – solche Prozesse sind ganz normal. Aber das Vorhaben in Israel geht darüber hinaus. Das, was Justizminister Yariv Levin und der Vorsitzende des Justizausschusses der Knesset, Simcha Rothman, vorgelegt haben, läuft im Kern auf eine vollkommene Entmachtung des Obersten Gerichthofs in seiner Kontrollfunktion des Parlaments hinaus.
bpb.de: Könnten Sie detaillierter auf die verfassungsrechtlichen Hintergründe eingehen?
Dr. Peter Lintl: Warum ist der Oberste Gerichtshof so zentral? Er hat diese Bedeutung, weil er die einzige Instanz in Israel ist, die das Parlament im Sinne von „Checks and Balances“ kontrollieren und überprüfen kann. Es gibt kein präsidentielles System mit einem unabhängigen Präsidenten, wie in Frankreich oder in den USA. Es gibt kein Zweikammersystem. Es gibt kein föderales System. Israel ist auch nicht in einen supranationalen Verband wie etwa die Europäische Union eingebunden, die in gewisser Weise Teile der Gesetzgebung erlässt. Es gibt nur den Obersten Gerichtshof, der sowohl das staatliche Handeln Israels als auch dass der Legislative kontrolliert und darauf achtet, dass es Barrieren für die Gesetzgebung gibt. Dies betrifft nicht nur, aber auch Menschenrechtsfragen. Was jetzt vor allem in den ersten Monaten dieses Jahres diskutiert und verhandelt wurde, sind im Wesentlichen drei größere Punkte:
Der Erste ist das Berufungsverfahren für Richterinnen und Richter zum Obersten Gerichtshof. An diesem Verfahren sind nach derzeitigem Stand Vertreterinnen und Vertreter der Regierung, der Opposition, der Anwaltskammer und des Obersten Gerichts selbst beteiligt. Keine dieser Gruppen hatte für sich selbst eine Mehrheit. Sie mussten Kompromisse eingehen, um sicherzustellen, dass solche Besetzungen immer Kompromiss-Richterinnen und Richter sind und keine ideologischen Hardliner für die eine oder andere Seite. So ist es in fast allen Ländern der Welt. Das soll nun geändert werden. Die Justizreform würde bewirken, dass es nur noch Regierungsmehrheiten für das Berufungsverfahren braucht, damit die Regierung ideologisch Gleichgesinnte in das Richteramt bestellen kann. Das stünde dem ursprünglichen Gedanken des Verfahrens entgegen. Zudem sollen die Qualifikationsbedingungen für das Richteramt gesenkt werden. Es könnten auch Quereinsteiger und Quereinsteigerinnen ernannt werden, um schnellstmöglich Leute der Regierung einsetzen zu können. Auch das Senioritätsprinzip, welches besagt, dass die Person, die am längsten am Gerichtshof dient, den Vorsitz übernimmt, soll abgeschafft werden. Das ist deswegen von Relevanz, weil der oder die Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs eine Reihe von Sonderkompetenzen hat, etwa bei Berufungen oder Abberufungen von Richterinnen und Richtern. Dieses Prinzip soll abgeschafft werden, um sicherzustellen, dass ein wohlgesonnener Richter oder eine wohlgesonnene Richterin auch diesen Posten sehr schnell einnehmen könnte.
Der zweite Punkt wird unterschiedlich auf Deutsch übersetzt, vielleicht am besten mit „die Überstimmungsklausel.“ Das ist eine Klausel, die es dem Parlament ermöglichen soll, mit einer einfachen Regierungsmehrheit von 61 zu 120 Stimmen Urteile des Obersten Gerichtshofs zu überstimmen. Eine derartige Überstimmungsklausel gibt es nur einmal weltweit und zwar – eingeschränkt – in Kanada. Darauf verweisen die Verteidigerinnen und Verteidiger der Überstimmungsklausel immer wieder. Diese Klausel ist sehr umstritten, selbst innerhalb der Regierung und bei Teilen ihrer Unterstützerinnen und Unterstützer: Letztlich würde sie bedeuten, dass der Gerichtshof keine Gesetze mehr zurückweisen kann – selbst weitreichende Menschenrechtsverstöße könnten mit einer Mehrheit in Rechtsform gegossen werden.
