Warum ist der Bundestag so groß geworden?
Deutschland ist mit aktuell 733 Sitzen im Bundestag unter den demokratischen Staaten weltweit das Land mit dem größten frei gewählten Parlament. Auch in den vorigen Legislaturperioden war das Parlament deutlich größer als die damals gesetzlich angestrebte Größe von 598. Der Grund sind sogenannte Interner Link: Überhangmandate und Interner Link: Ausgleichsmandate.
Erststimme, Zweitstimme und Überhangmandate
Die Wahl zum Deutschen Bundestag findet als personalisierte Verhältniswahl statt. Mit der Erststimme wählt man einen Kandidaten oder eine Kandidatin direkt aus seinem Wahlkreis – wer die meisten Stimmen bekommt, gewinnt, und der Rest geht leer aus. Bis zur Reform von 2023 zog die Person, die einen Wahlkreis gewonnen hatte, automatisch in den Bundestag ein. Mit diesen Direktmandaten sollte im alten Wahlrecht theoretisch die Hälfte der Abgeordneten in den Bundestag einziehen. Mit der Zweitstimme entscheiden sich die Wahlberechtigten für die Landesliste einer Partei. Es ist die Zweitstimme, die darüber entscheidet, wie viele der Sitze im Bundestag jeweils einer Partei zustehen. Sogenannte Überhangmandate konnten bis zur Reform von 2023 dadurch entstehen, dass eine Partei in einem Bundesland über die Erststimme mehr Direktmandate erhielt, als ihr eigentlich über die Landesliste aufgrund ihres Zweitstimmenergebnisses zugestanden hätten. Dieser „Überhang“ an Abgeordneten konnte in der Vergangenheit dazu führen, dass die Zusammensetzung des Bundestages deutlich vom Zweitstimmenergebnis abwich. 2005 gab es etwa 16 solcher Überhangmandate, 2009 gar 24.
Wahlrechtsreform 2013 und Ausgleichsmandate
2012 erklärte das Bundesverfassungsgericht das damals bestehende Wahlrecht für verfassungswidrig, weil die vielen Überhangmandate dem "Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl" widersprächen. Das Bundesverfassungsgericht urteilte aufgrund der deutlichen Abweichungen vom Zweitstimmenergebnis, dass künftig nicht mehr „als etwa eine halbe Fraktionsstärke“ ausgleichsloser Überhangmandate anfallen dürften, welches bei 598 Abgeordneten 15 Mandate wären.
Der Bundestag reformierte daraufhin 2013 das Wahlrecht umfassend. Überhangmandate blieben zwar weiterhin erhalten, wurden aber bei den folgenden beiden Wahlen durch weitere Sitze für die anderen im Bundestag vertretenen Parteien ausgeglichen – durch sogenannte Ausgleichsmandate. Die Sitzverteilung bildete 2013 und 2017 somit das Ergebnis der Zweitstimmen wieder ab. Beim Urnengang 2017 stieg die Größe des Bundestags als Folge der Überhang- und Ausgleichsmandate erstmals auf über 700 Abgeordnete.
Wahlrechtsreform 2020
Mit einer 2020 beschlossenen Reform wollte die damalige Bundesregierung aus Interner Link: CDU/Interner Link: CSU und Interner Link: SPD den Bundestag verkleinern. Bis zu drei Überhangmandate wurden bei der Wahl 2021 deshalb nicht mehr ausgeglichen. Das Ziel einer Verkleinerung des Parlaments wurde jedoch verfehlt. Ein wesentlicher Grund für das Anwachsen des Bundestags auf 736 Sitze bei der Wahl 2021 war die große Zahl an Ausgleichsmandaten für fast ein Dutzend Überhangmandate der CSU.
Gegen diese Reform von 2020 klagten die Bundestagsfraktionen von Interner Link: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Interner Link: DIE LINKE und Interner Link: FDP beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Externer Link: Ende November 2023 erklärte das Gericht die bereits nicht mehr geltende Reform von 2020 für verfassungsgemäß.
Warum gilt ein sehr großer Bundestag als problematisch?
