bpb.de: Der WM-Ausrichter Katar ist ein autoritärer Staat und die Menschenrechtssituation im Land problematisch. Darf man sich als Fußball-Fan auf die WM freuen oder sollte man sie lieber boykottieren?
Ronny Blaschke: Natürlich darf man sich als Fußball-Fan auf die WM freuen. Aber man sollte die WM in
bpb.de: Im vergangenen Jahr berichtete die britische Zeitung "Guardian", dass allein bis Mitte 2020 mehr als 6500 Gastarbeiter beim Bau der Stadien gestorben seien. Menschenrechtsorganisationen fordern bislang erfolglos Entschädigungszahlungen.
Blaschke: Wir wissen nicht, wie viele Menschen gestorben sind und auch nicht, woran sie gestorben sind. Das ist ein Problem bei der Debatte. Katar verweigert die Herausgabe von Informationen und lehnt auch Obduktionen ab. Klar ist: Es arbeiten insgesamt mehr als zwei Millionen Gastarbeiter aus Südostasien in Katar. Und natürlich ist jeder Toter einer zu viel.
Es gibt die Forderung nach einem Entschädigungsfonds von 440 Millionen Dollar. Ich weiß allerdings nicht, wie ein solcher in der Praxis umgesetzt werden soll. Denn es fehlen viele notwendige Informationen über Betroffene und deren Familien. Die
bpb.de: Hat die anstehende WM die Situation der Gastarbeiter in Katar verbessert?
Blaschke: Auf dem Papier schon. Es gibt für sie nun Möglichkeiten, sich zu beschweren, den Job zu wechseln oder leichter auszureisen. Dennoch dokumentieren Menschenrechtsorganisationen immer noch Lohnraub, Übergriffe und Einschüchterungen – auch werden Unterkünfte überwacht. Es fehlen Gewerkschaften und freie Medien in dem Land. Da bringen die besten Reformen nur eingeschränkte Erfolge.
Hinzu kommt: Etwa 50.000 der rund 300.000 einheimischen Katarer sollen entfernt verwandt sein mit der Herrscherfamilie. Da lässt man sich nicht einfach sanktionieren für Fehlverhalten gegenüber den Angestellten. Zudem scheuen viele Gastarbeiter juristische Auseinandersetzungen, weil sie Angst haben ausgewiesen zu werden und dann kein Geld mehr zu verdienen, das ihre Familien aber dringend brauchen. Viele Haushalte sind abhängig von Überweisungen aus den Golfstaaten. Man spielt auch mit der Angst der Arbeiter.
bpb.de: Die Fifa hat Katar kürzlich für angebliche Verbesserungen der Menschenrechtssituation gelobt. Haben die WM und die Berichterstattung darüber hier tatsächlich eine positive Wirkung entfaltet?
Blaschke: Dass wir überhaupt so intensiv über Katar sprechen und, dass es dort jetzt ein Büro der Internationalen Arbeitsorganisation
bpb.de: Die Fifa wirbt: "Nachhaltigkeit stand von Anfang an im Zentrum der FIFA Fußball-Weltmeisterschaft Katar 2022." Doch kann eine WM, bei der Stadien neu gebaut werden und dann voraussichtlich viele Jahre lang weitgehend leer stehen, nachhaltig sein?
Blaschke: Einige Stadien werden wieder zurückgebaut und eines soll sogar komplett abgetragen werden. Angeblich soll es laut Fifa die nachhaltigste WM überhaupt sein. Aber es gibt Kritikpunkte: Katar hat bislang fast nichts für erneuerbare Energien getan. Und es gibt zwar nun eine Metro, aber die wird von den Menschen kaum genutzt. Das Bewusstsein für die Klimakrise ist bei den Entscheidungsträgern im Land noch nicht vorhanden. So müssen die Kataris fast nichts für Gas und Strom bezahlen.