Allerdings ist auch dieses Vorhaben mittlerweile nicht mehr vollkommen unangefochten. Das hat unterschiedliche Gründe: Auch in der Regierung gibt es unterschiedliche Lager. Für die einen, die Nationalreligiösen, ist das Ernennungsverfahren wichtig. Wichtiger für die Ultraorthodoxen ist aber die Überstimmungsklausel. Ein weiterer Aspekt in diesem Kontext ist auch, dass der Gerichtshof neue Mehrheiten brauchen soll, um Gesetze für ungültig zu erklären. In Zukunft soll es, je nachdem ob man dem Vorschlag von Rothman oder Levin folgen will, entweder elf oder 15 von 15 Richterinnen und Richter brauchen, um ein Gesetz im Rahmen einer Normenkontrollprüfung zurückweisen zu können. Es bräuchte also sehr große Mehrheiten auf Seiten der Richterinnen und Richter. Und selbst wenn dies der Fall wäre, könnte das Parlament ein Gesetz dennoch ablehnen oder durchsetzen.
bpb.de: Und der dritte Aspekt?
Dr. Peter Lintl: Das sind die Rechtsprinzipien und Rechtsgrundlagen, auf denen der Oberste Gerichtshof Urteile sprechen kann. Da werden verschiedene Punkte kritisiert. Es gibt zum Beispiel ein Rechtsprinzip der Angemessenheit. Angemessenheit heißt einerseits: Ist eine Verwaltungshandlung der Sachlage angemessen? Und andererseits, so hat es der Oberste Gerichtshof ausgelegt: Steht sie im größeren verfassungsrechtlichen Kontext? Verletzt sie das „öffentliche Interesse“, werden also Partikularinteressen ohne gute Begründung über das Wohl der Allgemeinheit gestellt? Dieses Rechtsprinzip der Angemessenheit, auf Englisch „reasonableness“, soll komplett abgeschafft werden, sodass Richterinnen und Richter nicht mehr auf dieser Grundlage urteilen dürfen.
Darüber hinaus ist ein rechtlicher Literalismus vorgesehen. Das würde heißen, dass Gesetzestexte nur noch wortwörtlich ausgelegt werden dürfen und die Möglichkeit der Interpretation weitgehend ausbleibt. Es ist ohnehin fraglich, ob dies überhaupt möglich ist, aber es zielt darauf ab, dass der Gerichtshof nicht wie in der Vergangenheit Grundrechte, die im israelischen Gesetz fehlen, aus anderen Grundrechten ableiten kann. Ganz zentral ist hier auch das Prinzip der Gleichheit – ein grundlegender Wert für jede Demokratie. Aber auch andere Werte, wie Redefreiheit, Religionsfreiheit, Freiheit vor der Religion und weitere sind in Israel nicht gesetzlich verankert. Theoretisch könnte die Knesset nach der Reform ein Gesetz verabschieden, das Menschen konkret rechtlich ungleich stellt und der Oberste Gerichtshof könnte nichts dagegen tun.
bpb: Gegen die Pläne für die Justizreform gibt es einen großen Aufruhr in der Bevölkerung: Welche Rolle spielen die Proteste?
Dr. Peter Lintl: Grundsätzlich kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass es vor der Wahl Mehrheiten für eine Reform des Justizwesens gab und das hat eine Reihe von Gründen. Wichtig ist dabei zu berücksichtigen, dass der Oberste Gerichtshof oftmals politisch liberalere Urteile gesprochen hat als es die israelische Gesellschaft ist. Die israelische Gesellschaft wird zunehmend weniger liberal. Das hat mit dem demografischen Wandel und mit Konfliktrealitäten zu tun. Auf jeden Fall gibt es hier eine gewisse Kluft – eine Spannung zwischen einer liberalen, grundgesetzlichen Haltung, die der Oberste Gerichtshof in vielerlei Hinsicht vertreten hat und der politisch-demokratischen Realität in Israel, die andere Mehrheiten bekommt. Auch argumentieren viele, dass gewissen Kompetenzen, die sich der Gerichtshof gegeben hat, besser durch das Parlament legitimiert werden sollten. Denn in Abwesenheit einer Verfassung bleibt das israelische Rechtssystem in vielerlei Hinsicht fragmentarisch. Auch deswegen stimmten viele für eine Reform des Obersten Gerichtshofs.