Dass das Parlament in den letzten Jahren auf diese Größe angewachsen ist, bringt zum einen höhere Kosten mit sich. 2024 waren etwa 250 Millionen Euro mehr für den Bundestag eingeplant als dies noch 2019 der Fall war. Zum anderen merkten Abgeordnete an, dass mit einer sehr großen Zahl an Volksvertretern der Abstimmungsaufwand steige und die Effektivität der parlamentarischen Arbeit sinke, beispielsweise in den Arbeitsgruppen und Ausschüssen.
Was sieht die aktuelle Reform der Ampelkoalition vor?
Die ab Ende 2021 bis Ende 2024 regierende Koalition aus SPD, GRÜNEN und FDP hatte sich das Ziel gesetzt, die Zahl der Abgeordneten im Bundestag dauerhaft auf 630 festzulegen. Externer Link: Am 17. März 2023 beschloss der Bundestag mit den Stimmen der drei Parteien diese weitere Reform des Wahlrechts. Jede Partei soll künftig nur noch so viele Sitze erhalten, wie ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Das Verhältniswahlrecht soll so gestärkt werden.
Falls eine Partei über die Erststimmen mehr Wahlkreise gewinnt, als ihr gemessen am Zweitstimmenergebnis an Sitzen zustehen, sollen die Wahlkreissieger mit den schlechtesten Wahlergebnissen leer ausgehen („Zweitstimmendeckung“). Wer einen Wahlkreis für sich entscheidet, zieht demnach nicht mehr automatisch in den Bundestag ein. Durch die Streichung der Überhangmandate fallen auch die Ausgleichsmandate weg.
Die Reform sah auch den Wegfall der Grundmandatsklausel vor. Dieser zufolge werden bei der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten der Parteien auch Gruppierungen berücksichtigt, die zwar die Fünfprozenthürde nicht überwunden, aber bundesweit mindestens drei Direktmandate gewonnen haben. Von der Sperrklausel befreit sollten nur noch Parteien nationaler Minderheiten sein, beispielsweise der Interner Link: Südschleswigsche Wählerverband (SSW) als Vertretung der dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe. Der Wegfall der Grundmandatsklausel wurde jedoch vom Bundesverfassungsgericht gekippt (siehe unten).
Ursprünglich wollte die Bundesregierung die Zahl der Abgeordneten durch die Reform auf 598 reduzieren, letztlich einigten sich SPD, GRÜNE und Liberale jedoch auf 630 Sitze – so soll das Risiko, dass einzelne Wahlkreise durch keinen Abgeordneten mehr im Bundestag vertreten werden, verringert werden.
Auf welcher juristischen Grundlage basieren die Änderungen des Wahlrechts?
Das Grundgesetz gibt zwar die für die Bundestagswahl allgemein gültigen Wahlrechtsgrundsätze vor, um den demokratischen Charakter der Wahl zu gewährleisten. Zu diesen Grundsätzen zählen etwa Unmittelbarkeit, Freiheit und Gleichheit der Wahl. Die weiteren Interner Link: rechtlichen Grundlagen für die Wahl sind aber im Parteiengesetz (PartG), der Bundeswahlordnung (BWO) und insbesondere im Bundeswahlgesetz (BWahlG) festgelegt. Dabei steht dem Gesetzgeber laut Bundesverfassungsgericht offen, ob er die Bundestagswahl als Mehrheits- oder Verhältniswahl abhält. Für die Änderung des Wahlgesetzes genügt in Deutschland eine einfache Mehrheit im Bundestag.
Welche Kontroversen gibt es um die Wahlrechtsreform?
Die Sorge, dass bestimmte Wahlkreise künftig nicht mehr durch einen direkt gewählten Abgeordneten im Parlament vertreten sein werden, ist einer der Hauptkritikpunkte an dem neuen Gesetz.
