bpb.de: Bei den schweren Erdbeben in der Türkei und Syrien starben bis Mitte Februar weit über 40.000 Menschen. Wie ist die Situation der Überlebenden?
Günter Seufert: Die Situation in der Türkei ist schlimm. Viele haben ihr Obdach verloren. Nicht wenige Menschen aus der Region versuchen in anderen Landesteilen Zuflucht zu finden – etwa bei Freunden oder Verwandten. Die Regierung will die Menschen irgendwie unterbringen. Studenten werden verpflichtet, Wohnheime zu verlassen, manche Hotels müssen Erdbebenopfer aufnehmen. So schlimm die Situation auch ist – immerhin gibt es in der Türkei überhaupt Unterstützung für die Menschen. In Syrien ist die Lage weit katastrophaler. Denn dort kommen deutlich weniger Hilfen an.
Bleiben wir zunächst bei der Türkei, die den weit überwiegenden Teil der Todesopfer verzeichnete. Die Opposition und Überlebende kritisieren, es gebe zu wenige Hilfen. Auch würden diese nur schleppend laufen. Was ist dran an den Vorwürfen?
Zwar wurde der AFAD, das türkische Technische Hilfswerk, nach dem großen Beben von Gölcük, östlich von Istanbul 1999 in der Türkei ausgebaut. Anderseits wurde das Budget dieser Behörde in den vergangenen Jahren wieder zurückgefahren. Zudem gibt es zahlreiche Berichte darüber, dass Hilfslieferungen von Nichtregierungsorganisationen nach dem aktuellen Beben von den Behörden verhindert oder zumindest erschwert wurden.
Wie sehen die Behinderungen konkret aus?
Der Schauspieler und Musiker Haluk Levent, dessen Organisation sehr viel Geld für die Opfer sammelte, wurde öffentlich angegriffen. Der Vorwurf: Er untergrabe die Autorität des türkischen Staats. Er wurde gezwungen, zu Spenden für die staatlichen Stellen aufzurufen. Spenden von Kommunen, die von der Opposition regiert werden, mussten umdeklariert werden zu Spenden der Regierungspartei oder der Regierung – sonst hätten die Helfer mit diesen nicht in die betroffenen Regionen fahren dürfen. Der ehemalige Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu berichtete, dass 100 Lkw mit Hilfsgütern seiner "Zukunftspartei" nicht in die Region gelassen und die Ladung in Depots gebracht wurde. Ich habe den Eindruck, dass die Regierung versucht, ihre Schwachstellen und die eigene Verantwortung zu verdecken, indem sie alternative Hilfen einschränkt oder zu ihren eigenen umetikettiert.
Für die Erdbebenvorsorge gedachte Mittel wie eine Erdbebensteuer sollen zweckentfremdet worden sein. Eine Reihe von Anträgen der Opposition, die Erdbebensicherung voranzutreiben, wurde von der Regierungsmehrheit im Parlament abgelehnt. Zugleich hat Erdoğan eine Amnestie für fehlerhafte Bauten verkündet. Hat die Regierung das Land schlecht auf ein großes Beben vorbereitet?
Definitiv ja. Etwa 70 Prozent des türkischen Territoriums sind erdbebengefährdet. Es kommt alle drei, vier Jahre zu schweren Beben. Und Sie sprechen die Amnestie an. Das ist schlicht unglaublich. Fehlerhaft gebaute Wohngebäude, die den Bauvorschriften nicht genüge tun, wurden dadurch im Nachhinein amnestiert und durften in der Folge dann bewohnt werden. Erdoğan hat sich sogar noch vor zwei Jahren mit diesen Amnestien gebrüstet, die geholfen hätten, die Wohnungsnot zu mildern. In der Stadt İskenderun in der Provinz Hatay, die von den Erbeben sehr schwer betroffen ist, wurde aufgrund dieser Amnestie die Einstufung ganzer Stadtteile als Risikogebiete zurückgenommen. So konnte dort wieder gebaut und mit Immobilien spekuliert werden. Generell ist es so, dass viele der Bauvorschriften in der Türkei nur auf dem Papier stehen. Es gibt keine effektiven Kontrollen der Vorschriften, was aber nicht nur an der Regierung, sondern auch an den örtlichen Kommunen liegt.
Welche Rolle spielt Korruption?
Korruption ist in der Türkei allgegenwärtig. Das fängt bei der Regierung an. Sie bedient sich intransparenter Verfahren bei der Ausschreibung von Großprojekten wie etwa Flughäfen, Autobahnen, oder Tunneln. Das türkische Ausschreibungsrecht ist vollkommen durchlöchert mit Ausnahmeregelungen, die intransparente Verfahren ermöglichen. Die Kultur der Korruption zieht sich herunter bis hinein in die Kommunen und ist bei einem großen Teil der Bevölkerung verankert. Viele Menschen wissen genau, dass sie, wenn sie Bestechungsgelder zahlen, weniger in die Gebäudesicherheit investieren müssen.