Was aber die aktuelle Regierung vorgelegt hat, geht weit über eine mehrheitsfähige Reform hinaus. Was wir sehen, ist kein Reformvorschlag, sondern im Prinzip eine Abschaffung des Obersten Gerichtshofs und eine Umstrukturierung, die dem Parlament de facto unbegrenzte Rechte geben würde: Es gäbe keine Möglichkeit mehr, Menschenrechte zu verteidigen. Es gäbe nichts mehr, was die Machtfülle des Parlaments begrenzen und Grundrechte und Minderheitenrechte schützen würde. Und das ist natürlich insbesondere in der aktuellen Situation schwierig, in der wir eine extrem polarisierte Gesellschaft sehen, in der die Unterstützer der Regierung ihre Kritiker oftmals als „Nestbeschmutzer“, als Verräter und weiteres bezeichnen. Grundsätzlich lässt sich der Vorschlag zum Umbau der Justiz mit den Entwicklungen in Ungarn und Polen vergleichen. Diese Reformen wurden von einem ähnlichen Gedanken getragen, den sicherlich auch einige prominente Politikerinnen und Politiker mit explizit antiliberalen Positionen vertreten. Simcha Rothman etwa hat in einem Interview gesagt, dass er sich durchaus vorstellen kann, dass es eine Situation gibt, in der ein Bäcker eine LGBTQI-Person nicht bedient. Das wäre dann keine liberale Demokratie mehr – selbst wenn angemerkt werden muss, dass Israel ohnehin nur eingeschränkt liberal ist, wenn man die Besatzung betrachtet oder auch teilweise den Status der arabisch-palästinensischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Israel.
Aber diese Überlegungen zu einem Regimewandel sind das, was ein breites politisches Spektrum vor allem jüdischer Israelis auf diese Massendemonstrationen strömen lässt. Denn letztlich würden die Prinzipien liberaler Demokratie abgewickelt und das israelische System würde auf eine majoritäre, illiberale Demokratie hinauslaufen. Vielen Menschen macht die Radikalität dieser Gesetzesvorhaben Angst. Vielleicht ist es der israelischen Zivilgesellschaft mit den Protesten gelungen, den „illiberal turn“, auf Deutsch die illiberale Wende zu verhindern. Anders als in Polen, in Ungarn oder auch in weiteren Staaten. Das ist durchaus eine Machtdemonstration der Zivilgesellschaft, bei der ja wochen- und monatelang Zehntausende, lange Zeit Hunderttausende, auf die Straße gingen und gehen, um zu demonstrieren. Schließlich ist es auch so, dass diese Radikalität der Reformvorschläge bzw. dieses Systemumbaus, dafür gesorgt hat, dass die Regierung keine Mehrheit mehr in Umfragen hat, und dass es keine Mehrheiten mehr für diese Pläne gibt. Das hat auch Ministerpräsident Netanjahu gesehen. Daher führt er Verhandlungen mit der Opposition unter Vermittlung des Präsidenten. Aber auch diese Verhandlungen werden derzeit pausiert, nachdem sich Regierung und Opposition nicht auf einen Modus für die anstehende Ernennung von Richterinnen und Richtern zum Obersten Gerichtshof einigen konnten.
bpb: Könnten überhaupt Kompromisse erreicht werden?