Vor allem bei CDU/CSU und der LINKEN stößt das Gesetz auf massive Ablehnung. CDU und CSU werfen der Bundesregierung vor, das neue Wahlrecht richte sich vor allem gegen die CSU, die bei der Wahl 2021 zahlreiche Überhangmandate erringen konnte. Weil sie fast alle bayerischen Wahlkreise für sich entschied, erhielt die CSU am Ende elf Sitze mehr, als ihr aufgrund des Zweitstimmenergebnisses eigentlich zugestanden hätten. Drei dieser Mandate wurden nicht ausgeglichen, weshalb die nur in Bayern antretende Partei im Verhältnis zu ihrem Zweitstimmenergebnis im Bundestag überrepräsentiert war.
Auch das Wegfallen der Grundmandatsklausel wurde kritisiert. Aus Sicht der LINKEN war die Streichung der Grundmandatsklausel für sie existenzgefährdend. Von dieser Regelung, nach der eine Partei, die mindestens drei Wahlkreise gewinnt, in Fraktionsstärke in den Bundestag einziehen kann, hatte DIE LINKE bereits zweimal profitiert. 2021 wäre sie sonst mit 4,9 Prozent der Stimmen an der Fünfprozenthürde gescheitert. 1994 griff die Regelung bei der Vorgängerpartei PDS. Zahlreiche Wahlberechtigte in ostdeutschen Bundesländern und Bayern würden durch die Regelung ausgegrenzt, so ein Vorwurf aus beiden Parteien in Richtung Bundesregierung.
Gegner des Gesetzes fürchten auch, dass insbesondere Wahlkreise in Großstädten, in denen Wahlkreiskandidaten mitunter mit relativ wenigen Erststimmen Wahlkreise für sich entscheiden, aufgrund der Zweitstimmendeckung künftig nicht im Bundestag vertreten sein könnten.
Manche Juristinnen und Juristen halten diese Angst jedoch für unbegründet. Der Göttinger Jura-Professor Florian Meinel etwa sagte Anfang Februar 2023 bei einer Anhörung im Innenausschuss des Bundestags, die Kritik verfange nicht, weil "knappere Stadtwahlkreise, die das betreffen würde, auf den Listen statistisch besser vertreten" seien. Auch halte er das Parteiensystem für hinreichend anpassungsfähig, um bei der Listenaufstellung zu berücksichtigen, welche Wahlkreiskandidaten man an aussichtsreicher Stelle platzieren sollte.
Wie urteilte das Bundesverfassungsgericht über die Wahlrechtsreform?
Gegen die 2023 beschlossene Wahlrechtsreform klagten u.a. die bayerische Staatsregierung, 195 Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die CSU und DIE LINKE vor dem Bundesverfassungsgericht. Externer Link: Ende Juli 2024 erklärte das Gericht die Reform für teilweise verfassungswidrig.
Den Umstand, dass unter dem neuen Wahlrecht nicht zwingend alle direkt gewählten Kandidatinnen und Kandidaten in den Bundestag einziehen, hielt das Bundesverfassungsgericht für vereinbar mit dem Grundgesetz. Eine Fünf-Prozent-Hürde ohne Ausnahmen, wie es sie durch den Wegfall der Externer Link: Grundmandatsklausel gegeben hätte, sei hingegen verfassungswidrig. Denn das Ziel der Fünf-Prozent-Hürde, eine Zersplitterung des Parlaments zu verhindern, müsse gegen den Umstand abgewogen werden, dass alle Stimmen für Parteien unter fünf Prozent unberücksichtigt blieben. Daher dürfe die Sicherung der Arbeitsfähigkeit des Parlaments durch eine solche Hürde nicht über das erforderliche Maß hinaus gehen. Das Bundesverfassungsgericht hat deswegen angeordnet, dass die Grundmandatsklausel bis zu einer Neuregelung weiter gilt. Die vorgezogene Bundestagswahl im Februar 2025 findet daher nach dem neuen Wahlrecht, aber mit weiter geltender Grundmandatsklausel, statt.
Hinweis der Redaktion: Dieser Text wurde am 24.01.2025 aktualisiert, um die Urteile zu den Wahlrechtsreformen von 2020 und 2023 berücksichtigen zu können.
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