Ein Blick nach Syrien. Wie stand es dort angesichts des verheerenden Bürgerkriegs um den Erdbebenschutz? Wie groß ist die Schuld der Assad-Regierung?
Syrien war schlecht vorbereitet auf das Erbeben. Doch inwieweit hier die Verantwortung bei der Zentralregierung liegt, ist schwer zu sagen. Das Land ist mittlerweile seit mehr zwölf Jahren in einen Bürgerkrieg verstrickt. Die Regierung in Damaskus kontrolliert nur Teile des Landes. Andere Teile werden von dschihadistischen Gruppen kontrolliert, ein Teil Nordsyriens ist unter kurdischer Selbstverwaltung und es gibt drei Exklaven unter türkischer Herrschaft.
Trotz der Erdbeben bombardierte Ankara zuletzt offenbar weiter Kurdengebiete in Nord-Syrien. Was verspricht sich die türkische Regierung davon?
Es sieht so aus, als ob da Pläne zur Schwächung der kurdischen Autonomiebestrebungen einfach weiter vorangetrieben wurden, obwohl sich die Situation vor Ort vollkommen gewandelt hat. Wir haben in der Türkei mittlerweile ein äußerst zentralistisches Staatswesen mit einem Präsidenten, der alles allein entscheidet und dessen Kompetenzen keine Grenzen haben. Vermutlich hatte Erdoğan, weil er durch die Folgen des Erdbebens so eingespannt war, keine Zeit mehr, die einmal gegebene Order für Luftangriffe zurückzunehmen. Anders kann ich mir die Bombardements nicht erklären. Ziel solcher Luftschläge war es in der Regel der Bevölkerung zu zeigen, dass man keinen kurdischen Separatismus und keine kurdische Selbstverwaltung duldet. Doch beides geht diesmal ins Leere, da die Bevölkerung wegen des Erdbebens derzeit andere Sorgen hat.
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Am 6. Februar erschütterten schwere Erdbeben Teile der Türkei und Syriens. Zunächst hatte ein Beben der Stärke 7,7 die Südosttürkei erschüttert, Stunden später folgte ein zweites schweres Beben der Stärke 7,6. Mehr als 47.000 Tote wurden bislang insgesamt gefunden. Laut der staatlichen Katastrophenschutzbehörde Afad sind bis zum 20. Februar mindestens 41.156 Menschen in der Türkei im Zusammenhang mit den Beben umgekommen, in Syrien kamen Berichten zufolge rund 5.900 Menschen ums Leben. Allein in der Türkei sind nach Angaben des Ministers für Stadtplanung, Murat Kurum, rund 84.000 Gebäude eingestürzt oder stark beschädigt (Stand: 17.2.). In Syrien wurden ebenfalls Tausende Häuser zerstört, insbesondere dort ist die Versorgung der von der Naturkatstrophe Betroffenen besonders schlecht.
Türkische Behörden versuchten offenbar die aufkommende Kritik an der Regierung in den Sozialen Medien zu unterdrücken. Mit Erfolg?
Ich bezweifele, dass die türkische Regierung die Kritik in den Sozialen Medien erfolgreich unterdrücken kann. 80 Prozent der erwachsenen Türken verfügen über ein Smartphone. Die Szene an kritischen Bloggern ist sehr lebendig. Sie lässt sich nicht kontrollieren. Ich denke, die türkische Bevölkerung hat ein realistisches Bild über die tatsächliche Lage in den Erdbebenregionen. Allerdings wurden zuletzt Journalisten festgenommen, weil sie angeblich Teile der Bevölkerung gegeneinander aufgehetzt oder Falschnachrichten verbreitet hätten.
Wie ist die innenpolitische Stimmung in der Türkei nur drei Monaten vor den nächsten Wahlen?
Die Erschütterung der Bevölkerung ist groß. Die Stimmung wandelt sich langsam in Richtung Wut. In weiten Teilen der vom Erdbeben besonders betroffenen Regionen leben, mit Ausnahme der Stadt Antakya, Stammwähler der AKP. Dass die Erdbebenvorsorge mangelhaft war, und dass die Regierung bei vielen Rettungsmaßnahmen vor allem auf ihr eigenes Image statt auf eine effektive Katastrophenhilfe geachtet hat, macht es Erdoğan meines Erachtens unmöglich, sich als Krisenmanager zu stilisieren.
Könnte es passieren, dass Erdoğan sowie die aktuell in einem Rechtsbündnis regierende AKP nach zwei Jahrzehnten abgewählt werden?