Dabei sind die Folgen der Klimakrise für die arabische Halbinsel dramatisch: Diese könnte Ende des 21. Jahrhunderts unbewohnbar sein. Aber vielleicht kann die WM in dieser Frage eine Diskussion im Land anstoßen. Wenn nun viele Touristen kommen, wird womöglich auch über diese Themen gesprochen.
bpb.de: Kommen wir noch einmal zu den Menschenrechten. In Katar droht Menschen, die mit Menschen desselben Geschlechts Sex haben, Auspeitschen und Gefängnisstrafen. Doch die Fifa sagt, jeder könne zur WM reisen. Wird Katar während der WM offener sein und anschließend wieder repressiver werden?
Blaschke: In Russland war das so während der
bpb.de: Wie steht es um die Rechte von Frauen?
Blaschke: Katar sagt von sich, man sei das Land der starken Frauen und verweist auf Frauen in Führungspositionen. 70 Prozent der Studierenden in der Education City, einem riesigen Campus am Rande von Doha, sind weiblich. Aber Fakt ist auch: Frauen müssen für etliche Dinge erst einen männlichen Vormund befragen, wenn sie etwa im Ausland studieren oder für den Staat arbeiten oder auch nur zum Gynäkologen wollen.
bpb.de: Kritiker sagen, Katar wolle die WM als Plattform für politische Propaganda nutzen. So verschenkt das Regime laut Medienberichten Reisen nach Katar samt Freikarten an Fans, wenn diese sich dazu verpflichten, positiv in den sozialen Medien zu berichten. Könnte der Plan aufgehen?
Blaschke: Auch andere Staaten, die Sportgroßveranstaltungen ausgerichtet haben, haben sehr viel Geld für Lobbyisten ausgegeben. Natürlich sind gerade PR-Agenturen aktiv. Aber es werden ja auch viele kritische Journalisten in das Land einreisen. Was mich mehr erstaunt ist, dass in Demokratien wie Japan, Südkorea und Indien, die sehr viel Gas aus Katar beziehen, fast gar nicht über Menschenrechtsverletzungen diskutiert wird.
In den USA wird ebenfalls nicht sonderlich ausgeprägt über die katarische Menschenrechtslage gesprochen. Wohl auch, weil der Fußball in den Vereinigten Staaten keine so wichtige Rolle spielt. So kritische
bpb.de: Was sollten die Lehren aus der Katar-WM sein? Sollte das Vergabesystem reformiert werden?
Blaschke: Das Vergabesystem wurde bereits reformiert. Mittlerweile liegt die Vergabe nicht mehr beim FIFA-Exekutivkomittee, das nur aus nur 24 Mitgliedern besteht, sondern bei allen FIFA-Mitgliedern…
bpb.de: …aber die Kritik an den Turniervergaben hält ja weiter an…
Blaschke: Ja. Aber die Kritik wird fast nur hier in Deutschland laut. In Asien, Afrika und Südamerika gibt es die Forderung nach einer grundlegenden Fifa-Reform nicht. Es existiert keine Mehrheit im Verband für eine Reform.
bpb.de: Um die Pressefreiheit in Katar steht es nach Expertenansicht sehr schlecht. Im Ranking von "Reporter ohne Grenzen" kommt der Staat auf Platz 119 von 180. Spüren ausländische Journalistinnen und Journalisten die Repressionen genauso stark wie die katarischen?
Blaschke: Es sind bereits ausländische Journalisten festgesetzt worden. Auch müssen eingereiste Medienvertreter Tracking-Apps downloaden, mit denen sich ihre Standorte erfassen lassen und Einverständniserklärungen unterzeichnen. Doch es sind vor allem die Journalisten im Inland, die nicht frei berichten können. Es gibt ein Pressegesetz, das Zensur ermöglicht und ein Cyber-Law-Gesetz, das angebliche Fake News bestraft. Die Gesetze werden in der Praxis zwar kaum angewendet. Man setzt jedoch vor allem darauf, dass sich Berichterstatter aus Angst selbst zensieren. Es gibt aber einzelne Journalisten die lange in Haft sitzen.