Dr. Peter Lintl: Mögliche Kompromisse sind für mich schwer zu sehen, weil die beiden Lager grundlegend auseinander liegen. Die Opposition ist zudem nur bedingt Fürsprecher oder Repräsentant dieser Demonstrantinnen und Demonstranten. Aber die Opposition führt nun mal diese Gespräche und will ein System der Checks and Balances erhalten. Klar, gewisse Anpassungen können gemacht werden, aber die Regierungsvorschläge wollen das System ja gerade nicht erhalten – sie wollen es abschaffen. Grundsätzlich kann ich mir keine substanziellen Kompromisse vorstellen, sondern eigentlich nur, dass sich eine Seite entweder durchsetzt oder nicht durchsetzt. Oder umgekehrt: Sollte hier ein Kompromiss beim Präsidenten Izchak Herzog verhandelt werden bzw. sollten diese Verhandlungsparteien zu einem Kompromiss kommen, würde es darauf hinauslaufen müssen, dass die Opposition mit so einem Kompromiss leben kann. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Vorschlag, der mit den Vorstellungen der Opposition einhergeht in der Regierungskoalition eine Mehrheit finden würde.
Von daher gibt es einfach grundlegend unterschiedliche Ausgangspunkte und Zielvorstellungen. Es gibt ja auch innerhalb der Regierung unterschiedliche Lager. Für Netanjahu ist es derzeit politisch am besten, wenn diese Justizreform weit weg ist, aber auch nicht ganz verschwindet. Denn einerseits gibt es in seiner Koalition diejenigen Stimmen, die unbedingt auf das Vorhaben setzen. Das heißt, er kann sie nicht komplett abschießen. Gleichzeitig kann er die Reform auch nicht verabschieden, weil dann in der Konsequenz das ganze Land wieder aufsteht, um zu demonstrieren. Das heißt, dieser „Limbo-Status“, der derzeit in den Verhandlungen stattfindet, ist eigentlich politisch gesehen das Beste für Netanjahu. Er kann auf die Verhandlungen zeigen und sagen: Wir reden darüber, wir entscheiden aber nichts. Da kann ich mir vorstellen, dass das noch eine Weile andauert.
Dabei gibt es allerdings auch in dieser Taktik Sollbruchstellen, sobald konkrete Entscheidungen getroffen werden müssen. Dazu kam es etwa letzte Woche, als das Berufungskomitee für die Nachfolge von Richterinnen und Richtern einberufen werden sollte, da im Herbst zwei Stellen am Gericht frei werden. Nachdem sich Regierung und Opposition nicht einigen konnten, verschob die Regierung diese Entscheidung um vier Wochen. Die Opposition sah damit die Verhandlungsgrundlagen kompromittiert und pausierte die Verhandlungen, bis darüber eine Entscheidung getroffen wurde. Umgekehrt ist Netanyahu von Teilen seiner Regierung weiter unter Druck geraten und hat jetzt angekündigt, einige Elemente der Reform doch verabschieden zu wollen. Ob das nur ein Spiel auf Zeit ist, wird man sehen.
bpb: Was ist Ihre persönliche Einschätzung der aktuellen Lage? Handelt es sich um einen kritischen Punkt in Bezug auf den "illiberal turn"?
Dr. Peter Lintl: Die Lage ist aktuell wieder brenzliger geworden. Zwar sind die Demonstrationen enorm erfolgreich gewesen: Das Gesamtpaket ist zunächst einmal vom Tisch. Aber da es für beide Seiten in dieser Situation keine zufriedenstellende Lösung gibt, nicht einmal für alle in Netanyahus Regierung, bleibt die Situation extrem volatil. Für Netanyahu wird das Überleben der Regierung im Vordergrund stehen: Welche Seite verlangt was und wo sind Mehrheiten, wo Verzögerungen möglich? Was wir derzeit sehen ist eine Art Salamitaktik, wo scheibchenweise einzelne Elemente des Justizumbaus auf den Tisch kommen und verhandelt werden. Aber auch die einzelnen Änderungen, wie derzeit die Abschaffung des Prinzips der Angemessenheit, sind radikal. Der Druck auf die Regierung bleibt groß, sowohl von innerhalb wie außerhalb. Das heißt, die Situation ist derzeit enorm unübersichtlich. Die Gefahren von weitreichenden Änderungen des israelischen politischen Systems sind noch nicht abgewendet.
Herr Dr. Lintl, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview wurde am 5. Juni 2023 geführt und am 27. Juni 2023 autorisiert.