Schon seit einiger Zeit haben die Regierungspartei und ihre Verbündeten in Umfragen ständig an Zustimmung verloren. Sie haben noch einen festen Sockel an Wählern von gut 40 Prozent. Aber das reicht nicht für eine neue Mehrheit. Bereits vor dem Erdbeben hatte die Opposition eine realistische Chance, die nächsten Wahlen zu gewinnen – vor allem wegen der explodierenden Inflation und der hohen Jugendarbeitslosigkeit. Lange war es allerdings die große Frage, ob sich die doch sehr unterschiedlich ausgerichtete Opposition auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen kann, der gegen Erdoğan bei der Präsidentschaftswahl antritt. Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu von der kemalistischen CHP lag in Umfragen deutlich vor Erdoğan. Jetzt, wo sich der türkische Staat bei der Erdbebenhilfe als nicht wirksam organisiert gezeigt hat, haben sich die Siegeschancen der Opposition noch einmal deutlich erhöht – sowohl für die Präsidentschafts-, als auch die Parlamentswahl. Deshalb wurde nun im Regierungslager die Forderung laut, die Wahl um etwa ein Jahr zu verschieben.
Wie realistisch ist eine Wahlverschiebung? Denn die türkische Verfassung deckt einen solchen Schritt ja nur im Fall eines Krieges.
Das stimmt. Ich halte eine Verschiebung aber dennoch für möglich. Denn die türkische Regierung hält sich ja auch in anderen Fragen nicht an die Verfassung. So dürfte Herr Erdoğan eigentlich kein drittes Mal für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren, was er aber dennoch tut. Auch anderweitig geht die Regierung locker mit der Verfassung um. Wenn eine Mehrheit im Parlament eine weitere Wahlverschiebung beschließt oder der hohe Wahlrat einen solchen Schritt tut, ist dies ein Verfassungsbruch – es gibt jedoch keine Möglichkeit, eine solche Entscheidung von einem Gericht überprüfen zu lassen.
Noch einmal zu den direkten Folgen des Erdbebens. Tut die internationale Staatengemeinschaft genug, um die humanitäre Lage in beiden Ländern zu verbessern?
Ich denke, was wir gesehen haben, ist gerade mit Bezug auf die Türkei eine sehr große Hilfsbereitschaft vieler Staaten – und zwar auch von solchen, die eigentlich keine leichte Beziehung zu dem Land haben. So half Griechenland als eines der ersten Länder, und die Hilfe aus Israel ist vom Umfang her eine der größten. Selbst die Republik Zypern, die von der Türkei nicht einmal anerkannt wird, schickte Rettungstrupps. Und natürlich kam viel Hilfe und Solidarität aus den EU-Staaten. Von dort fließt auch viel Geld. Ganz anders sieht es in Syrien aus. Zum einen liegt die mediale Aufmerksamkeit primär auf der Türkei. Zum anderen müssen die Hilfen dort über die Vereinten Nationen laufen. Und die müssen sich dafür mit dem Assad-Regime arrangieren, was nicht leicht ist. Hinzu kommt, dass sich die Türkei zumindest in den ersten Tagen geweigert hat, Grenzübergänge zu öffnen, über die Hilfen ins Land gebracht werden können.
Können die internationale Solidarität und Hilfeleistungen außenpolitisch nachhaltig etwas bewirken?
Auf die Türkei entfällt etwa 1 Prozent der Weltbevölkerung und etwa 1 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Sie hat aber in den vergangenen Jahren eine Politik gemacht, als wäre sie eine Großmacht. Sie hat in Syrien und dem Irak militärisch interveniert. Sie hat Stützpunkte bis nach Somalia. Das türkische Militär ist in Libyen und Aserbaidschan aktiv. Das war eine Überdehnung der Macht. Zugleich hat sich die Regierung gegenüber Griechenland sehr aggressiv verhalten. Sofort nach dem Erdbeben hat Ankara dann aber ganz andere Töne angeschlagen, etwa von der "türkisch-griechischen Freundschaft" gesprochen. Ich denke, die politische Klasse in der Türkei hat realisiert, dass sie die bisherige Politik nicht fortsetzen kann. Die meisten Hilfen kommen derzeit aus der EU und von dort wird wohl auch die meiste längerfristige finanzielle Wiederaufbauhilfe kommen. Die Türkei wird ihren Ton mäßigen und wieder auf die EU und ihre Nachbarn zugehen. Aufgrund der autoritären Verhältnisse in der Türkei ist eine dauerhafte Verbesserung des Verhältnisses mit der EU aber wohl nur mit einer neuen Regierung möglich.
Herr Dr. Seufert, haben Sie vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview wurde am 17.2. geführt und am 20.2. autorisiert.